Читать книгу Gegenkulturelle Tendenzen im postdramatischen Theater - Koku G. Nonoa - Страница 14
1.5.2. Institution Kunst: vom Kult- zum Ausstellungswert kulturellen Zelebrierens
ОглавлениеEtymologisch führen Kunst und Kultur nicht nur auf die gemeinsame lateinische Wurzel cultura zurück. Kultur- bzw. kunstgeschichtlich gesehen, bedingen sie beide einander1 und verweisen zudem ständig aufeinander. Wird – abgesehen vom modernen Kunstverständnis – an den Ursprung von Kunst und Theater gedacht, so wird verständlich, wieso sich Menschen der frühen Antike beinahe gedrängt fühlten, ihre Welterfahrung in künstlerische Ausdrucksformen zu verwandeln. Der schöpferische Drang zum Kunstschaffen fand seinen Nährboden in magischen, rituellen oder religiösen Umständen – wie z.B. in voraristotelischen theatralen Kulturpraktiken, in deren Mittelpunkt rituelle Opferhandlungen sowie das reziproke Verhältnis zwischen Leben und Tod standen. Die Praxis voraristotelischer theatraler Rollendarstellungen zeichnete sich vor allem durch den Kultwert ihres kulturellen Zelebrierens aus.
In „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“ hat Walter Benjamin 1936 den Begriff Kultwert geprägt, um die Einbettung von einem Kunstwerk in das Ritual zu bezeichnen. Benjamin geht von der These aus, dass die Rezeption von Kunst durch Fotografie und Film aufgrund der technischen Reproduzierbarkeit in Massen einem Wandel unterzogen sind. Dieser Wandel ist zugleich mit der Veränderung der gesellschaftlichen Funktion der Kunst einhergegangen. Es ist nicht nur um eine Veränderung sowie um eine Akzentverschiebung der funktionellen Rolle der Kunst im gesamten Kulturgefüge gegangen, sondern auch um die Vergeistigung und Verdrängung blutiger Ritualvorgänge.
Die ursprüngliche Rolle der Kunst lässt sich aber durch ihren untrennbaren Zusammenhang mit dem Ritual erschließen: „Die ursprünglichste Art der Einbettung des Kunstwerks in den Traditionszusammenhang fand ihren Ausdruck im Kult. Die ältesten Kunstwerke sind, wie wir wissen, im Dienst eines Rituals entstanden, zuerst eines magischen, dann eines religiösen.“2 Diese Ritualfunktion verleiht der Kunst bzw. dem Kunstwerk ein besonderes Qualitätsmerkmal, das Benjamin als Aura bezeichnet. Die Aura ist die „Einzigkeit des Kunstwerks“ und bürgt für die Tatsache, dass seine Daseinsweise „identisch mit seinem Eingebettetsein in den Zusammenhang der Tradition“ ist und „niemals durchaus von seiner Ritualfunktion“3 getrennt werden kann. Für Benjamin ist die Aura „ein sonderbares Gespinst aus Raum und Zeit: einmalige Erscheinung einer Ferne, so nah sie sein mag.“4 Der Kultwert und das Auratische sichern „das Hier und Jetzt des Originals“,5 das den einzigartigen „Wert des ‚echten‘ Kunstwerks […] immer theologisch fundiert.“6 Diese Merkmale, die im Sinne Benjamins den Kultwert eines Kunstwerkes ausmachen, lassen sich auch auf ästhetische performative Theaterereignisse am Beispiel des Orgien-Mysterien-Theaters übertragen, welches das Dasein als Ganzes über die kultische bzw. mystische Dimension von Kunst rechtfertigen soll. Der Kultwert setzt somit etwas Spirituelles bzw. Transzendentales voraus, das wiederum auf die philosophische Daseinsfrage des Menschen in der Lebenswelt zurückführt. Es geht bei kultischen performativen Vorgängen um eine spirituelle und seelische Transformation des Menschen, die unter anderem über eine ästhetische Erfahrung zu erlangen ist. Diesbezüglich liefert Friedrich Nietzsche in seiner Geburt der Tragödie aus dem Geist der Musik einige Auslegungen, welche die funktionelle Leistung der Tragödie und der tragischen Erfahrung mit rituellen Zügen veranschaulichen:
Der Grieche kannte und empfand die Schrecken und Entsetzlichkeiten des Daseins: Um überhaupt leben zu können, musste er vor sich hin die glänzende Traumgeburt des Olympischen stellen […]. Um leben zu können, mussten die Griechen diese Götter aus tiefster Notwendigkeit schaffen […]. Wie anderes hätte jenes so reizbar empfindende, so ungestüm begehrende, zum Leiden so einzig befähigte Volk das Dasein ertragen können, wenn ihm nicht dasselbe von einer höheren Glorie umflossen, in seinen Göttern gezeigt worden wäre.7
Der Aufführungscharakter der Tragödie ermöglicht dem Menschen die Empfindung von Schrecken und Entsetzlichkeiten, die ihn wiederum befähigen, die Probleme des Daseins ästhetisch zu bewältigen. Nietzsche legt den Akzent auf den Kultwert, der über Opferrituale, Übermaß, Rausch, Erlebnis der Ekstase und über die Überwindung des „principium individuationis“ (des Apollinischen, auf dem auch die Entwicklungsbasis des aristotelischen Theaters ruhen soll) entsteht.
Benjamin bemängelt den Verlust dieses Kultwertes bzw. der auratischen Daseinsweise am Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. Der Ausstellungswert ist eine ästhetische Kategorie, die eine Konzeptualisierung von Kunst als abgehoben von ihrer rituellen Fundierung sowie von der Lebenspraxis definiert und durchführt. Das ist für Benjamin mit dem Verfall der Aura verbunden; er hat den Begriff Ausstellungswert geprägt, um den Funktionswandel der Kunstproduktion zu beschreiben. Dieser Funktionswandel geht mit der Reaktion der Kunst auf das „Aufkommen des ersten wahrhaft revolutionären Reproduktionsmittels – der Photographie (gleichzeitig mit dem Anbruch des Sozialismus) –“ einher. Eben auf diese Situation antwortet die Kunst „mit der Lehre von l’art pour l’art“, aus der die „Idee einer reinen Kunst“ hervorgegangen ist, „die nicht nur jede soziale Funktion, sondern auch jede Bestimmung durch einen gegenständlichen Vorwurf ablehnt.“8 Diese Erkenntnis führt somit zu einer entscheidenden Konzeptualisierung und Betrachtungsweise, die „zum ersten Mal in der Weltgeschichte“ die Emanzipation des Kunstwerks „von seinem parasitären Dasein am Ritual“9 bewirkt haben soll. Bekräftigend spricht Benjamin auch von der Umwälzung der sozialen Funktion der Kunst, sodass „an die Stelle ihrer Fundierung aufs Ritual […] ihre Fundierung auf eine andere Praxis getreten“ ist: „nämlich ihre Fundierung auf Politik.“10 Für Benjamin besteht deshalb die Möglichkeit, die Kunstgeschichte als Auseinandersetzung zweier Polaritäten im Kunstwerk selbst darzustellen und die Geschichte ihres Verlaufes in den wechselnden Verschiebungen des Schwergewichts vom einen Pol des Kunstwerks zum anderen zu erblicken. Diese beiden Pole sind sein Kultwert und sein Ausstellungswert.11
Während der Kultwert das Kunstwerk hauptsächlich im Verborgenen hält, womit es ausschließlich bestimmten Personen (z.B. Priestern etc.) zugänglich ist, ermöglicht nun der Ausstellungswert dank der technischen Reproduzierbarkeit die massenhafte Reproduktion, Ausstellung und Rezeption von Kunstwerken.12 Damit wird die Betrachtung eines Kunstwerks allen zugänglich, die aus rein subjektiver Zweckmäßigkeit im Sinne von Immanuel Kant an Kunst teilhaben.
Lange vor Benjamin hat Immanuel Kant in seiner Kritik der Urteilskraft das ästhetische Urteil ausschließlich auf das wahrnehmende Subjekt fokussiert. Demnach ist das ästhetische Urteil stark subjektabhängig und findet ausschließlich in der subjektiven Einbildungskraft statt. In diesem Sinn ist das Subjekt als eine autonome Instanz zu verstehen, die aufgrund eigener Kriterien einen subjektiven und autonomen Blick auf ein Kunstwerk wirft. Dabei spielt die eigentliche Funktion des Kunstwerks keine Rolle, da es aus rein formalen bzw. ästhetischen Gründen dem autonomen Subjekt als Projektionsfläche für sein subjektives und „subjektzentriertes“ Geschmacksurteil dient. Der Ausstellungswert eines Kunstwerks gewinnt in diesem Zusammenhang immer mehr an Bedeutung – jedoch nicht aufgrund der sozialen und rituellen Funktion des Kunstwerks, sondern wegen der ansteigenden Anzahl an autonomen Betrachter_innen (Subjekten) der Kunstwerke. Da bei Kant das autonome Subjekt und sein Geschmacksurteil zentral sind, verschwindet die gesellschaftliche Funktion des Kunstwerks als Objekt zugunsten des reinen ästhetischen Urteils bzw. der reflektierenden Urteilskraft:
Dasjenige Subjective aber an einer Vorstellung, was gar kein Erkenntnisstück werden kann, ist die mit ihr verbundene Lust oder Unlust; denn durch sie erkenne ich nichts an dem Gegenstande der Vorstellung, obgleich sie wohl die Wirkung irgend einer Erkenntnis sein kann. Nun ist die Zweckmäßigkeit eines Dinges, sofern sie in der Wahrnehmung vorgestellt wird, auch keine Beschaffenheit des Objects selbst (denn eine solche kann nicht wahrgenommen werden), ob sie gleich aus einem Erkenntnisse der Dinge gefolgert werden kann.13
Damit wird deutlich, dass die Ästhetik bei Kant das Schöne nicht in den Kunstwerken findet, sondern in den betrachtenden Subjekten. Da es dem Subjekt im Sinne Kants bei der Betrachtung eines Kunstwerks a priori nicht um Erkenntnis geht, ist sein ästhetisches Urteil oder Geschmacksurteil ohne Interesse. Folglich geht die ästhetische Urteilskraft verloren, wenn sie nicht mehr auf das autonome Subjekt, sondern mit Interesse auf ein Objekt gerichtet ist. Erst wenn das autonome Subjekt aus subjektiver Perspektive das Kunstwerk in einer Art von freiem Spiel betrachtet, kann sich das Geschmacksurteil entfalten.
Mit Kants Bestimmung der ästhetischen Urteilskraft werden die gesellschaftlichen Implikationen von Kunstwerken ausgeblendet: Es geht dem Philosophen nicht primär um Objekte oder Kunstwerke, sondern um die Einbildungskraft des autonomen und reflektierenden Subjekts ohne objektivierbares Interesse. Dennoch haben diese ästhetischen Bestimmungen stark dazu beigetragen, die Autonomie von Kunst und den Ausstellungswert von Kunstwerken herauszubilden. Die autonome ästhetische Urteilskraft, die Autonomie von Kunst und der Ausstellungswert von Kunstwerken bilden somit die Grundlage, um Kunst vom Ritual und von der Lebenspraxis zu trennen. Peter Bürger stellt diesbezüglich fest:
[…] Autonome Kunst etabliert sich erst in dem Masse, als, mit der Entstehung der bürgerlichen Gesellschaft, das ökonomische und das politische System vom kulturellen abgekoppelt werden und die traditionalistischen, durch die Basisideologie des gerechten Tausches unterwanderten Weltbilder die Künste aus dem rituellen Gebrauchszusammenhang entlassen […]. Es ist darauf zu insistieren, dass Autonomie hier den Funktionsmodus des gesellschaftlichen Teilsystems Kunst bezeichnet: dessen (relative) Selbständigkeit gegenüber gesellschaftlichen Verwendungsansprüchen.14
Damit gewinnt außerdem das kulturelle Zelebrieren einen neuen Funktionsmodus, der die Kunst in der modernen bürgerlichen Gesellschaft als eine von der Lebenspraxis abgehobene Tätigkeit umsetzt.15 Die Institution des klassischen Theaters ist beispielsweise das Produkt eines solchen von der Lebenspraxis abgehobenen Kunst- bzw. Theaterverständnisses.