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DER EINFLUSS DER GROSSELTERN

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Im Gegensatz zu den fernen Vorfahren waren die Großeltern eine lebende Erinnerung, deren teils strenge, teils liebevolle Autorität so manche Kindheit überschattete. Aufgrund des Altersunterschieds erheischten sie Respekt vor ihrer Lebenserfahrung und Lebensleistung, ob bei der Bewirtschaftung eines Bauernhofs oder dem Führen eines Geschäfts. Obwohl einige trotz nachlassender Kräfte weiter arbeiteten, waren die meisten Großeltern im Ruhestand und hatten jetzt Zeit für Hobbys. Manche bewirtschafteten einen Garten, andere hielten Bienen, wieder andere rauchten einfach ihre Pfeife. „Auch ein hübsches Knusperhäuschen mit Möbeln, Backofen und Toilettenhäuschen, alles eingezäunt, bastelte uns Opa“ zu Weihnachten, erinnert sich Edith Schöffski. „Tante Grimm hat zu den Puppenbetten Bettzeug und alles andere Nötige genäht und natürlich auch den Lebkuchen gebacken.“22 Ein anderer Großvater erzählte drollige Geschichten über seine eigenen Heldentaten als Jugendlicher und machte bei albernen Spielen der Kinder den Anführer. Während ihre Eltern sich über die strenge Disziplin ärgerten, welche dieselben Männer und Frauen einst ihnen auferlegt hatten, erinnerten sich die Enkel meist liebevoll an Oma und Opa, sobald eine Krankheit, wie etwa Tuberkulose, sie ihnen nahm.


3 Wilhelminische Großmütter.

In ihren Augen verlief das Leben der Großeltern strikt entlang geschlechtsspezifischer Grenzen: Der Großvater war das Oberhaupt und Großmutter die Seele der Familie. Er herrschte mit paternalistischer Autorität über seine Schar, traf alle wichtigen Entscheidungen, kontrollierte die Finanzen und hielt auf strenge Zucht. Er war verantwortlich für das materielle Wohlergehen der Familie, brachte das tägliche Brot auf den Tisch und sorgte zusätzlich für ein wenig Behaglichkeit. Auf dem Land war es der Bauer, der das Gesinde und die Tiere kontrollierte und entschied, wann und wo gepflügt wurde. In den Städten schwang der Dienstherr das Zepter über sein Geschäft und sorgte dafür, dass Lehrlinge und Angestellte nicht aus der Reihe tanzten. Das Familienoberhaupt war auch verantwortlich für die Beziehungen zur Außenwelt; es schützte den Ruf der Familie und beteiligte sich an öffentlichen Aufgaben. Auch wenn er nur Goldschmied war, strahlte Hans Queisers Großvater, „ein schweigsamer Mann“, in seinem dunklen Sonntagsanzug Wohlanständigkeit und Ehrbarkeit aus.23

Die Großmutter war im Gegensatz dazu verantwortlich für den Haushalt und die Beziehungen innerhalb der Familie. Die tägliche Beköstigung zahlreicher Personen war eine beschwerliche Arbeit, und die Beschaffung von Kleidung war kompliziert, weil sie meist von Hand zugeschnitten und genäht wurde. Bürgerliche Familien beschäftigten Dienstmädchen, die bei der Hausarbeit und der Aufzucht der Kinder halfen; aber Dienstboten mussten beaufsichtigt werden. Ältere Frauen hatten zudem ein Auge auf ihre Töchter und Schwiegertöchter, um sicherzustellen, dass sie sich angemessen benahmen, damit kein Skandal die Familienehre beschmutzte. Außerdem waren die Großmütter oft frommer als ihre Ehegatten und bestanden darauf, die Enkelkinder mit in die Kirche zu nehmen. Doch wenn die Großväter autoritär waren, blieb ihren Ehefrauen wenig übrig, als sich unterzuordnen und statt durch Gepolter eher durch sanfte Überredung ihren Willen durchzusetzen. Selbst wenn die Oma „eine schroffe Person“ war, konnte es sein, dass die Enkelin sie „mehr liebte als irgendjemanden sonst“. Fotos wie das von den würdigen älteren Damen der Familie Schöffski (Abb. 3) zeigen die Großmütter als respekteinflößende Persönlichkeiten, gleichwohl lächelnd und freundlich.24

Die Großeltern erlaubten es den Kindern vielfach, sich elterlicher Kontrolle und Routinepflichten zu entziehen, vor allem bei Besuchen und in den Schulferien. Wenn die Familie in die Stadt gezogen war, um Arbeit in einer Fabrik zu finden, konnten sie in den Ferien auf den Bauernhof zurückkehren, wo sie mit den Tieren spielen und die auf einem Hof anfallenden Arbeiten kennenlernen konnten. War der Großvater Handwerker, konnten die Enkel ihm bei der Arbeit über die Schulter schauen. Falls er ein eigenes Geschäft aufgebaut hatte, konnten sie sich im Bedienen von Kunden üben und die Geheimnisse von Pelzen oder Kolonialwaren lernen. Waren die Großeltern vermögend, konnten die Enkel Oberschichtluft schnuppern, wenn sie in einer Villa wohnten oder in einem Automobil spazieren fuhren. „Ich bummel[t]e auch gern durch die Fabrik, betrachte[te] die Maschinen und [sah] den Arbeitern zu“, erinnert sich Horst Grothus.25 Ebenso konnten Verwandtenbesuche in der Stadt Mädchen einen Vorgeschmack von Mode und Eleganz vermitteln.

Der Gegensatz zwischen Großeltern väterlicher- und mütterlicherseits eröffnete interessante Wahlmöglichkeiten. Einer der Großväter von Gisela Grothus war ein bekannter protestantischer Theologe und der Erzieher des Großherzogs von Baden. Die Eltern von Giselas Mutter lebten in Berlin, wo der Großvater Militärarzt und Leibarzt Wilhelms I. war. Dieser eindrucksvolle Opa „nahm mich auf seinen Spaziergängen mit; hauptsächlich aber entsinne ich mich, dass er an seinem Schreibtisch schrieb, manchmal auch mit einer Gänsefeder; was, weiß ich nicht.“ Seine Frau versuchte, ihrer Enkelin mit Süßigkeiten eine Freude zu machen, doch „die häufig angebotene Baiser-Torte begeisterte mich ebenso wenig wie das Apfelmus mit Rosinen“. Aber „Oma hatte für mich immer Spielsachen herrichten lassen: vor allem meine ‚Puppe Christa‘ (in der Größe eines einjährigen Kindes) und einen Kaufladen, mit dem Jo und ich gern spielten“. Solche angenehmen Erinnerungen boten gegensätzliche Rollenbilder, außerdem erzeugten sie ein Band zwischen den Generationen und ein Gefühl familiären Stolzes.26

Eine typische Familie der oberen Mittelschicht, wie etwa die Eycks, verband wirtschaftlichen Wohlstand mit einer akademischen Ausbildung und beruflichen Aktivitäten. Großvater Joseph war Makler an der Berliner Börse und leitete eine Brauerei in Berlin, musste aber sparsam wirtschaften, um einen repräsentativen Lebensstil aufrechterhalten zu können. Die Großmutter Helene, die ein Tagebuch hinterließ, opferte ihre eigene Begabung dem Wohl der Familie und schrieb ebenso pointiert wie kenntnisreich über die Erziehung ihrer sechs Kinder. Die Söhne besuchten allesamt das Gymnasium, einer wurde Anwalt, ein anderer liberaler Politiker und der dritte Geschäftsmann; die Töchter heirateten einen Architekten, einen Anwalt und einen angesehenen Arzt. Sie wurden im neuhumanistischen Geist der Klassiker erzogen und betrachteten sich als dem Bildungsbürgertum zugehörig. Obwohl nicht strenggläubig, machte die Zunahme der antisemitischen Hetze in den 1880er-Jahren der Familie ihr jüdisches Erbe bewusst.27

Für Arbeiterfamilien wie die Härtels war das Leben eher ein Kampf, bei dem es schlicht darum ging, über die Runden zu kommen. Genug zu essen aufzutreiben, war eine tägliche Herausforderung, vor allem wenn es zahlreiche hungrige Mäuler zu stopfen gab. Ältere Jungen wurden daher oft fortgeschickt, um ein Handwerk zu erlernen, und Mädchen wurden in fremde Haushalte in Dienst gegeben. Häufig kam es zu Ausbrüchen häuslicher Gewalt, wenn Männer, insbesondere nachdem sie zu viel getrunken hatten, ihre Autorität geltend machten, indem sie ihre Frauen und Kinder schlugen. Diese Mentalität fand sich auch bei Arbeitgebern und Beschäftigten: Als ein junger Mann seinen Heuwagen umkippte, beschuldigte der Gutsinspektor ihn, den Wagen unsachgemäß beladen zu haben, und „peitschte August an Ort und Stelle aus“. Der misshandelte Jugendliche machte sich daraufhin auf ins Ruhrgebiet, wo er Arbeit auf einer Zeche fand. Großvater Schirmer, ein einfacher Hausmeister an einer höheren Schule, legte solchen Wert auf eiserne Disziplin, dass sein rebellischer Sohn Seemann und Kommunist wurde.28 Die Aufrechterhaltung von Zucht und Ordnung forderte einen hohen Preis.

Während der letzten Jahrzehnte des Kaiserreichs stieß die ältere Generation verstärkt auf Widerstand vonseiten ihres Nachwuchses. Oft drehten sich die Generationenkonflikte um die Berufswahl, beispielsweise als Gerhard Bauckes Vater den elterlichen Rat in den Wind schlug und Bäcker wurde statt Priester. Die Eltern von Gertrud Koch bestanden darauf zu heiraten, obwohl der Bräutigam nur ein verwitweter Kesselschmied mit zwei Kindern war, während seine Braut, eine Apothekerin, der Mittelschicht angehörte. „Als sich meine Mutter in meinen Vater verliebte, hätte auch die Welt untergehen können – für meine Großmutter wäre es nicht weniger furchtbar gewesen.“ Der proletarische Vater war „ein großer, schwerer Mann mit schneeweißen Haaren und einem ebenso weißen kleinen Schnauzbart“, außerdem fünfzehn Jahre älter als seine Frau und obendrein Kommunist. Die Erosion der patriarchalischen Autorität hatte bereits vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs begonnen, sodass die nächste Generation sich bemühte, den eigenen Kindern liebevoller zu begegnen und ihnen eine stärkere Stütze zu sein.29

Die meisten Großeltern der Weimarer Geburtsjahrgänge waren während des deutschen Einigungsprozesses in den 1860er-Jahren geboren; sie vermittelten der Folgegeneration einen Nationalismus, der sich zweifelsohne mit dem neu geschaffenen Reich identifizierte. Diese grundverschiedenen Menschen, die alle Deutsch sprachen, überwanden in ihrer Jugend nach und nach die vielen regionalen, religiösen und Standesunterschiede und verschmolzen zu Bürgern einer größeren Gemeinschaft. Zum Teil war dies eine Folge der währungstechnischen und rechtlichen Vereinheitlichung, die durch Landkarten in Schulbüchern und den Militärdienst für Männer untermauert wurde. Die allmähliche Verlagerung der Loyalitäten war aber auch ein Ergebnis festlicher Besuche durch den Kaiser und der Begehung nationaler Feiertage wie etwa des Sedantags, der an die Schlacht von Sedan 1870 und den Sieg über Frankreich 1871 erinnerte. Außerdem propagierte das Deutsche Kaiserreich den preußischen Standard in Verwaltung und Bildung als Blaupause für das ganze Land.30 Weil sie mit dem Bismarckreich aufgewachsen waren, waren viele Großeltern stolz auf die wachsende Macht des neuen Staatswesens und den internationalen Respekt, der ihm entgegengebracht wurde.

Trotz großer Armut während des rasanten Industrialisierungsprozesses erinnerten sich viele Menschen später an das Deutsche Kaiserreich als eine Epoche des Wohlstands und der Stabilität. Die ländliche Hierarchie aus adeligem Gutsbesitzer, unabhängigem Bauern und landlosem Knecht reproduzierte sich in der Stadt in Gestalt des Geschäftsinhabers, des Handwerkers und des Industriearbeiters. Ein wenig abgemildert wurden diese autoritären Strukturen durch einen Paternalismus, der sich verantwortlich fühlte für seine Untergebenen und dieser Verantwortung durch die Bereitstellung von Wohnraum und die Verteilung von Weihnachtsgeschenken gerecht zu werden suchte. Obwohl die Industrialisierung die Arbeiterschaft ausbeutete, erlebten wachsende Teile der Mittelschicht ein Gefühl des Fortschritts im Zeichen einer allmählichen Verbesserung der Lebensverhältnisse. Zudem verstärkten technologische Entdeckungen, etwa die Entwicklung des Automobils durch Erfinder wie Gottfried Daimler, das Gefühl, dass alles besser wurde.31 Das wichtigste Vermächtnis der Großeltern war daher ein deutscher Nationalismus gepaart mit Zukunftsoptimismus.

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