Читать книгу Des Vaters, der Tochter, und des ewigen Geistes - K.T. Rina - Страница 3

E–Mail an Gott 1

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Wer braucht schon Erfolg? Unsere Arbeiten werden sowieso mit dem Lauf der Zeit in Vergessenheit geraten…Wer braucht schon Freunde? Sie amüsieren sich über dich, bis sie genug von dir haben und jemand besseres finden…Wer braucht schon Liebe? Sterben werden wir alle eh allein, und das Leben hat sowieso nichts nach dem Tod zu bieten. Warum überhaupt leben? Es gibt absolut nichts, das mich hier hält, dachte sich Siegfried. Er fuhr von der Arbeit mit dem vollgeladenen Bus nach Hause, mit den gleichen Fremden wie an jedem Abend. Er blickte auf die überfüllten Straßen und die Autos, in denen jeweils nur eine Person drin saß. Alle fuhren in dieselbe Richtung, doch war ihr Ziel dasselbe?

„Kanns‘e nich‘ lesen? Auf ‘er Website steht KEINE Anrufe!“ schrie das Mädchen neben ihm so laut, dass Siegfried sie sogar durch die melancholische Musik der Kopfhörer gehört hatte. Sie trug langes weiß gefärbtes Haar, wobei die linke Kopfhälfte glatt rasiert war und zahlreiche Piercings am linken Ohr glänzen ließ. Er nahm einen Kopfhörer aus dem Ohr und lauschte dem Telefonat.

„Ehm, ist das wirklich Gott?“ fragte die krächzende Stimme am Telefon. Siegfried pausierte seine Musik.

„Jo. Schieß los, was wills‘e?“ antwortete das Mädchen genervt.

„Eh, ja, ok. Ich will eine, eine Engelsstimme haben.“

„Metaphorisch oder wörtlich?“ sagte das Mädchen und blickte über ihre langen schwarzen Fingernägel.

„Meta–phorisch“, die Stimme hatte sich bei der Hälfte des Wortes in einen wundervoll resonierenden Sopran gewandelt, „Ich glaub es nicht. Es hat wirklich funktio…“ Das Mädchen beendete das Gespräch abrupt.

Siegfried konnte nicht glauben, was er gerade miterlebt hatte: Dieses Mädchen, das die Stimme am Telefon Gott nannte, hatte ihm einen Wunsch erfüllt. Siegfried spickte auf den Bildschirm des Mädchens. Sie scrollte durch einige E–Mails auf denen Namen und Bilder von den verschiedensten Leuten zu sehen waren: Alt, jung, schön, hässlich, rot–, dunkel–, hell– oder nicht–haarig), Männer, Frauen und Kinder. Alle hatten ihren eigenen Wunsch unter dem Foto, soweit Siegfried lesen konnte. Denn wie verschieden die Leute auf den Fotos waren, so waren die E–Mails in verschiedenen Sprachen und verschiedenen Schriften geschrieben. Sie öffnete eine Mail, wo eine schwer für die Augen anzuschauende Frau schrieb, dass sie sich einen schönen Mann wünschte. Siegfried hatte kaum Zeit sich den Namen durchzulesen, da löschte das Mädchen die E–Mail und öffnete die Nächste. Ein kleiner, blonder Junge schrieb, er wollte seine Mutter wiederhaben; es war zwar auf Kyrillisch, aber so viel konnte Siegfried verstehen, zumal es in einer kindlichen Ausdrucksweise geschrieben war. Auch diese Mail wurde innerhalb weniger Augenblicke gelöscht und durch die Nächste ersetzt. Siegfried stürzte nach vorne als der Bus anhielt und verlor für einen Moment den Blick auf ihr Handy. Als er sich drehte, stieg sie bereits aus. Er überlegte nicht und folgte ihr impulsiv, obwohl seine Endstelle noch weit entfernt war.

„Entschuldigung“, rief er ihr nach, doch sie beschäftigte sich weiter mit dem Handy. „Pardon, du mit den weißen Haaren.“ Das Mädchen blieb still stehen und steckte das Handy in die hintere Hosentasche ihrer schwarzen Hotpants.

„Was is‘ denn jetzt?“ fragte sie ohne sich umzudrehen.

„Sorry, aber ich hab deine E–Mails mitgelesen und...“

Die Weißhaarige drehte sich um und lief direkt auf Siegfried zu. Er war zwar zwei Köpfe größer als sie, aber er fühlte sich zwei Köpfe kleiner. Sie starrte ihn böse an, die Brauen nach innen rotiert und das Septum in ihrer Nase wippte mit ihren Luftausstößen. „Und du wills‘ auch ‘nen Wunsch erfüllt?“

Siegfried blickte in ihre Augen, die durch Kontaktlinsen komplett schwarz aussahen, und fühlte, wie sie ihn durchbohrten und durchschauten. „Ich will, dass du meine Freundin wirst.“

Ihr Blick wechselte sich sofort in ein freundliches Lächeln und sie sagte ihm: „Ok, komm mit, Siegfried.“

„Woher kennst du meinen Namen?“ Sie tippte ihm auf die Brust, wo sein Namensschild dranhing. Er klatsche seine Hand direkt über seine Augen. In diesem Moment schnappte sie sich Siegfrieds Handy aus der Hosentasche und tippte wild darin rum. „Hey, was soll das.“ Er versuchte, sein Handy wieder zurück zu ergattern, aber sie wendete sich von ihm und er war wie von einer unsichtbaren Barriere blockiert, näher heranzutreten. Sie schmiss das Handy über ihre Schulter und Siegfried fing es nach einer kleinen Jongliereinlage auf.

„Ein kleiner Hinweis, Siegfried. Du darfst dir nie wieder was wünschen.“

„Du bist nicht wirklich Gott, oder?“ fragte er, während er ihr an der Seite folgte.

„Warum glaubs‘e das denn nich‘?“ Ihr Handy klingelte. „VERDAMMT NO‘MAL! AUF ‘ER WEBSITE STEHT KEINE ANRUFE!“

„Tut mir aufrichtig Leid“, sagte die Stimme ganz leise bevor das Gespräch beendet war.

„Du kannst ja die Anruffunktion ausstellen, wenn es dich so sehr stört.“ Sie schaute ihn fragwürdig an und tippte dann furios auf ihrem Handy.

„Wir sind jetzt wirklich Freunde, Siegfried. Übrigens, du kannst mich Gott nennen, kürzer wird ‘er Name eh nich‘.“ Sie schüttelten sich die Hand und sie ging munter weiter, das Handy in der Hand. Er schüttelte den Kopf und dachte laut: „Ich muss nach Hause, ich hab ja doch keine Zeit für solche Dummheiten.“

„Alles klar, wohin geht’s?“

Er bedachte erst zu antworten, aber er ignorierte sie und ging wieder zurück zur Haltestelle, sie ihm hinterher. „Ehm, Gott, du kannst nicht mitkommen.“

„Ich bin dein Freund, Siegfried, das wolltest du. Wenn dir Gott zu abstrakt oder zu nah is‘, kann ich ja ‘nen and‘ren Namen finden.“ Sie suchte über ihr Handy nach „Namen von Gott“. Sie murmelte einige bekannte Bezeichnungen vor sich her: „…Ah, das is‘ doch fein. Nenn mich einfach Nüwa.“

„Nüwa? Wie auch immer.“ Siegfried setzte sich auf die Bank an der Haltestelle und Nüwa setzte sich neben ihn und fuhr mit ihren E–Mails fort. „Du warst doch irgendwo hin unterwegs, Nüwa? Warum bist du dann hier?“

Sie lächelte ihn an und sprach: „Wir sin‘ doch jetzt Freunde, Siegfried, da komm ich halt mit zu dir. Und ich war nich‘ wo hin unterwegs; ich geh einfach willkürlich um ‘e Welt.“

„Hast du kein Zuhause? Deine Eltern warten sicherlich auf dich.“

„Du glaubs‘ immer noch nich‘, dass ich Gott bin? Hier!“ Im selben Augenblick verschwand das weißhaarige Mädchen für einen alten Mann mit einem langen weißen Bart, der statt der Haare auf dem Kopf baumelte, und ebenso weißen Roben. „Passt dieses Bild besser zu deinen Vorstellungen?“ tönte der tiefe Bass aus dem Mund, welcher sich hinter dem flauschigen Bart verbarg. Der Bart war so flauschig, dass Siegfried nach ihm griff: „Du bist Gott?!“

„Endlich hass‘e es begriffen“, sagte die genervte Stimme des Mädchens wieder, und statt des Barter hielt Siegfried nun die glatt rasierte linke Seite von Nüwa in der Hand. Er schaute sich um und dann wieder auf Nüwa. „Wenn wir bei dir sin‘, muss ich mein Handy aufladen; diese billigen Akkus halten nich‘ mal ‘nen Tag aus.“

Siegfried war noch gänzlich verwirrt von all dem, was geschehen war, dass er beinahe seinen Bus verpasst hatte, doch Nüwa zerrte ihn zum Glück hinein.

Nüwa stöpselte ihr Handy an das Akkuladekabel und schmiss sich dann auf das Siegfrieds Sofa. Sie lag auf dem Bauch und ihre Beine in schwarzen Strümpfen baumelten in der Luft: „Nette Bude, die du hier hass‘.“ Seine Bude hatte nicht Vieles: Er hatte ein Sofa, das gleichzeitig sein Bett war; eine ziemlich bescheidene Küche, die praktisch nur aus einer Herdplatte und einem Kühlschrank bestand und einen arschbetäubenden Arbeitsstuhl; einen dazu gehörigen armbetäubenden Schreibtisch hatte er nicht; und natürlich ein Badezimmer, das keinen Zentimeter Luft bei der Verarbeitung verschwendet hatte und man dadurch während des Stuhlgangs sofort seine Hände waschen konnte, ohne aufstehen zu müssen; die Dusche nahm die andere Hälfte des Bads ein. Im Wohn–/Schlafzimmer lagen noch einige Umzugskartons herum; einen Schrank hatte Siegfried nicht.

„Es ist nicht viel, aber zumindest meins.“ Plop. Die Glühbirne brannte durch und das Zimmer war dunkel.

„Weil du mein Freund bis‘“, und mit beenden des Satzes war die Glühbirne wieder am Leuchten.

„Du bist wirklich Gott! Ich kann es nicht fassen. Gott ist ein kleines Mädchen, das auf meinem Sofa liegt.“

„Ich hab diese Form nur angenommen, weil mich dann die meisten nich‘ ansprechen. Weiß‘e wie nervig es is‘, allein schon alle Wünsche durchzugehen!?“

„Was hat das mit den Wünschen auf sich?“ fragte Siegfried, der sich den Stuhl nahm und sich zu Nüwa setzte. Seine Nerven im Gesäß alarmierten bereits abgeschaltet zu werden.

„Seit mein Bruder weg is‘, bin ich für das durchforsten der Wünsche und dem Erfüllen dieser beschäftigt, welches meine eigentliche Aufgabe früher war. Übrigens, früher habt ihr das noch Gebete genannt.“

„Moment“, Siegfried hielt ihr seine Hand vorm Gesicht. „Du hast einen Bruder?“

„Ja, Bruder is‘ wohl die beste Beschreibung, die dein mickriges Menschenhirn begreifen kann. Wo war ich stehengeblieben? Ach ja! Ich bin also jetzt für die Erfüllung der Gebete zuständig. Wir haben ein System aufgestellt, damit ich nich‘ mehr die Gebete von allen Wesen durchgehen muss.“

„Die E–Mails? Aber Gott sollte doch allwissend sein?“

„Nein, du Dümmerchen! Mein Bruder is‘ der Allwissende, ich bin nur Allmächtig. Deswegen is‘ er auch verschwunden, du weißt ja, Wissen macht einsam und so ein Quatsch. Er meinte, er wolle sich mit anderen Wesen beschäftigen.“ Nüwa schaute verträumt in die Luft. „Ich frage mich, ob er nochmal zurückkommt…“ Ihr Handy vibrierte währenddessen pausenlos auf dem Boden herum als wollte es der Tortur seiner Herrin entfliehen.

„Warum musst du überhaupt dein Handy aufladen? Kannst du es nicht einfach vollmachen?“

„Na klar, aber ich hab keine Lust mehr mich mit den Mails zu beschäftigen. Es ist vier Jahre her, dass ich ‘ne Pause gemacht habe.“

„Vier Jahre?! Wie lange machst du das jetzt?“

„Seit neun Jahren, dreihundertdreizehn Tagen, fünf Stunden, zweiundfünfzig Minuten…dreiundfünfzig Minuten. Ich sehe die genaue Zeit gerade vor mir, falls du dich wunderst.“ Nüwa drehte sich auf den Rücken und streckte ihre Arme zur rauchgeschwärzten Decke, die der Vormieter netterweise hinterlassen hatte und welcher der einzige Grund war, warum Siegfried sich die vergünstigte Wohnung leisten konnte. „Na los, Siegfried, erzähl was über dich, wir sind doch Freunde.“

Er stand auf und ging stumm zum Bad. „Was ist das für ein beknackter Traum?“ dachte er sich vor dem Spiegel und spritzte sich mehrmals Hände voll Wasser ins Gesicht. Er lächelte sein gegenüber an und ging dann wieder aus dem Bad. Nüwa hockte vor dem Kühlschrank mit dem letzten Stück Käse aus dem Mund hängend. Sie hatte sich durch den bereits vorher fast leeren Kühlschrank gekramt, und als Siegfried hinein schaute, waren nur noch leere Verpackungen übrig. „Du hast alles aufgegessen!“

„Da war ja sowieso nich‘ mehr viel über. Ich kann auch alles wieder zurück stellen, wenn‘e magst?“ und nahm das angebissene Stück Käse aus ihrem Mund und legte es auf eines der leeren Fächer.

Stille.

Nur das Knurren aus Siegfrieds Bauch unterbrach es. „Was isst du gern? Weil der Müll“, sie verwies auf die leeren Packungen, „wird es wohl nicht sein.“

„Spa–“, sofort erschien ein Teller Spaghetti Bolognese auf Nüwas Hand, „–rgel.“

„Spargel? Wie auch immer.“ Die Nudeln ersetzten sich zu Spargel mit Hollandaise Sauce. Er nahm sich den Teller und setzte sich wieder auf seinen Stuhl, als wäre es das normalste in der Welt gewesen, dass sich Spaghetti in Spargel verwandeln und die Spaghetti sich zuvor von selbst erschaffen hatten. „Reichst du mir mal das Besteck, erste Schublade links“, sagte er, als hätte er mehr als zwei Schubladen. Nüwa jedoch schmiss sich wieder aufs Sofa und ließ goldene Messer und Gabel auf dem Teller erscheinen. Siegfried schnitt sich ein Stück ab und kostete. „Das schmeckt wie echt.“

„Das is‘ echt, du Dümmerchen. Was bist du nur für ein Freund, der nich‘ an meine Fähigkeiten glaubt?“

„Es fällt mir nur schwer zu verstehen, dass du Gott bist, dass es überhaupt einen Gott, nein, sogar zwei Götter gibt.“

„Ich kann ja deine Gehirnstruktur verändern, damit du‘s endlich raffst.“

„Nüwa“, Siegfried schaute plötzlich als hätte er einen Elektroschock erhalten, „meine Freundin, wills‘e nich auch etwas haben?“ Er reichte ihr die Gabel, an dem noch ein Stück hing. „Ich fang am besten mit den heutigen Geschehnissen an, bevor ich dich traf. Ich wurde heute gekündigt, weil mich mein Freund verpfiffen hat, dass ich ab und an etwas Essen von der Arbeit nach Hause mitgenommen habe. Die Frau, die ich verehrt und geliebt habe, is‘ vor einigen Monaten ausgewandert und hat bereits einen neuen Mann kennengelernt. Und ich bin ein Versager, der nich‘ mal die Schule beendet hat und zu feige war, den Militärdienst abzuschließen. Ich dachte sogar schon daran, mich heute umzubringen. Nüwa, danke, dass du für mich da bist.“

„Ouh, ich bin doch gerne für dich da, du bist schließlich mein Lieblingsfreund, und mein einziger“, nuschelte sie die letzten Worte. Nüwa hatte, während Siegfried über sein schmähliches Schicksal erzählt hatte, den Teller Spargel von ihm genommen und selber aufgegessen. „War es das schon? Mehr ist dir nicht passiert? Langweilig“, und sie widmete sich wieder ihrem Handy, das sie an seiner Leine hochzog, nachdem sie den leeren Teller wieder Siegfried zurückgab.

„Nüwa, was gibt es nach dem Tod?“

„Woher soll ich das denn wissen, du Dümmerchen! Ich hab dir doch gesagt, dass ich nich‘ allwissend bin. Und überhaupt, selbst mein Bruder weiß es nich‘. Wir sind beide noch nie gestorben, ob du‘s glaubst oder nich‘.“

Siegfried forschte nicht weiter nach und bat um einen weiteren Teller von Nüwa. Sie verbrachten einen großen Teil des Abends schweigend, bis Siegfried schlafen gehen wollte. Nüwa ging aus seiner Wohnung, pausenlos auf ihrem Handy rumtippend. Nach einem kurzen Schock, weil er zu lange über das Treffen mit Nüwa nachgedacht hatte, fiel Siegfried in die Welt der Träume.

Des Vaters, der Tochter, und des ewigen Geistes

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