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EIN ZWIESPÄLTIGES ERBE

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Obwohl ihre familiären Vermächtnisse oft „tief in der Erinnerung begraben“ lagen, beeinflussten sie in den kommenden Jahrzehnten das Leben der in den 1920er-Jahren geborenen Kinder. Die meisten Nachkommen hatten nur vage Erinnerungen an ihre fernen Vorfahren und waren sich bestenfalls eines allgemeinen Bezugsrahmens bewusst, innerhalb dessen sie sich zu entwickeln hatten. Doch wer sie kennenlernte, der erinnerte sich unmittelbarer an die Einwirkung seiner Großeltern, weil er sie wegen ihrer liebevollen Anteilnahme und häufigen Geschenke „aufs höchste bewundert“ hatte. Am deutlichsten war die Erinnerung an die Bemühungen ihrer Eltern, ihnen auf ihrem Entwicklungsweg mit Rat und Tat zur Seite zu stehen. Mit einer Mischung aus Überredung und Zwang versuchten Väter und Mütter, ihre Kinder zu bewegen, grundlegende Verhaltensmaßstäbe zu verinnerlichen. Deren Autobiografien zeigen, dass sie diesem Bemühen grundsätzlich ambivalent begegneten.63

Was die Eltern- und Großelterngeneration den nach dem Ersten Weltkrieg in Deutschland geborenen Kindern hinterließ, war ein recht gemischtes Konvolut aus Möglichkeiten und Hemmnissen. Dank sanitärer Einrichtungen zur Verbesserung der Hygiene und sozialmedizinischer Maßnahmen hatte sich die Gesundheit der Bevölkerung während des Kaiserreichs außerordentlich verbessert, und die Lebenserwartung war beträchtlich gestiegen. Gleichzeitig hatten wissenschaftliche Entdeckungen und technische Erfindungen gänzlich neue Bereiche, wie etwa Elektrizität und Chemie, erschlossen. Was Alphabetisierung, Erziehung und Unterricht betraf, stand Preußen an der Spitze. In punkto Stadtreform und Entwicklung des Wohlfahrtsstaates galten die Deutschen als führend in der zivilisierten Welt. Selbst amerikanische Besucher wie Mark Twain priesen das kaiserliche Deutschland als ein Land auf dem letzten Stand der Moderne.64

Aber die Lebenserinnerungen der in den 1920er-Jahren Geborenen erzählen auch von erheblichen Problemen, die ihr junges Leben belasten sollten. Der verlorene Erste Weltkrieg und die Hyperinflation von 1923 brachten weite Kreise der Mittelschicht an den Bettelstab und gefährdeten das Überleben eines Großteils des Proletariats. Die drakonischen Bedingungen des Friedensvertrags von Versailles hatten einen tiefen Groll gegen die Sieger zur Folge, aus dem nationalistische Parteien Honig saugen konnten, um eine revanchistische Außenpolitik zu rechtfertigen. Die Aussetzung der Parteipolitik im „Burgfrieden“ während der militärischen Auseinandersetzung hatte die vielen ideologischen Gräben innerhalb der deutschen Gesellschaft lediglich verdeckt. Sie traten während des Zusammenbruchs und der Revolution vom November 1918 erneut mit aller Macht zutage. Der anschließende Beinahe-Bürgerkrieg zwischen linken Verbänden und rechten Freikorps verzögerte die innenpolitische Konsolidierung um ein halbes Jahrzehnt. Hin- und hergerissen zwischen nationalistischen, liberalen, sozialdemokratischen und kommunistischen Vätern, sahen viele Nachkriegskinder einer schwierigen Zukunft entgegen.65

Die Weimarer Kinder wurden daher zum Ziel ideologischer Schlachten zwischen konkurrierenden Modellen der Moderne. Die kaiserlich-deutsche Spielart von wissenschaftlichem Fortschritt, Wirtschaftswachstum, bürokratischer Ordnung, militärischer Macht und Wohlfahrtsstaat war durch die militärische Niederlage diskreditiert. Im Osten lockte die sowjetische Blaupause einer sozialen Revolution, die der Arbeiterklasse Frieden, Sozialleistungen und technischen Fortschritt versprach. Aus dem Westen, sprich: den Vereinigten Staaten, kam eine gemäßigtere Botschaft von liberaler Demokratie, die der Mittelschicht Wohlstand und Freiheit suggerierte. Anfangs tendierte die Mehrheit der Deutschen zum US-Präsidenten Woodrow Wilson und nicht zum Führer der Bolschewiki, Wladimir Iljitsch Lenin. Aber in den frühen 1920er-Jahren blickten große Teile der Rechten erstmals nach Süden, auf Benito Mussolini in Italien, der dabei war, ein neues, radikal nationalistisches Gebräu namens Faschismus zu ersinnen.66

Solche Unterschiede in der familiären Herkunft und den sozialen Netzwerken eröffnete den Weimarer Kindern ein breites Spektrum möglicher Alternativen. Einerseits boten liberale und sozialdemokratische Kräfte beträchtliche Chancen zur freien Entwicklung; andererseits hatten ihre Eltern und Großeltern autoritäre und nationalistische Rahmen geschaffen, die das Handeln in der Gegenwart massiv einschränkten. Schon in einzelnen Familien wie den Schirmers reagierten die Kinder unterschiedlich: Ein Sohn folgte dem elterlichen Beispiel und wurde zu einem nationalistisch gesinnten Bürokraten, während der andere die väterliche Autorität ablehnte und zum rebellischen Kommunisten wurde.67 Im größeren gesellschaftlichen Kontext boten Schulen, Freundeskreise, Jugendgruppen, Kirchen und andere Organisationen der Zivilgesellschaft ebenfalls widerstreitende Sichtweisen. Leider mussten viele der Weimarer Kinder später zugeben, dass sie am Ende Entscheidungen trafen, die sich als katastrophal herausstellen sollten.

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