Читать книгу Gegenkulturelle Tendenzen im postdramatischen Theater - Koku G. Nonoa - Страница 6
1.1. Diskussion um theoretische Konzepte und Paradigmen 1.1.1. Postdramatisches Theater und Gegenkultur als Alternative
ОглавлениеGegenkultur ist ein wiederkehrender Untersuchungsgegenstand der Kulturwissenschaften. Der hier verwendete Begriff bezieht sich auf bestimmte postdramatische Theaterschauplätze, die sich durch eine durchlässige Grenze zwischen Kunst und Nichtkunst und somit durch ein Eindringen der äußeren Wirklichkeit in die Kunstsphäre und umgekehrt auszeichnen. Diese Verschiebung von der auschließlich textzentrierten Theaterform hin zur Entgrenzung sowie Verlagerung des theatralen Schauplatzes in den real gelebten Alltag soll in dieser Arbeit mit einer Revision des Konzepts Gegenkultur konkret diskutiert werden. Ausgehend von gesellschaftlicher und sozialer Interaktion definiert der amerikanische Soziologe J. Milton Yinger Gegenkultur als aktive Infragestellung geltender Normen und Werte eines bestehenden Mainstreams durch eine Minderheit derselben Gesellschaft in einer ausgelebten Form von Nonkonformität. Vorausgesetzt wird das Ziel, die dominante Gruppe bzw. ihre Regeln zu ersetzen.1 Für den amerikanischen Sozialkritiker Theodore Roszak ist Gegenkultur eine kulturelle Erscheinungsform, die von den entscheidenden Grundsätzen einer Gesellschaft so stark abweiche, dass sie von vielen nicht als Kultur, sondern als eine barbarische Strömung empfunden werde.2 Roszak zufolge entspringt Gegenkultur einer radikalen Unzufriedenheit und einem Erneuerungswillen jener Menschen, die mit den bestehenden Werten, Regeln und Lebensweisen der dominanten Kultur in Widerstreit stehen und nach alternativen Wegen suchen.3 Diese Arbeit knüpft an das Verständnis von Gegenkultur als Alternative an.
In einer spezifischen Ausprägungsform von Theater am Beispiel von Nitschs Orgien-Mysterien-Theater und Schlingensiefs Aktion 18, „tötet Politik!“ lässt sich eine Art von Gegenkultur beobachten, die eine andere Bedeutung als lediglich die Idee des Aufbegehrens gegen die Normen und Regeln des klassischen Theaterverständnisses vermittelt. Gegenkultur ist im postdramatischen Theaterverständnis mit experimentellen Zielen und mit einer Wandlung des theatralen Ausdrucksverhaltens verbunden. In diesem Sinne sind einige postdramatische Theaterformen gegenkulturell, nicht weil sie gegen die Textzentriertheit des dramatischen bzw. klassischen Theaters gerichtet sind oder es aufzulösen beabsichtigen, sondern weil sie eben ihre ästhetischen Ausdrucksmittel erweitern. Sie schaffen innovative theatrale Gestaltungsformen, die in den meisten Fällen keinen (fertigen) Theatertext zum Ausgangspunkt einer Aufführung haben. Sie sind gegenkulturell, weil sie in ihren experimentellen und innovativen Prozessen z.B. nicht mehr dem Selbstverständnis der modernen europäischen Kultur entsprechen, die „sich überwiegend in Texten artikuliert und repräsentiert“.4 Sie entsprechen dem performative turn: Sie fokussieren auf aktions- sowie interventionsorientierte Ausdrucksdimensionen von Handlungsereignissen bis hin zur Inszenierungskultur und der praktischen Herstellung von Erfahrungen im Alltagsleben.5 So geht die performative Wende seit den 1960er-Jahren nicht nur in den einzelnen Künsten mit einem Performativierungsschub, sondern auch mit der Herausbildung einer neuen Kunstgattung einher, die zu fließenden Grenzen zwischen den verschiedenen Künsten führt und Ereignisse statt Werke schafft.6 Diesbezüglich zielt gegenkulturell – wie später mit dem Begriff Institutionskritik veranschaulicht wird – in der hier vorgeschlagenen Verwendung nicht mehr primär auf den expliziten Widerstand gegen etwas ab, weil das textzentrierte Theater immerhin bestehen bleibt. So soll bei Gegenkultur über die a priori vorliegende gedankliche Verknüpfung mit Kontra, wider, Widerstand gegen hinaus auch Wert auf (je nach Kontext) die Idee oder das Potential von alternativ, innovativ, experimentell, tabubrechend, gesellschafts- und ideologiekritisch, institutionskritisch und/oder nebeneinander gelegt werden.