Читать книгу Des Vaters, der Tochter, und des ewigen Geistes - K.T. Rina - Страница 8
6
ОглавлениеNüwa hielt einen Umzugskarton auf ihrem Schoß und spickte ab und an hinein. „Unerwartet ruhig“, sagte Siegfried, der im Zug den Sitzplatz ihr gegenüber einnahm.
„Deswegen guck ich ja, du Dümmerchen! Wird schon schiefgehen.“
An der nächsten Haltestelle stieg eine größere Menge junger Leute an, die meisten ähnlich gestylt wie Nüwa. „Lea, die sieht genauso aus wie du in der Zehnten“, sagte ein Mann mit langen geglätteten schwarzen Haaren, der mit seinen Freunden gerade eingestiegen war.
„Manny, du hast Recht“, antwortete Leonora und ging zu Nüwa, „Hey, ich bin Leonora; kurz Lea. Du hast den absolut gleichen Style wie ich. Wow, sogar dein Gesicht sieht mir unheimlich ähnlich.“ Nüwa schaute die junge Frau genau an: Sie hatte eine ähnliche Frisur wie der Mann, trog dunkelstes violett auf ihren Lippen, einen schwarzen Mantel und drunter ein gotisch geprägtes, schwarzes Korsett. Dann blickte Nüwa fragend auf Siegfried, der aus dem Fenster blickte und versuchte, sich nicht mit Nüwa in Verbindung zu bringen, das Geschehen aber in der Reflektion im Fenster beobachtete. „Hier, schau mal!“ Leonora zeigte Nüwa ein Bild von ihr als Schulmädchen vor gut zehn Jahren. Tatsächlich sah sie aus wie die exakte Kopie von Nüwa, sogar die Kleidung stimmte bis auf den letzten gefärbten Knopf von ihrem Pullover überein, sodass Leonora bei der Realisierung kurz schauderte. „Das ist ein krasser Zufall, was? Wie heiß‘e eigentlich?“
„Nüwa.“
„Zumindest haben wir nich‘ noch denselben Namen, haha. Nüwa, wenn du auch nur ‘ne halb so beschissene Zeit hast wie ich damals in der Schule gehabt hatte: Kopf hoch, es wird besser.“
„Komm, Lea, wir müssen los“, sagte ihr Freund Manny und nahm sie bei der Hand. Die Fingernägel waren bei beiden schwarz lackiert.
„Mach‘s gut, Nüwa.“ Leonora ging mit dem Mann und der Menge, die zuvor eingestiegen war, wieder hinaus.
„Das war aber komisch. Ich hab das Bild auch gesehen. Wie kommt es, dass du genauso aussiehst wie sie damals?“ fragte Siegfried. Nicht aus Neugier, denn die Antwort glaubte er ohnehin zu wissen.
Nüwa spickte wieder in den Karton, bevor sie ihm antwortete: „Is‘ doch klar: Ich hab sie kopiert. Sie war die erste Person, die mir einen Wunsch äußerte, seitdem mein Bruder verschwunden war.“
„Und ihr habt euch erst jetzt getroffen? Das ist wohl der größere Zufall. So groß ist die Stadt ja doch nicht.“
„Ich bin auch nich‘ lange wieder hier, erst seit du mein Freund wurdest bin ich an einen Ort gebunden.“ Ein Miauen entkam vom Karton. „Und jetzt auch wegen Schrödinger.“
Schrödingers erste Tat war vollbracht. „Kannst du die Katze nicht sofort stubenrein machen?“ fragte Siegfried, der auf Knien Schrödingers Territoriums–Markierung wegwischte.
„Das wär doch kein Spaß. Als nächstes wolltes‘e noch, dass er mit uns spricht“, gab Nüwa ihm zu denken, während sie mit Schrödinger auf der Brust liegend in ihrer Fliegematte arbeitete.
„Hast du keine Angst, dass Schrödinger dir auf den Bauch pisst, oder gar kackt?“
„Oh, das hab ich ihm sofort verboten, ich bin doch kein Dümmerchen.“
Nüwa warf einen Käsekugelchip hoch in die Luft und sie fing ihn ohne sich selbst an die Flugbahn zu justieren immer perfekt mit dem Mund auf. Sie schauten den ersten Film auf Siegfrieds neuem Fernseher, den er mit seinem ersten Gehalt bezahlt hatte. Seine Priorität war es eigentlich, ein ordentliches Bett zu kaufen, aber Nüwa hatte interveniert. „Hey, Nüwa. Würdest du es mir anvertrauen: Was hatte sich die Frau im Zug vorhin von dir gewünscht?“
„Sie wollte als sich selbst glücklich sein.“
„Was ein schöner Wunsch…“
„…aber ich hab ihn ihr nich‘ erfüllt. Vermutlich nich‘ so, wie sie es wollte; du weißt ja, die Wünsche müssen präzise formuliert sein und so ‘nen Müll.“
Leonora schaute auf das Selfie von vor zehn Jahren. Sie erinnerte sich nicht, dass sie das Foto für die Wünscherfüllungs–Website genommen hatte und sie damit die E–Mail an Gott versendet hatte, die ihr tatsächlich einen Wunsch erfüllt hatte. Sie erinnerte sich auch nicht mehr an die folgenden Worte, die sie in ihrer Mail niederschrieb:
An Gott:
Hallo Gott/Göttin(?),
niemand versteht mich, und trotzdem hassen mich alle. Meine Freunde, wenn man sie überhaupt so nennen kann, diese Fotzen, stechen mir ständig in den Rücken. Erst gestern haben sie verraten, dass ich total auf Edward stehe und jetzt lachen mich alle aus, denn Edwards Freundin hat meine Nachrichten und meine intimen Fotos und Videos an ihn in der Schule verbreitet. Meine Eltern gaben mir Hausarrest, als sie erfuhren, was ich für Fotos von mir gemacht habe. Sie zeigen kein bisschen Mitgefühl für mich, sie wollen immer nur, dass ich wie Tea bin, ihre perfekte Tochter. Warum kann niemand verstehen, wie ich leide, dass mir alle Angst einjagen? Ich traue mich nicht wieder zur Schule, ich will nicht, dass mich jemand mit Verachtung ansehen kann.
Deswegen schreib ich dir meinen Wunsch: Ich wünsche, dass du mich einfach sterben lässt, glücklich als ich selbst.
Leonora Weinbrunnen
„Nüwa“, Siegfried kamen Tränen und er seufzte die nächsten Worte nur, „du hast jemanden damals das Leben gerettet. Ich bin stolz auf dich. Warum kannst du nicht immer nur solche guten Wünsche erfüllen?“
„Du musst verstehen, dass sie nich‘ hoffnungslos, sondern hoffnungsvoll war.“
„Was meinst du mit sie war hoffnungsvoll? Sie wollte ihr Leben beenden?“ fragte Siegfried verwirrt.
„Schau mal: Zu hoffen impliziert, dass man in einer verbesserungswürdigen Gegenwart lebt. Deshalb habe ich ihr das stärkste Gift genommen. Und überhaupt: Was für dich gut is‘, ist für den Nächsten schlecht. Und was für mich gut wär, das wäre nich‘ im Sinn von jemandem außer mir selbst. Und jetzt hab ich auch noch euch zwei. Des einen Leid is‘ des and‘ren Glück. Und meist beeinflusst der Zufall, wann es eintrifft.“ Schrödinger hatte (noch) keinen Schimmer von den Menschenlauten. Er imitierte lieber seine Leihmutter und leckte das käsige Pulver von ihren Fingerspitzen ab.