Читать книгу Des Vaters, der Tochter, und des ewigen Geistes - K.T. Rina - Страница 7

5

Оглавление

Siegfried arbeitete nun seit einigen Wochen fest angestellt in der Stadtbibliothek. Nüwa war mittlerweile ein Stammgast geworden, schließlich war sie immer mit Siegfried dort. Sie hatte bereits 90% der Bibliothekssammlung durchgelesen und erhielt von Siegfried stets als Erste die Neuerscheinungen.

„Willst du heute was mitnehmen?“ fragte er Nüwa nach Feierabend.

„Ne, heute nicht.“ Siegfried hatte sie in die Welt der E–Books eingeweiht und seitdem las sie die Bücher zuhause über ihrem Handy. Siegfried hatte einen Abend beobachtet, dass sie aufgehört hatte sich mit den Wünschen der Menschen zu beschäftigen und dass sie jeden Abend alle E–Mails, die sie erhalten hatte, ungelesen löschte. „Welchen Film schauen wir uns heut an, Siegi?“

„Ich hab dir doch gesagt, dass ich heute auf ein Rendezvous gehe.“

„Kann ich nicht mit?“

„Nein, du kannst nicht mitkommen.“

„Du bist gemein, Siegi“, sagte sie mit verschränkten Armen, geschlossenen Augen und ihrer weit ausgestreckten Zunge.

„Ich liebe chinesische Küche“, gestand sie und pickte mit der Gabel das Sushi vom Tablett. Ihre Stimme klang voller Fürsorge, als wenn man heiße Milch mit Honig vertont hätte. Sie war eine Frau mit dicken braunen Locken und einem dicken braunen Muttermal am Hals; eigentlich war so ziemlich alles im Gesicht der Frau etwas dick: Ihre Nase, ihre Lippen, ihre Brauen, ihre Wangen. Aber ihr Bauchumfang war genau das Gegenteil: Noch dünner und man hätte sie von der Seite nicht gesehen. Sie trug ein rötlich schimmerndes Cocktailkleid, mit ebenso roten Stilettos an den Füßen. Wie sie darauf laufen konnte, war nicht nur Siegfried ein Rätsel. Siegfried trug das gleiche Hemd wie zu seinem Date mit Sinéad. Wie Sinéad damals hatte er Cintia bei seinem lokalen Supermarkt getroffen. Auch er wunderte sich und hatte Nüwa gefragt, warum er ausgerechnet dort seine Bekanntschaften machte. Es wäre wohl, weil fast alle Bürger in den Supermarkt müssten: Ob dick, ob dünn, ob doof, ob schlau; die Armen kauften Essen ein, die Reichen und auch die Bediensteten der noch Reicheren. In Wirklichkeit war es so, dass Nüwa ein besserer Frauenmagnet als ein kleiner süßer Hund im Park war. Cintia kam auf ihn zu, nachdem sie sah wie fürsorglich er sich um seine verwaiste Nichte kümmerte. Cintia war nur zufällig in Siegfrieds Stammsupermarkt gewesen, weil sie zufällig dort in der Nähe war.

„Geht mir genauso“, antwortete ihr Siegfried und reichte dem Koch seine Schale Fleisch zum Grillen. Sie gingen wieder zu ihrem Tisch für zwei mit den brennenden Kerzen an der Seite, in einer ruhigen Ecke des Restaurants.

„Es ist schön, mal wieder so romantisch auszugehen. Danke, dass du mich hier hergebracht hast, Siegfried.“ Sie blickte ihn, fünfmal blinzelnd, völlig verträumt an, sodass es schien, Amor hätte sie mit einer Armbrust abgeschossen, wenn nicht gar einer Balliste.

„Das Kerzenlicht schmeichelt deinen jadegrünen Augen, Cintia.“

„Nenn mich Cinti.“ Sie blinzelte wieder etliche Male.

„Cinti, dann darfst du mich auch Siegi nennen.“ Ein Lächeln zog sich über Cintias rundes Gesicht, als auch Siegfried ihren eigenartigen Charme nicht wiederstehen konnte, und auch ihm ein Lächeln auswuchs. Der Ober brachte ihnen den acht Jahre alten Rotwein, der leicht trocken im Geschmack und doch fruchtig im Abgang war—zumindest war es so versprochen. „Auf uns!“ sagten sie und stießen an. Sie nahmen einen kleinen Schluck des Traubenblutes, der bereits auf der Zunge süßlich zerging und schließlich wie Feuer am Gaumen brannte. Aus reiner Höflichkeit und fehlendem Wissen sagten beide, es wäre „ein vorzüglicher Wein“.

Sie waren nun nach dem zweiten Teller mit dem Hauptgang fertig und sammelten die leckersten Sorten von Torte und Kuchen vom Buffet.

„Ich liebe Tiramisu“, gestand Cintia ihre Zuneigung zum italienischen Kaffeedessert. Siegfried sah sie an, doch ihr Mund schloss sich nicht, ihre Augen blinzelten nicht einmal, selbst ihre Locken schienen wie aus Wachs geschnitzt stillzustehen. Auch er konnte absolut nichts an sich bewegen. In seiner Momentaufnahme schien es, dass alles um ihn herum wie eingefroren still stand.

„Jo, Siegi“, flüsterte die Stimme Nüwas in sein Ohr.

„Nüwa? Was ist hier los? Warum kann ich mich nicht bewegen?“ tönte es telepathisch aus Siegfried an Nüwa.

„Ich wollt dich nich‘ stören, aber ich muss wissen, was dein Passwort is‘, deswegen hab ich die Zeit für uns eingefroren.“

„Hättest du dir nicht einen neuen Account kreieren können?“

„Ja, aber ich wusste nich‘ mehr, wie die Serie hieß, und noch weniger, wo wir stehen geblieben waren.“

„Ok, ok.“ Nachdem Siegfried ihr sein Passwort übermittelte(„fr13dCh3n89“)floss die Zeit wie gewohnt weiter.

„Was ist dein Lieblingskuchen, Siegi?“ fragte die wieder zu Leben gekommene Wachsfigur mit den für ihren Körper zu groß proportionierten Gesichtszügen. Siegfried war erst verwirrt und blickte paranoid hinter sich, wo Nüwas Stimme keine Femtosekunde vorher ihn ansprach. „Alles gut bei dir, Siegfried?“ Cintia schaute mit einem bedrückten Blick—dabei immer noch gefühlt hundertmal blinzelnd und damit sicherlich nicht mehr aus Wachs; sie dachte, sie hätte etwas Falsches gesagt und fühlte sich schuldig.

„Ja, alles gut, es hat sich nur angefühlt als hätte jemand mich angerempelt.“ Von ihren tausend Gründen für ihr Fehlverhalten erlöst, kam Cintias natürliches Lächeln wieder zurück, das Siegfried ein Gefühl der Geborgenheit und Liebe schenkte. Sie konzentrierte sich und blinzelte beim Zuhören nur dreimal. „Mein Lieblingskuchen ist wahrscheinlich der Käsekuchen. Meine Oma hatte ein grandioses Rezept, das sie leider mit ins Grab nahm.“ Wieder geplagt, dass sie vermeintlich eine falsche Vene getroffen hatte, blickte Cintia zum Boden; und ihr blinzelloser Blick verweilte auf dem Boden, als Siegfried nachfragen wollte, was denn ihre Lieblingsspeise war. Doch aus ihm brach kein Ton heraus; nirgends brach ein Ton heraus, denn nirgends gab es irgendeine Form von Bewegung.

„Es gibt ‘nen KÄSEKUCHEN?!“ brüllte diesmal Nüwas Stimme in Siegfrieds Kopf. „Warum hass‘e mir das nie verraten!?“

„Nüwa…der Kuchen ist nicht wirklich aus Käse.“

„Was? Warum dann…ihr Menschen seid doof.“ Obwohl er sie nicht sehen konnte, wusste er, dass sie ihm die Zunge rausstreckte. Mit einem Mal erklang das Streichquartett aus den Lautsprechern und das Geplapper der anderen Gäste wieder im Hintergrund, wie auch Cintias Blinzeln. Siegfried legte seine linke Hand auf die entblößte Stelle auf Cintias Rücken und geleitete sie wieder zum Platz.

Cintias emotionale Achterbahnfahrt hatte endlich ihr Ende genommen, als Siegfried den Abend mit ihr für wundervoll erklärte und sich bereits auf den Nächsten freute. Beide öffneten ihre Glückskekse und lasen sich ihre Wahrsagungen durch. Dann gaben sie es jeweils dem anderen zu lesen. „Du hast das Gleiche wie ich“, lachte Cintia.

„Die Natur kennt keine Montage. Was immer das heißen soll.“

Sie bezahlten die Rechnung getrennt. Nüwa musste noch bis zum nächsten Tag auf Siegfried warten.

Die Sonne spannte durch die Gardinen wie sie noch eine schnelle Nummer vor dem Frühstück schoben. Cintia war die erste, die sich zum Bad begab und bat Siegfried, einen Kaffee aufzukochen. Er hatte ihre Wohnung nachts nicht sehen können, aber er merkte nun wie ordentlich alles war: Nichts schien an einem falschen Platz zu liegen; selbst die Fernbedienung hatte ihr eigenes Podium neben dem Fernseher. Sie hatte am Abend neue Socken auf dem Boden neben dem Bett hingelegt, sodass sie morgens gar nicht erst suchen brauchte, denn sie hatte furchtbare Augen und trug immer Kontaktlinsen. In der Küche blitzte sogar das Spülbecken vom Sonnenlicht. Intuitiv öffnete er den Schrank, der den Kaffee hielt beim dritten Versuch. Während der Kaffee kochte, schaute er sich die Fotokollage an der Wand an: Es war, nach seinem Augenmaß zu urteilen und der Angabe in der unteren rechten Ecke war es eine 1,80 x 1,40 m² Karte Europas mit Fotos von Cintia und berühmten Sehenswürdigkeiten im Hintergrund auf die Länder gepinnt. Cintia hatte bei absolut allen Fotos dieselbe Pose: Die linke Hand auf der Hüfte und die Rechte auf Hüfthöhe machte ein „V“ mit Mittel– und Zeigefinger. Die komplette westliche Hälfte der Karte war bedeckt, und das geographische Europa hatte man nur an der lückenhaften östlichen Hälfte erkannt, wenn man es nicht an den menschenerschaffenen Sehenswürdigkeiten identifiziert hatte; darunter der Eifelturm, die Überreste der Berliner Mauer, das London Eye, der schiefe Turm von Pisa(auch dort stand sie nicht wie die anderen Touristen den Turm haltend, sondern mit ihrem Friedenszeichen)und weitere. Siegfried reiste kaum, und dann auch nicht weiter als seine Bundesländernachbarn; vielleicht würde es sich mit Cintia ändern, die sogar alleine wagemutig in andere Kulturen eingetaucht war, „gerne sogar“ wie sie ihm gestern erzählt hatte. Sein Magen begann die fünfte Symphonie zu spielen, da nahm er einen Apfel aus der brillant arrangierten Obstschale, biss tief hinein, legte den Plastikapfel wieder zurück, dass seine Zahnabdrücke versteckt blieben. Er nahm sich einen richtigen Apfel aus dem Kühlschrank, roch erst, biss dann hinein, dass der Apfel in seinem Mund hängen blieb, saugte an dem triefendem Saft und ging mit zwei Tassen Kaffee wieder zum Bett zurück.

„Jo, Siegi, wie war‘s?“ rief ihm Nüwa auf ihrer Hängematte zu. Sie hatte ihre Serie auf dem Handy pausiert.

„Traumhaft. Wir treffen uns in einigen Tagen wieder.“ Er roch nach Cintias Rosenduftshampoo und hinkte langsam auf sein Sofa zu. „Wollen wir was zu essen bestellen?“

„Da frags‘e noch?! Ich hab schon seit ‘nem Tag nix mehr gegessen!“

„Verspürst du überhaupt Hunger?“

„Jo aber Hallo! Dieser Körper is‘ eins zu eins wie deiner auch: Fragil in allen Belangen, mit ‘nem zerbrechlichen Herzen und ‘nem noch schwächeren Genick. Ich bin—im Gegensatz zu dir—in der Lage, den Körper immer wieder aufs Optimum zu stellen.“

Sie aßen zusammen selbstgeschobene Ofenpizza und Siegfried fragte Nüwa, wo sie bereits auf der Erde war, seitdem sie von ihrem Bruder getrennt war. Sie sagte, sie wäre irgendwo zufällig gelandet und ist seitdem durch die Gegend geirrt, ohne jegliches Ziel oder gar einen Plan. Sie schaute sich die Orte nicht an, denn sie war ständig beschäftigt, die Wünsche zu erfüllen. „Tatsächlich hab ich nie auf die Umwelt geachtet, bis du mich angesprochen hass‘. Mein ganzes Verhalten hat sich ändern müssen, weil ich deine Freundin bin.“

„Wenn ich so zurückblicke, scheint mir mein Wunsch ziemlich bizarr gewesen zu sein.“

„Dir gefielen jüngere Frauen, du warst ‘n Parthenophiler. Du dachtest, dass ich deine feste Freundin würde, aber da du nur gesagt has‘ Freundin, is‘ unsere Freundschaft nur platonisch. Mein Bruder hatte die Idee, Wünsche müssten mit äußerster Präzision formuliert werden, er könne nich‘ noch jeden einzeln interpretieren.“

„Hmm…ich hab aber überhaupt kein Interesse mehr an Mädchen wie dich.“

„Dein Wunsch hat auch dich verändert. Du has‘ kein Interesse, weil…kann ich dir nich‘ verraten. Und überhaupt wären sie ja doch nich‘ so klug und so schön wie ich.“ Sie schmiss mit der rechten Hand ihre weißen Haare über die Schulter und stopfte mit der anderen das mit Käse triefende Dreieck in den Mund.

„Das mit dem präzise formulieren erinnert mich daran, dass du mal gesagt hast, ihr wärt mal Dschinns gewesen.“

„Haha, ich kann dir eine Anekdote dazu erzählen. Jemand fand eine Zauberlampe, rieb daran und ein Dschinn kam heraus: »Du hast einen Wunsch frei! « sagte er.

»Ich wünsche, drei Wünsche zu haben! « Der Dschinn nickte willigend ein. Was für ein Schwachkopf, dachte sich der Mann, der den Dschinn beschwört hatte. Zwei Wünsche, und ich wünsche mir wieder drei Wünsche. Nein besser, tausendundeins. Obwohl, ich hab eine bessere Idee, und er verkündete: »Ich wünsche mir, der König der Welt zu sein. « Der Dschinn nickte und sie fanden sich in einem Palast mit allem Luxor, das einem König würdig war. »Ich wünsche mir die schönste Frau der Welt als meine Königin. « Und mit einem Mal tauchte eine Helena ohne „H“ auf, stellte sich zum neuen König und streichelte ihm küssend über die Haare, weil sie selber keine hatte. »Ich wünsche mir nun so viele Wünsche, wie es Sandkörner in der Wüste gibt. « Doch sein Wunsch blieb unbeantwortet, denn der Dschinn war bereits verschwunden.“

„Das ist wirklich passiert?

„Ja!“ Nüwa klatsche sich auf den Schenkel und lachte hysterisch.

Des Vaters, der Tochter, und des ewigen Geistes

Подняться наверх