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EIN GEFÜHL VON VERRAT

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Wie Hans Queiser zeigen sich die meisten Autoren, wenn sie über ihr früheres Bekenntnis zum Nationalsozialismus schreiben, zutiefst verbittert über die „Verführung ihrer Generation“, die sie ihre Jugend kostete. Auch Ruth Weigelt klagt: „Man beraubte uns unserer unbeschwerten Jugend.“ Bestrebt, ihre eigene Verantwortung herunterzuspielen, behauptet Ruth Bulwin: „Oft wurden wir auch bewegt wie Marionetten; zum Teil aus übernommener oder überkommener Tradition, zum Teil durch politische Einflüsse oder auch aus Selbsterhaltungstrieb.“ Karl Härtel konstatiert, dass „wohl die meisten der Überlebenden, Täter sowohl als Opfer“, die schockierenden Erinnerungen an die „Grausamkeiten und Verbrechen gegen die Menschlichkeit“, die ihr Leben entstellten, „zunächst einmal aus ihrer Erinnerung verdrängen“ wollten. Eva Peters war im BDM engagiert: „Wenn ich so darüber nachdenke, wie viel Idealismus wir damals gehabt haben. Und für eine so schlechte Sache!“69 Die meisten Autoren sehen sich in der Rückschau als irregeleitete Opfer.

Das kollektive Gefühl, verraten worden zu sein, ist nicht völlig unangebracht, denn auch viele ihrer Eltern und erwachsenen Vorbilder widerstanden dem Sirenenruf des „Führers“ ebenfalls nicht. Gerhard Krapf behauptet, dass „die Nazis es schafften, die allerbesten der Deutschen zu beflügeln und sie zu veranlassen, aufrichtig an den hohen ethischen Auftrag zu glauben, zu dieser neuen Größe beizutragen, wieder ein Volk zu werden, stark, ehrlich, loyal, fleißig und stolz“. Diese „Volksgemeinschafts“-Rhetorik versprach, eine egalitäre Gemeinschaft zu schaffen, während der Wirtschaftsaufschwung Hitler recht zu geben schien. Endlose Aufmärsche und Kundgebungen demonstrierten Einheit und Stärke, denn „die Nazis waren Meister in angewandter Massenpsychologie“. Aber es war noch „beschämender, dass Leute wie [Doktor Ferdinand] Sauerbruch, [der Komponist] Richard Strauss, [die Schriftstellerin] Ina Seidel, sogar [der katholische] Kardinal Faulhaber … unaufgefordert Unterstützung leisteten und damit eine recht große Zahl ihrer jeweiligen Anhänger umstimmten“.70

Die Erinnerungen spielen jedoch den Umstand herunter, dass es unter Jugendlichen auch eine starke Tendenz zur „Selbstnazifizierung“ gab. Die Indoktrination der Heranwachsenden war deshalb so effektiv, weil sie nicht nur von Erwachsenen betrieben wurde, sondern auch von HJ-Führern, die kaum älter waren als ihre Schützlinge. Viele waren beeindruckt von der dynamischen Kraft der HJ und wollten, wie Robert Neumaier, einfach unter Gleichaltrigen sein. Überzeugt davon, dass sie die Zukunft repräsentierten, rebellierten nicht wenige Heranwachsende, wie Hans-Harald Schirmer, gegen die Skepsis ihrer Eltern und wurden Mitglieder der Hitler-Jugend. Für gesellschaftliche Außenseiter, wie den „fremd[en], heimatlos[en] und unehelich[en]“ Wilhelm Kolesnyk, war die Anziehungskraft noch stärker: „Vor allem aber boten sie [die Nazis] einem jeden Aufstiegschancen. […] Das war wohl auch der Punkt, der mich am meisten berührte.“ Und „dann waren das ohne Zweifel die Wochenschauen von den überwältigenden Siegen an allen Fronten“, die suggerierten, „dass wir Deutschen tatsächlich das Volk der Völker waren, die Größten in jeder Hinsicht, dass uns die Führungsrolle in der Welt zustand und wir sie auch erringen würden.“71

Die Lebenserinnerungen zeigen, dass es außerordentlicher Einsicht und Courage bedurfte, sich fernzuhalten, sich nicht zu fügen oder gegen das „Dritte Reich“ aktiv Widerstand zu leisten, da die Sanktionen tödlich sein konnten. Unter der nationalistischen Elite, wie etwa bei den Kleins, herrschte viel „Distanz“ zu den plebejischen Nazis, „aber auch Nähe“, da viele politische Ziele sich deckten. In demokratischen Familien war die Opposition eindeutiger, vor allem wenn es sich um jüdische Familien wie die Eycks handelte oder um Liberale, deren Bekanntheit sie um ihr Leben fürchten ließ. In Elternhäusern, die der Bekennenden Kirche nahestanden, wie bei den Helmers, war der Vater sogar gezwungen, sich in eine psychiatrische Klinik zu begeben, um der Verfolgung durch die Nationalsozialisten zu entgehen. Kommunistische und sozialdemokratische Kreise traf die Brutalität der Gestapo derart massiv, dass Widerstand das einzig mögliche Mittel war. Elterliche Skepsis spornte Heranwachsende nicht automatisch an, sich dem Regime zu widersetzen; selbst kritische Jugendliche waren hin- und hergerissen zwischen Begeisterung und quälendem Zweifel.72

Am Ende sollten die nationalsozialistischen Jugendlichen für die Blindheit, mit der sie dem „Führer“ in einen Vernichtungskrieg und einen rassischen Völkermord folgten, teuer bezahlen. Die Kombination aus nationalistischem Elternhaus, nazifizierter Schule und Indoktrination in der Hitler-Jugend machte die Mehrzahl zu gefügigen Werkzeugen der nationalsozialistischen Unterdrückung und Aggression. Agnes Moosmann macht „die Obrigkeitshörigkeit und die Kritiklosigkeit“ für die Katastrophe verantwortlich. Es gab allzu wenige Demokraten, Sozialdemokraten und Kommunisten, um die braune Flut einzudämmen. Einige zogen sich in die innere Emigration zurück, andere flohen ins Ausland, und wieder andere wurden eingesperrt, oft in Konzentrationslagern. Etwa die Hälfte der Abschlussklassen junger Männer wurde im Kampf getötet. Die jungen Frauen mussten Bombenangriffe, Flucht und Vertreibung oder Massenvergewaltigungen durch Soldaten der siegreichen Armeen durchstehen. Es bedurfte dieser entsetzlichen Erfahrungen eigenen Leids, um der Mehrheit vor Augen zu führen, dass sie einem falschen Idol gehuldigt hatte. Nur wenige wie Horst Grothus und Eva Peters waren bereit, sich ihrer persönlichen Verantwortung zu stellen und zu aktiver Buße zu bekennen.73

Zerrissene Leben

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