Читать книгу Arztstrafrecht in der Praxis - Klaus Ulsenheimer - Страница 62
4. Sorgfaltspflichtverletzung durch Tun oder Unterlassen
Оглавление141
Der Fahrlässigkeitsverstoß des Arztes kann in einem „positiven“ (aktiven) Tun, z.B.:
• | Legen einer zu engen Bassini-Naht bei einer Leistenbruchoperation, |
• | Injizierung eines falschen Medikaments, |
• | Verletzung der Speiseröhre bei der Intubation durch den Anästhesisten, |
• | Zuführung von Halothan anstatt Sauerstoff bei der Narkose, |
• | Operation des rechtsseitigen anstatt des linksseitigen Leistenbruchs, |
• | Amputation des gesunden statt des krebsbefallenen Lungenflügels, |
• | Verschreibung süchtig machender Beruhigungsmittel |
oder in einem „Unterlassen“, nämlich der Nichtvornahme einer medizinisch gebotenen Maßnahme bestehen, z.B.
• | der nicht rechtzeitigen Einweisung in das Krankenhaus, |
• | der zu späten Operation bei Verdacht auf Peritonitis, |
• | der Nichtvornahme einer Röntgenübersichtsaufnahme des Abdomens, |
• | der Nichtinformation des Chefarztes trotz lebensbedrohlicher Entwicklung des Geburtsverlaufs für Mutter und Kind, |
• | der Nichteröffnung eines zu eng gelegten Gipsverbandes nach einem komplizierten Unterarmbruch, |
• | der verspäteten Entscheidung zur sectio, |
• | der Nichterhebung medizinisch zweifelsfrei gebotener Befunde, |
• | die Nichtvornahme von Maßnahmen zur Linderung von Schmerzen und Atemnot.[292] |
142
Für die praktische Fallentscheidung macht es einen erheblichen Unterschied, ob Anknüpfungspunkt der rechtlichen Prüfung ein „positives Tun“ oder „Unterlassen“ ist. Dies gilt nicht nur deshalb, weil der Gesetzgeber für das Unterlassen eine fakultative und der Praxis grundsätzlich auch abzuverlangende Strafmilderungsmöglichkeit in § 13 Abs. 2 StGB eröffnet.[293] Vielmehr müssen im Fall der Unterlassung insbesondere mit der Garantenstellung Sonderanforderungen nachgewiesen werden, die bei aktivem Tun unerheblich sind (siehe Rn. 150 ff. und Rn. 431 ff.). Die Quasikausalität lässt sich, wie schon Eb. Schmidt[294] zutreffend hervorgehoben hat, nicht mit einer oft wenig anspruchsvollen Anwendung auf die allgemeine Conditio-Formel belegen. Vielmehr kommt dem beim aktiven Tun geforderten Pflichtwidrigkeitszusammenhang eine besondere Bedeutung zu, da stets zu fragen ist, ob eine gänzlich hypothetisch gebliebene gebotene Handlung, z.B. die rechtzeitige Einweisung des Patienten in ein Krankenhaus, den Erfolg (Tod oder Körperverletzung) mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit vermieden hätte.[295] Gerade in arztstrafrechtlichen Fällen ist diese Gewissheit im Sinne eines Ausschlusses „vernünftiger Zweifel“ oft nicht zu gewinnen, da es hier um eine hypothetische Feststellung geht, bei der alle Unsicherheiten und Risiken des Geschehensablaufs, insbesondere die sich aus der weitgehenden Undurchschaubarkeit des menschlichen Organismus ergebenden Unwägbarkeiten mitberücksichtigt werden müssen. Schließlich bestehen Unterschiede zwischen Begehungs- und unechtem (unbewusst) fahrlässigen Unterlassungsdelikt auch bezüglich der Verjährung (s. Rn. 621).