Читать книгу Gegenkulturelle Tendenzen im postdramatischen Theater - Koku G. Nonoa - Страница 8
1.1.3. Postdramatisches Theater oder Postdramatik?
ОглавлениеNachdem veranschaulicht worden ist, dass Formen des dramatischen und postdramatischen Theaters unter sich stetig weiterentwickelnden Ausdrucksformen nebeneinander fortbestehen, möchte die folgende Argumentation auf ein anderes Missverständnis eingehen, das zwischen postdramatischem Theater und Postdramatik besteht. Eingangs ist anzumerken, dass der Begriff Postdramatik nicht direkt auf Lehmann zurückzuführen ist. Jedoch verwendet Lehmann das Adjektiv postdramatisch und fallweise das Substantiv „das Postdramatische“ im Zeitalter der Medienkultur zur Beschreibung der vielfältigen künstlerischen sowie ästhetischen Mittel in der gegenwärtigen Theaterlandschaft, in der das Dramatische nicht mehr als zentrale Norm und führendes Paradigma theatralen Schaffens gilt: Unter postdramatisches Theater fallen für Lehmann nomadische Produktionsstrukturen, Networks, neue Formen flüchtiger Gemeinschaften und gemeinsamer Kreation, intermediale Aktivitäten, welche die elektronische Kommunikation ästhetisch und pragmatisch nutzen, Projekte zwischen Ausstellung, Installation und Performance, Aktions- und Projektformen im urbanen Raum, dokumentarisch interessiertes Theater mit Laien, Verschaltungen von politischen und ästhetischen, künstlerischen und didaktischen Prozessen (lecture performance) in und mit unterschiedlichen Institutionen. All diese Formen scheinen Indizien für eine Verschiebung im traditionellen Verständnis der performativen Künste zu sein.1
In seinem Artikel „Nach der Postdramatik“ (2008) und Buch Kritik des Theaters (2013) kritisiert der Dramaturg und Professor für Schauspielgeschichte Bernd Stegemann mit Rückgriff auf Lehmanns Buch Postdramatisches Theater die Spielformen im Gegenwartstheater, das großteils von Formen postdramatischen Theaters dominiert zu sein scheint. Bereits im Jahr 2008 verwendet Stegemann in seinem in der Theaterzeitschrift Theater heute veröffentlichten Artikel „Nach der Postdramatik“ den Begriff Posdramatik u.a. mit folgenden kritischen Auslegungen:
Vor knapp zehn Jahren erschien das „Postdramatische Theater“ von Hans-Thies Lehmann und wurde in kurzer Zeit zum Standardwerk. […] Der Reiz des Titels, der zum Schlagwort einer ästhetischen Position geworden ist, ist offensichtlich. Das Buch verspricht ein neues ästhetisches Paradigma und liefert gleich eine ganze Anzahl neuer Beschreibungsvokabeln. Zugleich verspricht es die lang ersehnte Befreiung des Theaters aus der Vorherrschaft des Dramas. Was heute mit Postdramatik gemeint ist, glaubt jeder Zuschauer oder Theatermacher zu wissen. Für die einen ist es das ästhetische Experiment, ohne nachvollziehbare Geschichte einen Theaterabend erfinden und inszenieren zu können. Für den anderen ist es die Aufforderung zur Mitarbeit am theatralischen Geschehen: Erzähl´ Dir Deine eigene Geschichte, wenn Du denn unbedingt eine brauchst! Und für den dritten, den Theaterwissenschaftler, ist es die Erfüllung eines Traums vom Theater, das sich endlich mit dem Vokabular der eigenen Profession beschreiben lässt. Doch was meint „postdramatisch“ und welche theatralischen Ereignisse lassen sich damit beschreiben?2
Fünf Jahre später bemängelt er in seinem Buch Kritik des Theaters – indem er neben der Bezeichnung „postdramatisches Theater“ immer noch den Begriff Postdramatik gebraucht –, dass Performance, Präsenz und Selbstreferenz die Tradition von Mimesis, Schauspiel und Bedeutung ersetzt haben. Alle Ereignisse seien selbstreferenziell und würden eine Authentizität beanspruchen; außerdem bezeichne – ihm zufolge – der Begriff Postdramatik von seiner Bedeutung her zuerst eine Theaterform nach dem Drama.3
Angeregt durch die 2013 an der Universität Wien gegründete Forschungsplattform „Elfriede Jelinek: Texte – Kontexte – Rezeption“ wurde aber im Zeitraum von Oktober 2013 bis März 2014 die Postdramatik, unter deren Gesichtspunkt mittlerweile zunehmend Theatertexte von Elfriede Jelinek analysiert werden, kritisch hinterfragt. In dieser Zeit konnten die Pro- und Antagonisten (ausschließlich aus Europa) des postdramatischen Theaters und der Postdramatik über die Problematik und die Implikationen der jeweiligen Begrifflichkeiten in unterschiedlichen interdisziplinären Arbeitsgruppen mit verschiedenen Themenschwerpunkten zunächst per E-Mail sowie anhand von Videokonferenzen miteinander kommunizieren. Mitglieder der verschiedenen Arbeitsgruppen und Themenschwerpunkte trafen dann vom 14. bis 18. Mai 2014 im Rahmen des Symposiums „Sinn egal. Körper zwecklos“. Postdramatik – Reflexion & Revision in der Kunsthalle Wien im Museumsquartier zusammen.4 Als Ergebnisse dieser Auseinandersetzungen kam überwiegend zum Vorschein, dass Postdramatik5 ein problematischer Begriff ist, weil der Begriff – abgesehen davon, dass er nicht dasselbe bezeichnet, was Lehmann unter postdramatischem Theater subsumiert hat – etwas besonders Problematisches konnotiert: An der Postdramatik findet selbst Lehmann die gedankliche Querverbindung störend, dass es einst Dramatik gegeben habe und dass danach etwas anderes gekommen sei, das nichts mehr damit zu tun habe. „Ich habe den Begriff postdramatisches Theater aber gerade gewählt“, so Lehmann, „um zu zeigen, dass es eine Situation vor dem Hintergrund und Echoraum der dramatischen Tradition gibt. Ich betone das deshalb, um den Verdacht der Text- und Dramafeindlichkeit zurückzuweisen.“6 Obgleich Carl Hegemann kein Befürworter des postdramatischen Theaters ist, findet er den Begriff Postdramatik ebenfalls problematisch, da dieser seiner Meinung nach „etwas völlig anderes als ‚postdramatisches‘ Theater“7 bezeichnet. Für Patrick Primavesi stiftet Postdramatik Verwirrungen.8 Außerdem tauchen bei diesem Begriff im Sinne von Alexandra Millner drei Hauptprobleme auf: 1) Während Lehmanns Begriff des Postdramatischen eine Kategorie zur Beschreibung der Vielfalt zeige, erscheine Postdramatik nicht als deskriptiv, sondern als normativ. Dadurch werde gefragt, ob die Aufführung postdramatisch sei, anstatt zu fragen, ob sie postdramatische Züge aufweise. Millner zufolge erfasst eine solche Kategorisierung ein bestimmtes Phänomen in seiner Reinkultur, während aber das, was beschrieben werden solle, nur in Hybridform existiere. 2) Millner findet das Verstehen des Präfixes „Post“ in Postdramatik als eine chronologische Abfolge aus den gleichen Gründen problematisch, die bereits Lehmann angesprochen hat. 3) Dem Begriff Postdramatik hafte ein Paradox an, weil seine Aspekte anhand der Theaterstücke von Elfriede Jelinek entwickelt worden seien und nun auf ihre neueren Stücke mit der Frage projiziert werden, ob diese denn postdramatisch genannt werden könnten. Dieses Verfahren sei nach Millner nicht nur hermetisch-selbstreferenziell, sondern bilde zugleich einen unproduktiven Teufelskreis, weil dadurch die Individualität und „Idiosynkrasie“ – als wortwörtlich je eigenständige bzw. eigenartige Zusammensetzung oder Mischung – jedes einzelnen Kunstwerks missachtet werde.9
Das Interesse der vorliegenden Arbeit gilt demnach dem Begriff postdramatisches Theater als eine Beschreibungskategorie vielfältiger Erscheinungsformen des Theaters mit transkulturellen und synkretischen Zügen, die in einer Zeit ästhetisch-koexistierender Elemente und Formen aus verschiedenen zeiträumlichen Kulturen der Welt Interferenzfiguren hervorbringen.