Читать книгу Gegenkulturelle Tendenzen im postdramatischen Theater - Koku G. Nonoa - Страница 11
1.4. Theater: ein Medium des kompromissbereiten Praxis- und Erkenntnisschauplatzes
ОглавлениеAufgrund der in dieser Analyse zu behandelnden Theaterformen bzw. -entwürfe, die sich sowohl auf entfernte als auch aktuelle zeiträumliche Kulturen beziehen, lässt sich Theater als Kunst und Ästhetik kultureller Selbstdarstellung, Selbstwahrnehmung und Selbstveränderung auffassen. Wie im zweiten Kapitel gezeigt wird, entspringen alle Theaterformen ihren jeweiligen zeiträumlichen, kulturspezifischen, sozialen und politischen Kontexten.1 Aus der Perspektive von cultural performance und kulturellem Zelebrieren ist Theater im Allgemeinen ein szenisch-dynamischer Schauplatz sowie ein ästhetisches und künstlerisches Medium kompromissbereiter, performativer Aushandelns- und Erkenntnispraxis. In einer Theatersituation geht es auch darum, die herrschenden Gesellschaftsordnungen auf die Probe zu stellen, um dadurch neue Keime individueller, kollektiver sowie soziokultureller Transformationen treiben zu lassen. Viele postdramatische Theaterformen – z.B. Nitschs Orgien-Mysterien-Theater und Schlingensiefs Aktion 18, „tötet Politik!“ – machen aber auf eine übertriebene Art und Weise Gebrauch von der Wirkungsästhetik der Theatersituation. Derartige postdramatische Verfahren lassen sich anhand des Begriffs Anagnorisis im Verhältnis zur Tragödie besser beschreiben:
Die Tragödie wirkt wie ein Pharmakon, ein Gift, das heftiges Affekt-Fieber auslöst, aber, gemäß dem Doppelsinn des griechischen Begriffs, dadurch zugleich auch Medizin, Heilmittel ist. In den Dienst der Beschreibung dieser Affektwirkung tritt nun auch das Konzept der Anagnorisis. Scheint es sich zunächst nur auf die Dramaturgie zu beziehen und einen Erkenntnisprozess anzuziehen, so kann doch jeder aus der eigenen Theatererinnerung bestätigen, dass Aristoteles präzise erfaßt hat, dass in der Tat die Momente solchen (Wieder-)Erkennens zu den affektiv stärksten Augenblicken einer Theateraufführung gehören – in ungleich höherem Maße als bei der Lektüre. Denn hier spielt das Miterleben, die Raumzeit des Theaters entscheidend mit, meine „Zeugenschaft“, die mich im Theater in der identifizierenden Übernahme der Erkenntnis mit dem Helden verbindet. „Ja, Du bist es, Orest! Gott, ich bin es, Ödipus, der den König tötet!“. Anagnorisis bedeutet: ein plötzlicher Umschlag, eine Umwendung, die wie ein radikaler Beleuchtungswechsel funktioniert […]. Anagnorisis meint nämlich nicht ein für allemal dauerhaft erworbenes Wissen. Vielmehr weist das Wort auf einen Moment hin, auf eine Art affektgeladener Erleuchtung, die blitzartig geschieht […].2
Die Anagnorisis als der in der Tragödie enthaltene Ausdruck von Wiedererkennen und Wissen ist bereits seit der Antike der Konnex zwischen „Theater und Belehrung, Theater und Wissen, Theater und Erkenntnis […].“3 Es geht hierzu um eine prozessuale Fokussierung auf die Performativität und die Potentialität4 der Theaterpraxis: Dabei werden einzelne theatrale Verfahren, wie Heeg betont, im Wechselspiel von „aisthetischer Erfahrung und Konstruktion“ derart exponiert, „dass das Exponierte zwischen den Sphären von Kunst und Wissenschaft oszilliert“,5 womit das Wesen von Theater als künstlerisches und ästhetisches Medium der „Unterbrechung“ und der „Überschreitung“6 im Hinblick auf das Experimentieren anderer Erfahrungswege zur Erkenntnisgewinnung in den Vordergrund rückt. So gesehen fungiert und funktioniert Theater im Allgemeinen als ein ästhetisches Medium nach dem Vorbild eines kulturellen Kompromisses, der es ermöglicht, Spielregeln auszuhandeln, anhand derer Wahrnehmungsverhältnisse reflektiert, historische sowie aktuelle Fragen und soziokulturelle, ökonomische sowie politische Dimensionen der Theaterpraxis hinterfragt und vorangetrieben, Formen sowie Erfahrungen kultureller Begegnungen und Konflikte jeweils experimentiert und (auf-)gelöst werden können. Theater demnach nicht nur als eine künstlerische Ausdrucksform, sondern auch als einen kompromissbereiten Praxis- und Reflexionsschauplatz von Kultur aufzufassen, bezieht sich auf ein Theaterverständnis, welches sich im Mittelpunkt eines dynamischen Prozesses befindet: Theater – im Sinne einer künstlerischen Praxisform von Kultur – als Konsens oder als ein Aushandeln zu verstehen, verweist auf ein Verständnis, das sich mit Kultur als einem „offenen und instabilen Prozess des Aushandelns von Bedeutungen“7 für (produktive) Veränderungen auseinandersetzt. In seinem Beitrag „Zur Reformulierung eines sozialanthropologischen Grundbegriffs“ zeigt Andreas Wimmer drei Aspekte eines Aushandelns oder einer Kompromissbildung auf: Der erste Aspekt bezieht sich auf die verinnerlichte Kultur.8 Wimmer greift hier zurück auf Bourdieus Habitus als ein verinnerlichtes Dispositionssystem, das den sozialen, ökonomischen, politischen und kulturellen Ordnungen entspricht und sich auf Dauer aus einem Repertoire von Handlungs-, Wahrnehmungs- und Interpretationsmustern sowie -zielen habitualisiert.9 Dann bringt Wimmer diesen Habitus in Verbindung mit der Schematheorie der kognitiven Ethnologie:
Schemata sind Modelle von prototypisch vereinfachten Welten, als Netzwerke miteinander verknüpfter Bedeutungen organisiert. Sie werden im Denk-, Wahrnehmungs- und Handlungsprozess selektiv aktiviert. Als verinnerlichte Form von Kultur kommen sie dem nahe, was die Annales-Schule als Mentalität bezeichnet.10
Mit diesen „Handlungs- und Denkschemata“ modifiziert Wimmer den von den einzelnen Individuen internalisierten Bourdieuschen Habitus. Nach Wimmer wirken diese Schemata nicht auf das Individuum als „gesellschaftliche Zumutungen“ von außen ein. Jedoch verfügen die jeweiligen Individuen – je nach Interessen und Situationen – über eine Entscheidungsfähigkeit und -freiheit. Der zweite Aspekt kommt der „öffentlichen Kultur“ zu, die auf der Grundlage des normativ-kulturellen Aushandlungsprozesses in kollektiven Repräsentationen stattfindet. Die verinnerlichte Kultur ist die zwangsläufige Voraussetzung für den kulturellen Kompromiss (auch „symbolischer Gesellschaftsvertrag“ genannt):
[Er] gründet auf der Zustimmung aller durch eine gemeinsame Öffentlichkeit aufeinander bezogenen Akteure, da moralische Kategorien und soziale Klassifikationen für gültig befunden und für wahr genommen werden müssen.11
Bei dem dritten und letzten Aspekt, der zur „sozialen Schließung und kulturellen Distinktion“ führt, verdeutlicht Wimmer, „dass kulturelle Kompromisse auch Grenzen zwischen denen definieren, die sich an ihm beteiligen, und jenen, welche außerhalb seines Geltungsbereiches stehen.“12 Da die „kulturelle Kompromissfindung [einen] Prozess der sozialen Schließung“ impliziert, schlussfolgert Wimmer, dass diese „Prozesse sozialer Schließung […] zur Bildung von Klassen, von Nationen, Ethnien, Subkulturen, oder Geschlechtergruppen führen“13 können. Wimmer bleibt nicht bei der kulturellen Konsensbildung stehen, die in die soziale Schließung und kulturelle Distinktion mündet, sondern arbeitet das Gemeinsame aller Kulturen heraus. Dieses kulturell Gemeinsame bezeichnet Wimmer als die Pragmatik der kulturellen Produktion – d.h. die Fähigkeit, die „alle Menschen verbindet und es ihnen ermöglicht, die kulturelle Landschaft in Bewegung zu setzen und sich selbst in ihr zu bewegen, […] auf der Suche nach einem Kompromiss, Sinn und Nutzen in Übereinstimmung zu bringen.“14
Theater ist der liminale Bereich, in dem auch solche Prozesse kultureller Kompromissbildungen über ästhetische Wege laufen. Die Vielfalt theatraler Erscheinungsformen sowie ihrer religiösen, sozialen, politischen Funktionen und Zielsetzungen bestätigt verschiedenartig diese Sachlage. Wie viele künstlerische Ausdrucksformen bringt auch Theater eine sekundäre bzw. inszenierte Ebene von Wirklichkeit und Bedeutungen hervor: Dabei werden real-vorgegebene oder erfundene Geschehnisse in theatrale Vorgänge umgeformt.15 Nitschs und Schlingensiefs Theateransätze bringen diesbezüglich gegenkulturelle und grenzüberschreitende Theaterentwürfe hervor, in denen soziokulturelle und politische Aushandlungs-, Veränderungs- und Stabilisierungsprozesse von innergesellschaftlichen Wert‐ und Normsetzungen experimentiert werden. Dabei geht es wiederum, wie in vielen postdramatischen Theaterentwürfen um bewusste Überschreitungen von Grenzen kultureller und selbstverständlicher Verhaltensmuster und Erwartungshaltungen, die in der Regel beachtet werden müssen. Jedoch handelt es sich hierbei keineswegs um den Spaß eines bloßen soziokulturellen Tabubruchs und Überschreitungswillens von Grenzen. Im Gegenteil: Derartige postdramatische Theaterformen gehen von einer bereits im realen Leben „dargestellten Gewalt zur Gewalt der Darstellung“16 aus, um Momente der Anagnorisis hervorzurufen. Patrick Primavesi bemerkt z. B.:
Erwartungen zu enttäuschen, ungewohnte Wahrungs- und Denkweisen zu ermöglichen, war einer der wichtigsten jener Impulse, die seit den 1950er Jahren von Performances ausgingen […]. Dabei wurde vielfach der Körper der Akteure in den Mittelpunkt gestellt, um die Grenze zwischen Kunst und Wirklichkeit aufzubrechen […]. In dieser Perspektive sind die Aktionen von Joseph Beuys, Hermann Nitsch, Marina Abramović oder auch Orlan und Stelarc bei allen ideologischen Differenzen doch verwandt. Andererseits war es die Arbeit mit solchen Performanceelementen, die seit den 1970er Jahren die Auseinandersetzung mit ritualisierten Verhaltensweisen im Theater produktiv machen und eine verkrustete Ästhetik der Werkinterpretation aufbrechen konnte. Entscheidend dafür ist aber nicht der Tabubruch als solcher. Wenn sich die Doppelmoral eines sensationsgierigen und/oder kulturpessimistischen Journalismus an Gewaltdarstellung, nackten Körpern und angeblich entwürdigten Symbolen entzündet, ist Theater darin doch zumeist harmloser als viele TV-Programme.17
Die konsequente Reaktion von vielen postdramatischen Theatermacher_innen besteht in dieser Hinsicht wie folgt darin: den Tabubruch als Katalysator für Anagnorisis zu verwenden. Diesbezüglich handelt es sich um einen dezidiert inszenierten Angriff auf konventionell-verankerte, soziokulturelle Ordnungssysteme und deren Erwartungshaltungen, in welchen bereits Keime von Tabubrüchen, Skandalen und Provokationen verdrängt existieren. Hierzu sind Nitsch und Schlingensief sehr gute compagnons de route, die mit Störstrategien und theatralen Mitteln gewohnte Erwartungs- und Wahrnehmungshaltungen von Rezipierenden durch die Auflösung beispielsweise der Beobachterposition erschüttern.
Ausgehend von den bisher dargestellten Auslegungen lassen sich folgende Hypothesen formulieren:
Die Aktivierung des Publikums und seine Einbeziehung in performative Aufführungen im postdramatischen Theater radikalisieren Brechts Konzept des epischen Theaters. Dabei werden deviante Theaterstrategien, die schon lange abweichend vom klassischen Theater praktiziert wurden, um das Publikum zu aktivieren und zu schockieren, wieder aufgenommen.
Zu gegenkulturellen Tendenzen im postdramatischen Theater zählen unter anderem die Rückkehr zu voraristotelischen und mittelalterlichen Theaterformen, die wiederum Parallelen zu außereuropäischen bzw. vorkolonialen afrikanischen Theaterformen aufweisen. Diese Tendenzen stellen im Theater nicht nur eine Rückkehr von rituellen bzw. religiösen Rollendarstellungen unterschiedlicher Kulturen und Epochen als Inspirationsquelle, sondern auch eine Herausforderung für Teilhabende dar, da die Begrenzung der Kunst und ihre Unterscheidung von nichtkünstlerischen Aktivitiäten unterlaufen wird.
Die performativen und rituellen Praktiken im postdramatischen Theater am Beispiel von Nitschs Orgien-Mysterien-Theater und Schlingensiefs Aktion 18, „tötet Politik!“ charakterisieren sich durch kulturelle Elemente sowie Symbole, die eine Pluralisierung bzw. Variabilität von Interpretationsmöglichkeiten bewirken und diese durch eine stets erneuerte Formierung steuern. Denn die Aufführungen als ästhetisch-reale Ereignisse sind durchaus offener und hängen stark von variablen Faktoren ab: dem Objekt, der Reaktion der Teilhabenden, der Zeit, dem Raum und dem Kontext.
Die Auseindersetzung mit der folgenden Fragestellung bezieht sich die angeführten Hypothesen:
Wodurch kennzeichnen sich die gegenkulturellen Tendenzen im postdramatischen Theater und welche Wirkung haben sie auf Rezipierende und die Gesellschaft? Welche Rolle spielen dabei gesellschaftliche, politische, ökonomische und kulturelle sowie religiöse Rahmenbedingungen?
Inwiefern können die Erkenntnisse über voraristotelische, mittelalterliche und vorkoloniale bzw. außereuropäische Rollendarstellungsformen dazu beitragen, die heutigen fließenden Grenzen zwischen Theater und anderen politischen und soziokulturellen Tätigkeiten theoretisch beschreibbar zu machen?
Inwiefern können performative und rituelle Bedeutungsproduktionen unterschiedliche und variable Sinnzusammenhänge aufweisen?