Читать книгу Gegenkulturelle Tendenzen im postdramatischen Theater - Koku G. Nonoa - Страница 9
1.2. Forschungsgegenstand
ОглавлениеIm Zentrum dieser Arbeit stehen Hermann Nitschs Orgien-Mysterien-Theater und Christoph Schlingensiefs Aktion 18, „tötet Politik!“. Beide Theaterformen weisen rituelle, kunstreligiöse, synkretistische, performative, politische und künstlerisch grenzüberschreitende Vorgehensweisen auf. Bevor im zweiten Teil dieser Arbeit darauf detaillierter eingegangen wird, erfolgt eine Kurzzusammenfassung des gesamten Forschungsgegenstands.
In Hermann Nitschs Orgien-Mysterien-Theater geht es um die Begegnung von antiken griechischen bzw. dionysischen Kultpraxen und katholisch-christlichem Ritual. Das angestrebte Ziel ist eine psychologische und spirituell-seelische Transformation, die über Abreaktion und Katharsis hinausgeht. Auch Christoph Schlingensief geht es in seiner Aktion 18, „tötet Politik!“ um eine Transformation bzw. um eine Reinigung der sozialen und politischen Begebenheiten mit Rückgriff auf afrikanische Voodoo-Rituale. Diesbezüglich macht er sich z.B. auf eine symbolische Deutschlandtour durch das Rheinland und das Ruhrgebiet. Währenddessen operiert er im Grenzbereich ästhetischer und realpolitischer Wirklichkeit: Dadurch kann er in der Rolle eines Voodoo-Priesters auftreten und die politische Lage in Bezug auf die politischen Tätigkeiten des damaligen FDP-Landesvorsitzenden Jürgen W. Möllemann enthüllen – mit Beteiligung unterschiedlicher Menschen unter anderem aus den Medien, der Staatsanwaltschaft und der Polizei. Wie in einem authentischen rituellen Prozess fungiert diese Aktion als eine liminale Phase, in deren Folge eine ästhetische „Neugeburt“ der Politik stattfinden soll. Somit weisen beide – das Orgien-Mysterien-Theater und die Aktion 18, „tötet Politik!“ – sozial-, institutions- und zivilisationskritische Merkmale auf, indem sie besondere ästhetische Störstrategien einsetzen, um die Zuschauer_innen im Brechtschen Sinne zu aktivieren und als Mitwirkende in die Inszenierung mit einzubeziehen.
Darüber hinaus liefern das strukturelle und das funktionelle Ritualmotiv praktische Beispiele für einen kulturellen Synkretismus im postdramatischen Theater, der antike griechische und außereuropäische bzw. afrikanische Kulturelemente einschließt. So lässt sich in dieser Studie zu analysierenden Theaterformen Folgendes beobachten: Sie operieren im Zwischenbereich von Ritual-(Theater-)Kunst-Realität. Insofern geht diese Studie über das postdramatische Theater hinaus, um aufzuzeigen, wie bei Nitsch und Schlingensief Theater als Kunst und Bereich des kulturellen Synkretismus fungiert, wo Elemente unterschiedlicher kultureller Epochen und Räume ineinander greifen bzw. interferieren. Die in dieser Arbeit infrage kommenden Interferenzelemente beziehen sich folglich auf antike griechische, mittelalterliche, außereuropäische bzw. afrikanische Theaterformen sowie auf solche Theaterpraxen, die explizite und/oder implizite Ähnlichkeiten mit Nitschs und Schlingensiefs Theateransätzen aufweisen: beispielsweise Antonin Artauds Theaterkonzept, mittelalterliche geistliche Spiele, Opferrituale und Dionysos-Kult in der griechischen Antike, Kote-tlon der Bamana im alten Mali und Alarinjo der Yoruba in Nigeria.
Einer der Vorläufer der postdramatischen Theaterästhetik mit rituellen Bezügen ist Antonin Artaud. David Willes bemerkt: „Artaud expressed more passionately and forcefully than anyone else in the twentieth century the idea that psychological theatre is physically inert and spiritually sterile.“1 Das Interesse dieser Arbeit liegt an Artauds Theaterkonzept in Bezug auf die Verwendung der Sprache als Beschwörungsformel, um mit Lautmalerei, Assonanzen und Dissonanzen auf die Emotionen und das Unbewusste der Zuschauer_innen einzuwirken. Nach Artaud soll die Sensibilität gesteigert, betäubt, bestrickt und abgeschaltet werden, um Schockwirkung zu erreichen. Die Entdeckung von Theaterformen anderer Kulturen bzw. des balinesischen Theaters – im Jahr 1931 während der kolonialen Ausstellung in Paris – hat Artaud in seiner Theaterreformidee der Loslösung vom dramatischen Text bekräftigt: Artauds Konzept markiert den nicht zu übersehenden Entwicklungsschnitt im Theater, das sich vom eurozentrischen bzw. textzentrierten Maßstab emanzipiert. Die Aufmerksamkeit wird damit zunehmend auf körperzentrierte und rituelle Rollendarstellungen gerichtet. Mit dem performative turn lässt sich das internationale Theaterverständnis aus postdramatischer und transkultureller Betrachtungsweise auf einen gemeinsamen kulturellen Nenner bringen: auf die körperzentrierte Aufführung. Die aufgelöste (ehemals klare) Trennung in Handelnde und Zuschauende ist ein anderer gewichtiger Aspekt des Verhältnisses zwischen dem Theater und allen anderen Lebensbereichen im postdramatischen Kontext. In vielen Formen internationalen Theaters im erweiterten Sinn2 kommt dies klar zum Ausdruck – bei performativen Akten, bei körperlichen Handlungen oder bei der Leibzentriertheit der kulturellen Rollendarstellungen, wie etwa die Opferrituale und der Dionysos-Kult in der griechischen Antike (etwa 500 bzw. 300 vor Chr.) zeigen.
Die Opferrituale und der Dionysos-Kult haben eine sehr wichtige Rolle für die Entwicklung des europäischen Theaters gespielt. Heute sind Begriffe wie Theater oder Performance mit anderen Bedeutungen beladen, als dies der Fall in der griechischen Antike war. Blut, Tod und Opferrituale sind der Bindestrich zwischen antiker Traditions- und Kulturtätigkeit von Theater – vor allem im Rahmen des Dionysos-Kults, wo körperzentrierte Rollendarstellungen entscheidend sind. In der griechischen Antike „rühren die Opferriten an die Grundlagen der menschlichen Existenz“3 im Rahmen theatral-performativer Rollendarstellung – ohne eine Textvorlage im Sinne des klassischen Theaterverständnisses. Das Interesse hierfür liegt in der zeiträumlichen Kontextualisierung, in der Gestaltungsform, den Kommunikationsmitteln sowie den ästhetischen Strategien dieser theatralen Rollendarstellungen, die außerdem auf afrikanische bzw. vorkoloniale Theaterformen explizit hindeuten: z.B. Kote-tlon der Bamana im alten Mali4 und Alarinjo der Yoruba in Nigeria.5
Das Kote-tlon war eine Theaterform aus dem 14./15. Jahrhundert im Königreich des Bamana-Stammes im alten Mali. Eine der Besonderheiten des Kote-tlon-Theaters besteht darin, dass die theatralen Performances und die anderen soziokulturellen sowie ökonomischen Tätigkeiten in einem engen Wechselwirkungsverhältnis zueinander stehen. Das Kote-tlon-Theater ist eine vorkoloniale Theaterform, die eine kontrollierende sowie kritische Struktur aufweist und einen soziokulturellen ebenso wie einen politischen Wandel katalysierte. Die Performer_innen dieser Theaterform beanspruchten wie Christoph Schlingensief ein künstlerisches Recht auf Kritik und spielten eine nonkonformistische sowie sozialkritische Rolle in der Gesellschaft. In diesem Sinn behauptet David Kerr: „it is not very surprising to find a sceptical attitude and implicit resistance among performers of Kote-tlon.“6 Diese Theaterform wird in Relation zu Christoph Schlingensiefs Aktion 18, „tötet Politik!“ gesetzt. Da Schlingensief ein Voodoo-Ritual in seiner Aktion vollzieht, wird ein zweites Beispiel einer Theaterform aus dem vorkolonialen afrikanischen Kontext zum Vergleich eingeführt: Es geht um Alarinjo der Yoruba in Nigeria.
Alarinjo war eine spezialisierte und professionelle Theaterform, die ihre Ursprünge im Voodoo-Kult Egungun hatte. Es war zudem eine satirische Maskerade, die sich stets unterschiedlichen sozialen und politischen Kontexten anpasste. Manchmal gerieten die Satiren zur scharfen Kritik gegen die feudalen Führer.
Da Theater im weitesten Sinn des Begriffes ein Kulturphänomen ist, das wiederum je nach den zeiträumlichen Bedingungen auf unterschiedlichen kulturellen Symbolen beruht, wird Aby Warburgs Pathosformel in diese Arbeit eingeführt. Unter diesem Gesichtspunkt werden Ähnlichkeiten zwischen Theaterformen aus verschiedenen Zeiten und Kulturkreisen veranschaulicht: „bei Pathosformeln, so Warburg, handelt es sich um kulturelle ‚Engramme‘ oder ‚Dynamogramme‘, die ‚mnemische Energie‘ speichern und unter veränderten historischen Umständen oder an weit entfernten Orten wieder zu entladen vermögen.“7