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1.3. Forschungsstand

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Zu Nitschs Orgien-Mysterien-Theater wurde und wird noch vieles publiziert – entweder als wissenschaftliche, als künstlerische oder als ausstellungs- bzw. kritikorientierte Analysearbeiten; im Rahmen dieses Forschungsstands wird die Aufmerksamkeit auf einige Forschungsarbeiten fokussiert: Es handelt sich nämlich um diejenigen wissenschaftlichen Arbeiten, die das Orgien-Mysterien-Theater mit dem kultisch-rituellen Theater in der griechischen Antike oder den Opferritualen im Dionysos-Kult, dem Wiener Aktionismus und dem Konzept des Gesamtkunstwerks analytisch in Verbindung bringen.

Die Monografie Hermann Nitsch – Das Gesamtkunstwerk des Orgien Mysterien Theaters1 ist 2015 erschienen. Herausgeber Michael Karrer bezeichnet dieses 968-seitige Buch, das in enger Zusammenarbeit mit Hermann Nitsch entstanden ist, als ein Nachschlagewerk zu allen Bereichen des Orgien-Mysterien-Theaters als Gesamtkunstwerk. Dieses Buch thematisiert analytisch in klar gegliederten Kapiteln mit Textbeiträgen jeweils folgende Bereiche: Philosophie, Aktionen, Relikte, Malerei, Architektur, Musik, Inszenierungen, Frühwerk des Orgien-Mysterien-Theaters sowie das Schloss Prinzendorf. Außerdem behandelt das Buch in einem Exkurs Hermann Nitsch in Verbindung mit dem Wiener Aktionismus.

In ihrem Beitrag „Das Orgien-Mysterien-Theater von Hermann Nitsch“2 verschafft Eva Badura-Triska einen panoramaartigen Blick auf das Grundkonzept und den chronologischen Werdegang des Orgien-Mysterien-Theaters: sie dokumentiert bzw. veranschaulicht vor allem die Verbindung, die zwischen Nitschs Orgien-Mysterien-Theater als Kult des Seins und der ursprünglichen, kultischen, mythischen sowie therapeutischen Funktion der Kunst besteht, die nicht von der Lebenswelt abgehoben wurde.

Brigitte Marschall thematisiert in ihrem Beitrag „Das Orgien Mysterien Theater und die europäische Theatergeschichte“,3 wie dieses Theater in die Geschichte des europäischen Theaters eingeschrieben ist. Sie zeigt auf, wie das Orgien-Mysterien-Theater klare Rückgriffe auf die Tragödie der griechischen Antike, auf Richard Wagners Konzept des Gesamtkunstwerks, auf Friedrich Nietzsche und Antonin Artaud aufweist. Sie ist der Meinung, dass sich Nitschs Theaterkonzept in die Tradition der theatralen Ausdrucksformen einordnen lässt, die den Körper, das physische Handeln und den materiellen Prozess in den Mittelpunkt stellen und dem Theater ein auf das gesellschaftliche Kollektiv gerichtetes, meist utopisches Veränderungspotential zuschreiben.

In dem Beitrag „Baptism of Blood: Bodies Performing for the Law“4 untersucht Aspasia Stephanou die Performancekunst sowie die Blutrituale von Ron Athey und Hermann Nitsch. Dabei geht sie zunächst davon aus, dass beide Künstler aufgrund ihrer radikalen Kunstform als eine Herausforderung für die moderne Kunst und die Gesellschaft fungieren. Dann argumentiert sie, dass die Verwendung von Blut, das bei den beiden Künstlern im Zentrum steht, die Wirksamkeit besitzt, das patriarchalische System der sozialen Autoritäten anzugreifen und zu destabilisieren. Sie zeigt außerdem auf, dass derartige blutige Performancepraxen popularisiert werden, womit Blut Eingang in den Mainstream der Popkultur findet. In diesem Zusammenhang zeigt sie am Beispiel der Verwendung von Blut in einigen Auftritten der Popkünstlerin Lady Gaga auf, dass Blut seine symbolischen Bedeutungen eingebüßt hat und zu einem kommodifizierten Produkt geworden ist. Anhand ihres Vergleichs (Performancekünstler mit einer Popkünstlerin) veranschaulicht Stephano, wie Blut in unterschiedlicher Art und Weise benutzt wird, um die jeweiligen Projekte der genannten Künstler_innen zu ermöglichen: Während Atheys Performances das Blut als die Realitätsstelle des schmerzempfindenden Körpers unterstreichen und bei Nitsch Blut für das Zelebrieren von Eros und Thanatos steht, trennt Lady Gaga, indem sie künstliches Blut verwendet, das Blut vom Körper und seiner Bedeutung.5

Der von Aaron Levy herausgegebene Sammelband Blood Orgies: Hermann Nitsch in America6 ist eine Zusammenstellung von Aufsätzen mit Bezug auf ein 2008 in Philadelphias „Slought Foundation“ durchgeführtes Projekt über Nitschs Orgien-Mysterien-Theater. Dieser Sammelband, der einen Beitrag zur kritischen englischsprachigen Literatur über Hermann Nitsch darstellt, geht vom gegenkulturellen Charakter von Nitschs Orgien-Mysterien-Theater, von seiner provokativen Verwendung von Blut, Fleisch und Innereien als künstlerischem Material sowie von seiner obsessiven Verwendung der Metaphorik der Kreuzigung Christi im Rahmen eines neopaganen Opferrituals aus. Er beschäftigt sich außerdem mit den emotionalen Reflexen der Rezipient_innen und mit deren kritischer Reaktion auf Nitschs Werk: Dieter Ronte untersucht z.B. die einschränkende „sekundäre“ Funktion von Fotografie im Verhältnis zu den auf multiple Sinneswahrnehmung abzielenden Performances, denen die unmittelbare Präsenz der Teilnehmer_innen zugrunde liegt, damit die erwartete Wirksamkeit erreicht wird. Ronte ist der Meinung, dass im Vergleich zu Nitschs Orgien-Mysterien-Theater, welches sich nicht auf Dokumentationen reduzieren lässt, die Fotografie Nitschs Kunst unverzüglich abbildet und sie zugleich entstellt. Adrian Daub verfolgt die klangliche Dimension des Orgien-Mysterien-Theaters. Er analysiert die Beziehung zwischen der Performance und den musikalischen, klanglichen und stimmlichen Elementen. Jean-Michel Rabaté befasst sich analytisch mit dem Orgien-Mysterien-Theater als Gesamtkunstwerk und zeigt auf, dass die Gemälde durch den Kontakt von Stoffen mit verschüttetem Blut und anderen Flüssigkeiten entstehen. Er schlussfolgert, dass gerade diese Blutmengen und Flüssigkeiten das wahrhaft Dionysische in Nitschs Kunstfertigkeit konstituieren. Michèle Richman verfolgt den ethnografischen Faden von Nitschs Kunstpraxis in Bezug auf die umfangreichen theoretischen Diskurse im 20. Jahrhundert über Festivals, Rituale und Mythen. Indem sie Nitschs Ikonografie und mit jener von Matthias Grünewalds „Isenheimer Altar“ aus dem 16. Jahrhundert vergleicht, erkennt Susan Jarosi in beiden Kunstwerken komplementäre psychische Ausdrücke geschichtlicher Traumata.

Im Gegensatz zu Nitschs Orgien-Mysterien-Theater liegt zurzeit der Entstehung dieser Arbeit noch nicht zahlreiche wissenschaftliche Forschungsarbeiten über Schlingensiefs Aktion 18, „tötet Politik!“ vor. Abgesehen von Dokumentations- und Materialquellen, die zudem künstlerisch oder ausstellungs- bzw. kritikorientiert sind und aus Aktionstagebuch, Presseberichten bzw. Pressereportagen, Fotografien, Interviews sowie Videoausschnitten bestehen, fehlt es an einer wissenschaftlich umfangreichen Analyse dieser Aktion. Jedoch gibt es eine Reihe von Forschungen und Publikationen, die Schlingensiefs künstlerisches Schaffen unter verschiedenen Vorzeichen untersuchen und in denen sich Abschnitte zu dieser Aktion finden. Im Folgenden kann ein Beispiel angeführt werden:

Eva Behrendt bezeichnet in ihrem Aufsatz „Politische Performances zwischen Irritation und Aufklärung“ die Aktion 18, „tötet Politik!“ als einen Klassiker der politischen Performance und betont, dass diesem im Kontrast zum klassischen Theater keine dramatische Textvorlage für die theatrale Aufführung im Sinne von Schauspiel zugrunde liegt. In Analogie zum religiösen Ritual merkt sie an, dass die Handlung, die vom Darsteller – in diesem Fall Schlingensief – performiert wird, mehr Aufmerksamkeit auf sich zieht. Behrendt konzentriert ihre Argumentation auf das zehnminütige Voodoo-Ritual vor Möllemanns Firma Web/Tech. Außerdem erinnert dies an eine von Joseph Beuys in einer New Yorker Galerie abgehaltene Coyote Performance I like America, and America likes me (1974), die aber mehr als eine esoterische Kunstübung gewesen sei: Behrendt zufolge sei die Performance ein politisches Statement von Beuys gewesen, da er sich mit dem Kojoten so beschäftigt habe, dass eine Verbindung mit Amerikas Ureinwohner_innen versinnbildlicht wurde. Ähnlich habe Schlingensief, so Behrendt, Bezug auf die parteipolitische Realität der Bundesrepublik genommen, indem auch antisemitisch konnotierte Vorgänge wie die Bücherverbrennung aufgegriffen wurden. Solche fast tagesaktuelle Unmittelbarkeit und die Treffsicherheit, mit der Schlingensief anhand seiner Performances in die Schlagzeilen geraten ist, ist nach Behrendt derzeit im Bereich des deutschsprachigen Theaters unerreicht, obschon heute immer noch politisches Theater und politische Performancekunst bestehen.7

Nitsch und Schlingensief zeichnen sich durch ihre verwandten künstlerischen Störpraktiken und ihre jeweiligen tabubrechenden Theateransätze aus. Die vorliegende Arbeit unterscheidet sich von den erwähnten Studien. Das Orgien-Mysterien-Theater und die Aktion 18, „tötet Politik!“ werden dann als zwei Beispiele von Theater als Ästhetik und Bereich des kulturellen Synkretismus bzw. des postdramatischen Theatersynkretismus8 veranschaulicht, in dem verschiedene Interferenzelemente bestehen. Außerdem fungieren sie als Theateraktionen, die kulturelle Selbstveränderungen durch die Hereinnahme des Fremden katalysieren. Somit ermöglichen beide Theateraktionen einen verkehrten, transkulturellen bzw. synkretistischen Blick auf die jeweils kulturspezifischen Theater- oder Rollendarstellungsformen, die über das Eigene weit hinausgehen und stark auf das Fremde (im Eigenen) verweisen. Denn mit der Konzeptualisierung des postdramatischen Theaters als reale Erfahrung von Zeit, Raum, Körper rücken im Zeitalter der weltweiten Migrationsbewegungen die Fremdheitserfahrungen gravierend vorwärts. Dabei geht die Fremdheitserfahrung nicht nur von Fremden (z.B. Ausländer_innen, Migrant_innen) bzw. von sogenannten Flüchtlingen aus, sondern auch von dem durch Vergeistigung und Zivilisationsprozesse verdrängten Fremden im Eigenen: z.B. von den blutigen Opferritualen. Aus dieser komplexen Konstellation des Fremden, das im Eigenen verwurzelt ist, soll das Fremde nicht mehr bzw. nicht nur in den fernen Kulturen, sondern (auch) im Inneren des synkretistischen sowie unterdrückten Eigenen gesucht werden. Anders formuliert: Zeichnet sich die gegenwärtige Kulturauffassung durch vielfältige kulturelle Interferenzelemente aus und distanziert sie sich folglich von einem Containermodell der Kultur, so ist die Suche nach dem, „was als kulturell fremd gilt, nicht mehr unbedingt an einen fremden Ort gebunden“9, sondern bei sich im Eigenen auffindbar. Der transkulturelle bzw. synkretistische Ansatz in dieser Arbeit richtet das Augenmerk auf den kulturellen Synkretismus, den Nitsch und Schlingensief in ihren jeweiligen Theateraktionen über den ästhetischen Funktionsmodus des kulturellen Zelebrierens zum Vorschein bringen. An diesem Punkt geht die Arbeit über das postdramatische Theater hinaus und schlägt die Brücke zu antiken griechischen, mittelalterlichen und außereuropäischen bzw. afrikanischen Theaterformen. Konkret geht diese Arbeit von der Annahme aus, dass Nitschs Orgien-Mysterien-Theater und Schlingensiefs Aktion 18, „tötet Politik!“ als Inbegriff einer Radikalisierung gegenkultureller sowie institutionskritischer Erscheinungsformen von Kunst – wie z.B. Fluxus, Happening, Installations-, Interventions- sowie Aktionskunst – fungieren.

Das Orgien-Mysterien-Theater wird vor allem unter dem Gesichtspunkt der Institutions-, Religions- und Zivilisationskritik im Verhältnis zu gegenwärtigen soziokulturellen Begebenheiten untersucht. Dabei wird Nitschs synästhetische Dramaturgie als Kritik- und Transgressionsmittel dargestellt, um dadurch Menschen in synästhetische Wirklichkeitsbereiche seines Orgien-Mysterien-Theaters einzuführen. Es handelt sich dabei vor allem um solche synästhetische Wirklichkeitsbereiche, die in Form einer ästhetischen Ritualisierung bzw. einer selbstreferenziellen Zeremonie aus postdramatischer Sicht auf ein performatives Reflektieren über den menschlichen Körper im Theater, auf eine funktionelle ästhetisch-transformative Erfahrung, auf die Wiederherstellung fremd gewordener Erfahrungen und somit auf eine eigenartige kulturelle Praktik abzielen – in Verknüpfung mit der Opferbehandlung voraristotelischer Theaterpraxis. Nitschs theatrale Wiederherstellung voraristotelischer Theaterpraxen in den gegenwärtigen Lebensverhältnissen wird unter dem Begriff Urtheatralisierung subsumiert. Auch die Parallelen des Orgien-Mysterien-Theaters zu spätmittelalterlichen Oster- und Passionsspielen, die bis jetzt in der Nitschs Forschung unterbelichtet sind, werden in dieser Arbeit behandelt.

Die Auseinandersetzung mit Schlingensiefs Aktion 18, „tötet Politik!“ ist in der vorliegenden Arbeit eine erste umfangreiche Untersuchung dieser Aktion: sie wird zunächst in Relation zur postdramatischen Theaterästhetik und Urtheatralisierung als rituelles und politisches Ereignis gebracht, wobei der Akzent auf die sozialkritische und politische Dimension sowie auf die Einordnung in die gesellschaftskritische Theatertradition von der Aufklärung bis in die 1960er-Jahre gelegt wird. Die Produktions- und die Wirkungsästhetik der Aktion 18, „tötet Politik!“ wird auch hinsichtlich ihrer Kontextualisierung von Aktion, Raum und Zeit sowie der politischen Akteure_innen jenseits der Freizeitgattungen veranschaulicht. Schlingensiefs Fragmentierung und Entgrenzung des theatralen Schauplatzes, sein künstlerisches Schaffen von Ausnahmesituationen sowie -orten und seine störorientierten Strategien als Inszenierungsstil werden analysiert und am Beispiel seines Aufrufs „tötet Möllemann“ diskutiert. Ausgehend vom rituellen Vorgang in Aktion 18, „tötet Politik!“ wird zudem auf die postdramatische Theaterkomposition (vorkolonialer Zeit) in Afrika analytisch eingegangen und in Bezug auf sein Operndorf sowie auf die bereits erwähnten afrikanischen Theaterformen in kulturspezifischer und transkultureller Lesart behandelt.

Aus den gewonnenen Erkenntnissen wird anschließend im dritten Kapitel Theater als Kunst bzw. Ästhetik kultureller Selbstreflexion und Selbstveränderung behandelt. In diesem Zusammenhang werden die postdramatische Ästhetik bis hin zum postdramatischen Theatersynkretismus sowie die Neuperspektivierung der Werkkategorie postdramatischer Ausprägung beleuchtet.

Die zentrale These der vorliegenden Arbeit lautet: Theater ist eine kulturelle Erscheinungsform des kompromissbereiten Praxis- und Erkenntnisschauplatzes. Es ist demnach als künstlerisches und ästhetisches Medium kultureller Kompromisssuche, Selbstdarstellung, Selbstwahrnehmung sowie Selbstveränderung aufzufassen.

Gegenkulturelle Tendenzen im postdramatischen  Theater

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