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EINE GLÜCKLICHE KINDHEIT

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Der Untergang der Weimarer Republik zerstörte weitgehend „die sorgenfreie Atmosphäre der Kindheit“. Mehr als 70 Jahre später erinnerte sich Frank Eyck, dass seine „glückliche, behütete Kindheit abrupt am 30. Januar 1933 mit dem Aufstieg Adolf Hitlers und der Nazis zur Macht endete“. Anfangs dachte der zwölfjährige Tom Angress: „Super, das wird interessant!“ Aber tolle Witze über Adolf Hitler, wie er auf der Suche nach einem „Regierungsprogramm“ durch die Reichskanzlei tigert, wurden der Folgenschwere des Wandels nicht gerecht. „Als ich am nächsten Tag das Klassenzimmer betrat, spürte ich sofort die Spannung in der Luft.“58 Jetzt konnten Juden, Kommunisten und Intellektuelle straffrei verfolgt werden, denn die radikale Rechte kontrollierte die Polizei und die Gerichte. Während das Leben für die kleineren Kinder größtenteils so weiterging wie bisher, mussten die älteren jetzt entscheiden, wie sie reagieren sollten. Wie zu erwarten, schwamm die große Mehrheit in der propagandistisch geschürten Begeisterung für die „nationale Erhebung“ mit.

Die meisten Autobiografien konstatieren, dass „jene Jahre, kurz bevor Hitler an die Macht kam“, verglichen mit dem Leid im Ersten Weltkrieg und der späteren diktatorischen Unterdrückung, „für uns Kinder glücklich waren“. Trotz des anfänglichen Chaos und des Wirtschaftsabschwungs zum Schluss blieb die Weimarer Republik für sie ein Staat, der einen zivilen Freiraum bot, in dem die meisten Familien ihrem Nachwuchs eine behütete Kindheit ermöglichen konnten. Auch wenn die erwerbstätigen Armen Mühe hatten, minimalste Bedürfnisse in punkto Ernährung und Unterkunft zu befriedigen, schilderten sie ihr Zuhause als stabilen Ort. Und obwohl die körperliche Züchtigung ein Mittel zur Wahrung der Disziplin blieb, wurden die Klassiker und die Naturwissenschaften an den Schulen durchaus kompetent unterrichtet. Noch waren Straßen und Wohnviertel sicher genug, um Jugendlichen erlauben zu können, ihre Umwelt zu erkunden. Ruth Weigelt bestätigt solche positiven Erinnerungen, wenn sie schreibt, dass sie „bis hierhin eine schöne frühe Kindheit ohne Kummer und Sorgen gehabt“ habe.59All dies endete, als die Nationalsozialisten im Namen der Rettung der Nation ihre radikale Ideologie durchsetzten.

Von den Kindern bedauerten nur wenige das Ende der ersten deutschen Demokratie, und selbst diese wenigen begriffen die fürchterlichen Folgen nicht. „Politisch uninteressiert verlebte ich meine Jugend“, erinnert sich die aufsässige Gisela Grothus. „Nur auf eines war ich stolz: In der Republik geboren zu sein! So betrachtete ich mich in der Familie als Republikanerin.“ Nur wenige Jungen waren politisch so bewusst wie Tom Angress, dessen katholischer Freund Lorenz „Haltung annahm, seine Hand zum Hitlergruß hob und ausrief: ‚Deutschland erwache, Hitler macht Kaffee!‘“ Im Wahlkampf 1930 liefen beide Jungen herum, „um NSDAP-Aufkleber von Hauswänden zu entfernen“, die Hitlers Wahl befürworteten. Etwa um die gleiche Zeit riefen sie den Herausgeber der NS-Zeitung Der Angriff an und schrien Obszönitäten ins Telefon. Am anderen Ende des politischen Spektrums hielt Fritz Klein „als kleines, ohnmächtiges Zeichen des Protestes … manchmal die schwarz-weiß-rote Fahne aus dem Fenster“, um seine Sympathien für das Kaiserreich zu bekunden. Natürlich hielten diese sporadischen jugendlichen Proteste die nationalsozialistische Flut nicht auf.60

Im Nachhinein betrachtet, nahmen die Weimarer Kinder in ihrer großen Mehrzahl kaum Notiz von der NS-Machtergreifung, weil sie zu jung waren, um sich für Politik zu interessieren. „Wir kleinen Leute haben erst am nächsten Tag aus der Zeitung erfahren, dass ein gewisser Adolf Hitler, der Führer der NSDAP, von unserm greisen, vom Volk gewählten Reichspräsidenten Paul von Hindenburg … zum 21ten Reichskanzler ernannt worden war“, erinnert sich Karl Härtel, um ein wenig entschuldigend hinzuzufügen: „1932 war ich gerade in meinem 10ten Lebensjahr und wusste von Politik so viel wie ein Fisch vom Fliegen.“ Hellmut Raschdorff hat ähnliche Erinnerungen: „Inzwischen erlebten wir 1933 die sogenannte Machtübernahme, die ungeahnte und nur von wenigen befürchtete Veränderungen bringen sollte. In unserem Schulalltag änderte sich kaum etwas, außer dass wir im Geschichtsunterricht einige neue Daten zusätzlich lernen mussten“ und Geld für die Nationalsozialistische Volkswohlfahrt gesammelt werden musste. Erst nach und nach dämmerte den meisten Jugendlichen, dass „eine schlimme Zeit [begonnen hatte], wo die Nazis an der Macht waren“.61

Vielen AutorInnen fällt es nach wie vor schwer, ihre eigene Reaktion auf den Beginn des „Dritten Reichs“ zu erklären. Manche Zeitzeugen, wie etwa Karl Härtel, ärgern sich, denn es „fühlen sich immer wieder besonders weise, vor allem jüngere Leute, berufen, den unmittelbar betroffenen der älteren Generation Vorhaltungen zu machen, dass sie dieses getan und jenes unterlassen hätten und dass es die Schuld der Erlebnisgeneration wäre, dass dieser Hitler Deutschland und die halbe Welt ins Unglück habe stürzen können“. Dabei sei es vielmehr so gewesen, dass sie den Siegern des Ersten Weltkriegs den fehlenden Frieden verübelten, der es politischen Dilettanten wie den Nazis ermöglicht habe, die Macht zu ergreifen. Selbstkritischere Geister wie Heinz Schultheis führen ein zu geringes Alter als Grund für ihre Mitschuld an: „Für uns Kinder waren diese Verhältnisse eine nicht zu verändernde Vorgabe, deren Bedeutung wir in keiner Weise erkannten; gerade hierdurch aber wuchs unsere Generation ganz von selbst in das verfluchte ‚Dritte Reich‘ hinein.“62 Ironischerweise waren daher die sonnigen Weimarer Kindertage mit schuld daran, dass die meisten dieser jungen Deutschen nicht ausreichend gewappnet waren, um den Nationalsozialisten zu widerstehen.

Zerrissene Leben

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