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Kapitel 10

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Jo konnte zuerst gar nicht glauben, was dieser Quint da gesagt hatte. Anscheinend ging es ihm ebenso, denn wie sie war er sprachlos und starrte sie einfach nur an.

Sein Gesichtsausdruck veränderte sich.

War das Schock, Reue oder Selbstzweifel? Vielleicht alles auf einmal?

Es war ziemlich extrem, gleich auf jemanden zu schießen, ohne zu fragen …

Aber würde ich nicht auch sofort schießen, wenn mitten in der Nacht jemand in mein Schlafzimmer einbricht?

Woher kam denn dieser Gedanke auf einmal? – Und ja, vermutlich würde sie das. Schließlich hatte sie nicht ohne Grund eine Waffe unterm Kopfkissen.

Es gab eine Zeit in ihrem Leben, da hätte sie sich nicht vorstellen können, so zu reagieren. Und Quint war vielleicht auch nicht immer so gewesen, irgendwie spürte sie das.

War sie am Ende gar nicht so viel anders als Quint?

Misstraute sie nicht auch jedem Fremden?

Und enge Freude hatte sie sowieso nicht, durfte sie nicht haben, bei dem Geheimnis, das sie verbergen musste.

Der Schauer hörte so plötzlich auf, wie er begonnen hatte.

Quint streckte seine Hand nach ihrem Gesicht aus und entgegen jeder Vernunft wich sie nicht zurück.

„Bitte“, sagte er seltsam leise und wischte mit seinem Daumen verblüffend sanft ein paar Tropfen von ihrer Wange. „Bring nie, nie eine Wasserpistole mit oder ein Messer oder sonst irgendetwas, das aussieht wie eine Waffe – nie, hörst du?“

Ihr fiel auf, dass er sie jetzt duzte. Sie ließ ihn gewähren und würde es ihm gleichtun, weil das Gefühl sie beschlich, dass es Ausdruck eines Wandels war. Womöglich sah er jetzt nicht mehr einen anonymen Feind in ihr, den man auf Abstand hielt, sondern einen Menschen mit Persönlichkeit und Gefühlen.

Um die sonderbare Stimmung zu durchbrechen, steckte sie endlich ihre Pillen in den Mund und schluckte sie mit viel Wasser hinunter.

Zum Glück war der Rucksack, in dem sich ihre von einer gewissen Sarah netterweise getrocknete Kleidung befand, so gut wie wasserdicht.

Im Stehen zwang sie ihre Füße wieder in die immer noch feuchten Arbeitsschuhe und schwankte dabei. Quint hielt ihren Ellenbogen fest, sonst wäre sie wohl hingefallen.

Dieses Mal fühlten sich seine Hände nicht mehr wie Schraubzwingen an, sondern stark und dazu berufen, jemanden zu halten, zu beschützen und für ihn zu sorgen. Ihr sorgsam unterdrückter, aber unstillbarer Wunsch flammte auf, nicht mehr allein zu sein, sondern gehalten zu werden, beschützt zu werden vor den Kreaturen, die sie am meisten fürchtete.

Um ihr hoffnungsloses Wunschdenken zu beenden, fing sie an, Quint zu erklären, welche Arbeiten noch zu erledigen waren. Er hörte aufmerksam zu und wirkte zum ersten Mal nicht mehr wie eine Handgranate, die in ihrer Gegenwart jeden Augenblick explodieren könnte.

Vielleicht würde ihr Quint diesen Auftrag von nun an auch nicht mehr zur Hölle machen. Mit diesem Gedanken fuhr sie nach Hause.

Daheim angekommen, hätte sie gern die Blutspuren vor ihrem Haus genauer untersucht und auch ihren Sohn um seine Meinung gebeten, doch der heftige Regenschauer hatte jeden Hinweis fortgeschwemmt.

***

Während Quint schlammbeschmiert die Arbeit von Jo verrichtete, herrschte Chaos in seinem Kopf.

Die ganze Zeit grübelte er, wie hoch das Risiko war, das von Jo ausging, und wie groß die Gefahr war, die er selbst darstellte. Immerhin hatte sein Gespräch mit ihr gezeigt, dass er womöglich im Affekt einen Unschuldigen tötete.

Wenn er Jo nicht sehr genau im Auge behielt, wäre sie durchaus in der Lage, das Hauptquartier in die Luft zu sprengen. Alles, was dazu nötig wäre, ließ sich in ein paar Säcken Gartenerde verstecken. Andererseits bräuchte sie vermutlich nur aufmerksam alle Informationen über das Anwesen und seine Bewohner sammeln, um einem Blutfürsten entscheidende Details für einen erfolgreichen Angriff zu liefern … Aber vielleicht war Jo ja doch einfach nur eine Landschaftsgärtnerin, die ihren Job erledigte, und er würde sie bei der ersten, zweideutigen Aktion möglicherweise über den Haufen schießen …

Später, als er nach getaner Arbeit über den Flur zu seinem Quartier lief, war er immer noch nicht weiter: Er brauchte mehr Informationen, um Jo genauer einzuschätzen. Am besten er folgte ihr nach Feierabend. So könnte er herausfinden, was sie in ihrer Freizeit tat, und ihrem Zuhause noch mal einen Besuch abstatten. Die Fingerabdrücke hatte er ja noch und würde sie auf alle Fälle von Elia überprüfen lassen, davon brauchte Agnus ja nichts erfahren.

Als sein Anführer wie aus dem Nichts vor ihm stand, fühlte er sich regelrecht ertappt.

„Du siehst aus wie ein Schwein, dass sich gerade gesuhlt hat, Quint! Geh dich gefälligst waschen! Sogar Amalia beschwert sich bereits über dich und die sitzt mir schon genug im Nacken …“

Agnus hatte ihm auf dem Flur noch Druck gemacht, diesen Vampir zu finden, der seinen Opfern nicht das Gedächtnis löschte - wenn es denn ein Vampir war und nicht nur ein abgedrehter Mensch. Also konnte er Jo nicht auskundschaften, sondern musste den Rest der Nacht in die Stadt. Dort durchkämmte er mehrere Diskotheken und suchte die dunklen Gassen ab, in denen üblicherweise Drogen verkauft wurden.

Leider wirkten Vampire äußerlich wie normale Menschen und waren weder an ihrem Geruch, noch an ihren Augen zu erkennen. Aus diesem Grund glich diese Aufgabe der Suche nach der Stecknadel im Heuhaufen. Um weniger aufzufallen, kleidete er sich von oben bis unten in ein schwarzes Motorradoutfit inklusive Helm mit verspiegeltem Visier, unter dem er auch seine auffälligen Haare verbarg.

Er beobachtete viele junge Männer an diesem Abend und ein paar davon, die sich Liquid Ecstasy oder K.o.-Tropfen bei den Dealern besorgten hatten, folgte er sogar. Keinen erwischte er jedoch mit ausgefahrenen Fangzähnen oder wie er später aus der Kehle eines Menschen trank.

Kurz vor Sonnenaufgang absolvierte er noch eine letzte Runde um die bekannten, dunklen Ecken und landete doch noch einen Treffer.

In der Nähe einer beliebten Disco, draußen im Industriegebiet, stand ein junger Mann, der sich eine Kapuze über den Kopf gezogen hatte. In seinen Armen hielt er in beinahe romantischer Art eine blutjunge Frau, geradeso als wollte er sie küssen. Nur dass die Frau völlig benommen wirkte und die ausgefahrenen Fangzähne keinen Kuss verhießen.

Aber hatte er es hier auch mit dem Gesuchten zu tun?

Immerhin brauchten Vampire zum Überleben ja frisches Blut direkt aus der Quelle, da konserviertes Blut in Beuteln leider nicht funktionierte. Deswegen war seine Art nun einmal gezwungen, auf die Jagd zu gehen – wie sie es nannten – und das allein war nicht strafbar. Aber töten durften sie dabei nicht und die Erinnerung daran musste aus dem Gedächtnis der unfreiwilligen Spender gelöscht werden.

In Sekundenbruchteilen musterte er den Vampir.

Es handelte sich zweifelsohne um einen Jungen – das war ihr Begriff für Vampire unter fünfzig Jahren – und der vor ihm war vermutlich gerade erst um die Zwanzig. Die Art, wie der Vampir knurrte, zeigte auch, dass er extremen Hunger hatte, und in seiner Haltung gab es Anzeichen, dass ihn deswegen bereits Krämpfe quälten. Vermutlich befand sich der Junge gerade in der kritischen Wachstumsphase, die irgendwann zwischen fünfzehn und fünfundzwanzig Jahren stattfand. Eine Waffe konnte er an dem Vampir nicht erkennen und in Anbetracht des Alters ließ er seine Pistole und das Kampfmesser stecken.

Leider war es ihm unmöglich, das Gesicht des jungen Vampirs zu erkennen, geradeso als blicke er durch eine Milchglasscheibe. Aber er ließ sich davon nicht irritieren, denn ein paar wenige Vampire besaßen diese Gabe nun mal.

„Wir müssen uns unterhalten“, sagte Quint in unmissverständlichem Ton, wobei das geschlossene Visier seine Stimme verfremdete. „Aus welcher Familie stammst du? Wer ist dein Vater?“

In dieser heiklen Phase sollte der Vater den jungen Vampir unbedingt begleiten und ihm Hilfestellung geben.

Der Junge zuckte mit den Schultern und wirkte verblüfft. Hatte er es hier etwa mit einem Waisenkind zu tun?

„Ich bin ein Wächter. Weißt du überhaupt, was das ist?“

Ein verneinendes Kopfschütteln.

„Du darfst keine Menschen töten. Das ist dir doch klar, oder?“

Der Junge nickte.

Wenn dieser junge Vampir noch nie von den Wächtern gehört hatte, musste er eine Waise sein, anders war das nicht zu erklären. Jeder Vampirvater ermahnte seinen Sohn, dass ihn die Wächter holen würden, falls er jemals gegen die Gesetze verstieß. Das war die ultimative Drohung, mit der man ungezogenen Bengeln von klein auf einen gehörigen Schrecken einjagte.

Sollte der Hunger des jungen Vampirs übermächtig werden, könnte er die Kontrolle verlieren und zu viel Blut von einem Menschen trinken, sodass er ihn umbrachte. Den Jungen fehlte in der Regel noch die Selbstbeherrschung und Erfahrung, richtig damit umzugehen.

Ähnlich wie bei einem normalen Teenager, brauchte auch ein Vampir in der Wachstumsphase exorbitant viel Nahrung. Die Väter hatten dann immer alle Hände voll zu tun. Sie begleiteten ihre Söhne nachts in dieser Zeit, halfen ihnen und brachten ihnen bei, weder Bissspuren noch Erinnerungen zu hinterlassen. Die meisten Waisen verhungerten in dieser Phase oder begannen unter den äußerst schmerzhaften Krämpfen ihre Beute bis zum letzten Tropen auszusaugen, konnten dann sogar zu blutgierigen Bestien werden.

Gott sei Dank gab es selten Waisen, denn für Wächter war es tragisch, wenn sie wegen solcher vermeidbarer Umstände ein viel zu junges Leben beenden mussten.

Quint wollte gerade auf den Jungen zugehen, um ihm seine Hilfe anzubieten, da tauchten drei Gesetzlose mit ausgefahrenen Fangzähnen auf. Ihre gebeugte Angriffshaltung, die mörderischen Augen und der gierige Blick, mit dem sie die Frau ins Visier nahmen, verrieten sie. Man sah ihnen deutlich an, dass sie gleich wie eine Horde Hyänen über die junge Frau herfallen würden. Er musste etwas unternehmen, sonst würde es gleich ein blutiges Massaker geben.

Und dann tat der junge Vampir etwas sehr Bemerkenswertes: Er legte die Frau vorsichtig auf den Boden, stellte sich schützend vor sie und fauchte die nach Blut lechzenden Gesetzlosen mit ausgefahrenen Fangzähnen an.

Quint hätte beinahe gegrinst, denn das Fauchen des Jungen klang noch gar nicht abschreckend, sondern eher wie das eines verärgerten Kätzchens. Das müsste er ihm auch noch beibringen. Doch die Reaktion des Jungen verstärkte seine Hoffnung, ihn retten zu können, noch war es nicht zu spät. Allerdings würden diese drei hungrigen Mörder den jungen Vampir zerfleischen, wenn er sich weiter tapfer zwischen sie und ihre Aussicht auf frisches Blut stellte. Da die Sonne bald aufging, war diese Frau für die Gesetzlosen die letzte Möglichkeit, ihren Bluthunger zu stillen. Deshalb würden sie sie zu dritt auch restlos aussaugen, andernfalls müssten sie ihr quälendes Verlangen ja bis zum nächsten Sonnenuntergang aushalten. Und das war ein Merkmal der Gesetzlosen: diese Beherrschung wollten oder konnten sie nicht mehr aufbringen.

Quint pfiff ohrenbetäubend, um die Aufmerksamkeit des Trios von dem jungen Vampir abzulenken.

„Hey! Hier spielt die Musik!“, rief er ihnen zu und wies den Jungen an: „Verschwinde und bring die Frau in Sicherheit.“

Ungläubig sah der Junge von ihm zu den drei anderen.

Wie süß: Ein Kätzchen, das einem ausgewachsenen Raubtier – noch dazu einem Wächter – beistehen will.

„Keine Sorge, mit denen werd ich fertig. Und jetzt hau ab!“

Der Junge ließ sich das nicht zweimal sagen und verschwand mit der Frau in einer Geschwindigkeit, die er ihm gar nicht zugetraut hätte.

Als die drei dem Jungen folgen wollten, riss sich Quint den Helm herunter. Er zog sein Kampfmesser, denn Schüsse hätten hier zu viel Aufmerksamkeit erregt, und stürzte sich mit einem gewaltigen Sprung auf das mörderische Pack.

Dem Ersten schnitt er noch in der Luft den Hals bis zur Wirbelsäule durch, die beiden anderen riss er mit sich zu Boden.

Dass die beiden Gesetzlosen wie tollwütige Hunde ihre Fangzähne in seine Schulter und Brust schlugen, Fleisch und Muskeln aus ihm rissen, bewies, dass sie in einem Stadium waren, wo es kein Zurück mehr gab.

Unter heftigen Schmerzen trat Quint dem einen so kräftig gegen den Bauch, dass dieser ein paar Meter durch die Luft flog. Mit dem linken Arm gelang es ihm dann gerade noch, die Fangzähne des Verbliebenen zu blocken, die ihm sonst die Kehle aufgerissen hätten. Der Kiefer des Angreifers schloss sich stattdessen um seinen linken Unterarm und gleißender Schmerz jagte durch seinen Körper.

Nur das harte Training mit den wiederholten Übungsabläufen, das er in England absolviert hatte, half ihm, trotz der brutalen Schmerzen den Kampf effektiv weiterzuführen.

Während sich der Vampir unter ihm in seinen linken Arm verbiss, brachte Quint ihn unter sich und stieß ihm mit der rechten Hand sein Kampfmesser gezielt zwischen die Rippen ins Herz. Zur Sicherheit drehte er das Messer noch einmal herum. Bevor er es wieder herauszog, landete jedoch schon der weggeschleuderte Vampir auf seinem Rücken. Quints linker Arm war hoffnungslos im Kiefer des toten Vampirs gefangen und damit waren auch seine Abwehrbewegungen eingeschränkt.

Der Routine einer Kampfübung folgend, ließ er das Messer in seiner rechten Hand für den Bruchteil einer Sekunde los, um den Griff andersherum zu greifen. Jetzt war es ihm möglich, das Messer in einer fließenden Bewegung aus dem Herz des Vampirs unter ihm herauszuziehen und mit der Klinge voraus mit voller Wucht in den Schädel des Angreifers hinter ihm zu rammen.

Wie ein nasser Sack fiel der Vampir von ihm ab.

Er musste dem Toten unter ihm mit Gewalt den Kiefer aufbrechen, um seinen Arm zu befreien. Den Impuls, dabei vor Schmerz aufzubrüllen, unterdrückte er mit eiserner Beherrschung, denn sein Schrei hätte womöglich Menschen aufgeschreckt, die dann die Polizei riefen.

Der am Kopf Getroffene war nur bewusstlos und würde jeden Augenblick wieder zu sich kommen, also zögerte er keine Sekunde und gab auch ihm den Todesstoß ins Herz.

Dann saß er für ein paar Momente einfach nur blutüberströmt da, atmete heftig und wartete darauf, dass die höllischen Schmerzen erträglicher wurden.

Weil gleich die Sonne aufgehen würde, rief er Walter an, den einzig menschlichen Mann im Hauptquartier.

Als Walter kurz darauf mit dem Van kam, schüttelte der den Kopf.

„Scheiße, was haben die denn mit dir angestellt?“

„Sie haben mich angefressen, wie tollwütige Hunde. “

Gemeinsam sammelten sie erst die Leichen ein, und während Quint anschließend notgedrungen im hinteren, sonnengeschützten Teil des Vans wartete, beseitigte Walter alle Spuren des Kampfes.

Durch den hohen Blutverlust war bei Quint bereits wieder ein quälender Durst nach frischem Blut entstanden.

Walter hatte durch seine einstige Position in einer deutschen Spezialeinheit viel Erfahrung mit Krisensituationen und behielt zum einen immer den Überblick, zum anderen aber auch die Details im Auge.

Nach getaner Arbeit bot Walter sich ihm als Blutspender an, wofür ihm Quint sehr dankbar war.

Während er seinen Durst stillte, fragte er sich, ob der Junge seinen Hunger wohl auch hatte stillen können – ohne dabei zu töten – und ob er einen weiteren Tag überstehen würde.

Er musste ihn so schnell wie möglich finden, sonst wäre es zu spät.

Voller Misstrauen geliebt

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