Читать книгу Voller Misstrauen geliebt - Lara Greystone - Страница 14
Kapitel 12
ОглавлениеJo wirkte bereits angetrunken, aber damit er sie unbemerkt ausfragen konnte, wollte er zur Tarnung vorher ein wenig Small Talk halten. Als ihm nichts einfiel, obwohl er krampfhaft nach Sätzen suchte, wurde ihm bewusst, dass er den Umgang mit Menschen völlig verlernt hatte.
Ich muss mich unbedingt mal mit Susi treffen und mit ihr reden, um wieder ein Gefühl dafür zu bekommen.
Susi, die Löwenkönigin, erinnerte er sich und musste unwillkürlich schmunzeln. Auf allen vieren hatte er die kleine Susi als „Königin“ auf seinem Rücken getragen. Samuel und er hatten mit ausgefahrenen Fangzähnen Löwen für sie gespielt und das nicht nur einmal. Spielerisch hatte er sich mit seinem Bruder kämpfend auf dem Boden gewälzt und sie hatten sich köstlich dabei amüsiert.
„Das Lächeln steht dir, Quint. Jetzt siehst du nicht mehr so aus, als ob du mich jeden Moment um die Ecke bringst“, meinte Jo mit schwerer Zunge.
Er nippte nachdenklich an seinem Whisky.
„Komme wohl aus dem Kampfmodus nicht mehr raus.“
Jo trank den Rest ihres Glases in einem Zug aus und sagte: „Bodyguard – hm? Lass mich raten, du kommst nicht mehr aus deinem Kampfmodus heraus, seit dein Bruder tot ist? Siehst überall nur Bedrohungen.“
Abrupt drehte er sich zu ihr, fasste sie an den Schultern und rüttelte sie: „Woher weißt du das?!“
„Denkst du, ich hatte immer eine Pistole bei mir?“
Sie blickte vielsagend auf seine Hände, die ihre Schultern eisern umklammerten, und ihm wurde klar, dass er gerade für neue, blaue Flecke sorgte. Sofort ließ er sie los und schüttelte den Kopf.
„Sorry.“
„Wenn du nicht lernst, dich zu entspannen, wirst du paranoid und drehst irgendwann ganz durch.“
Ihre Aussage kam ihm wie ein Echo von Agnus’ Botschaft vor.
„Da könntest du recht haben“, murmelte er.
Und dann erschieße ich dich vielleicht.
Was ist nur aus mir geworden?
„Die Anspannung ist sicher auch Teil deines Jobs und damit überlebenswichtig, Quint. Aber du musst dir Orte und Menschen suchen, bei denen du loslassen kannst und runterkommst von deinem Alarmzustand.“
Jo bestellte den nächsten Drink, einen Comfort Manhatten, kein Longdrink mehr, sondern purer Southern Comfort mit Vermouth Dry auf Eis – und entsprechend hochprozentig.
Um seinem Ziel näher zu kommen und von sich selbst abzulenken, fragte er: „Seit wann, ähm … wie, ich meine …“
Scheiße, diesen Small Talk bekomme ich einfach nicht hin.
Jo hatte anscheinend Mitleid mit seinem Gestammel und begann: „Glaub mir, ich war auch nicht immer so. Ich hätte mir früher nie vorstellen können, eine schussbereite Pistole in der Handtasche zu haben und sie auch zu benutzen. Ich bin ganz behütet aufgewachsen, in einer heilen Welt. Meine Eltern haben mich geliebt. Ich habe Ballett getanzt, Klavier und Flöte gespielt, und als ich mein Studium anfing, schien die Welt mit blauem Himmel und Sonnenschein für mich offen zu stehen.“
Klavier, sie hatte also tatsächlich mal Klavier gespielt, so wie er sich das bei ihren Fingern vorgestellt hatte.
„Was ist passiert?“, fragte er, diesmal ehrlich interessiert.
„Das Leben – und es ist hart“, sagte sie zunächst lapidar und trank mit einem Schluck die Hälfte ihres Drinks.
„Aus heiterem Himmel verlor ich meinen Vater und meine Mutter am selben Tag. Ihre Körper wurden im Wrack ihres Autos zerquetscht. Ich musste sie identifizieren. Ihr Anblick – es war furchtbar.“
Unwillkürlich dachte Quint an den regelrecht zerfleischten Körper seines Bruders. Das hatte sein ganzes Leben verändert. Er konnte sich kaum vorstellen, was der Anblick ihrer entstellten Eltern mit Jo gemacht hatte.
„Der Fahrer eines Holztransporters hatte einen Herzanfall, geriet ins Schleudern und das Fahrzeug meiner Eltern wurde unter seiner Ladung großer Holzstämme begraben. Und der Einzige, der mich aufgefangen und mir wieder Lebensmut gegeben hat, wurde mir bald darauf auch genommen.“
„Wie?“
Sie trank das Glas in einem zweiten Zug aus.
„Darüber will ich nicht sprechen. – Wie ist dein Bruder gestorben?“
Darüber mochte er eigentlich auch nicht reden, doch er wollte das Gespräch am Laufen halten. Außerdem spürte er bei dem Gedanken an den Tod seines Bruders nicht nur einen unbezwingbaren Schmerz, sondern auch einen Druck, der drohte, ihn zur Explosion zu bringen und er brauchte ein Ventil.
„Er ist abgeschlachtet worden!“, stieß er viel zu heftig aus und bemühte sich daher, ruhiger weiterzusprechen. „Ich habe seinen blutüberströmten Körper in meinen Armen gehalten und mich und alle anderen dafür verflucht.“
„Du fühlst dich schuldig.“
Sie formulierte das nicht als Frage.
Woher wusste sie das?
Er starrte in sein Whiskyglas, ließ es aber los, als sich der erste Sprung unter seinem energischen Griff abzeichnete.
„Ich war damals kein Kämpfer wie heute, aber ich hätte ihn vielleicht retten können oder er wäre gar nicht erst in dieser Situation gewesen“, wenn ich nicht zu spät gekommen wäre – und zwar mit Absicht.
Das ahnte noch nicht mal seine Mutter, oder doch? Dieser Blick aus ihren verweinten Augen …
„Ein Schmerz, der nie vergeht“, murmelte Jo.
Sie drehte sich auf dem Barhocker zu ihm und legte ihre Hände auf seine Fäuste.
„Es tut mir leid, dass dein Bruder aus deinem Leben gerissen wurde.“
Die Sanftheit in ihrer Geste und ihrer Worte hatte er nicht verdient! Und sie kollidierten mit dem brennenden Zorn, der gerade wieder in ihm aufstieg und ihn in einem Inferno zu verzehren drohte. Er spürte, wie er die Kontrolle verlor.
Außerstande sich gegen diesen Prozess zu wehren, schaute er auf. Gleich würde er Jo Gemeinheiten entgegenschleudern, sie mit einem kräftigen Schlag von sich stoßen oder …
Als er jedoch direkt in ihre Augen blickte, leuchteten die goldenen Strahlen in ihren orangebraunen Iris wieder auf. Im selben Moment verschwand sein Zorn, wurde weggespült und ausgelöscht wie von einer großen, aber friedlichen Ozeanwelle.
Unwillkürlich atmete er tief aus. Die Anspannung, die er zuvor gar nicht wahrgenommen hatte, in seinen Kiefern, dem Nacken, den Schultern, ja, bis hinunter zu seinen verkrampfen Händen, löste sich auf.
Er bemerkte die Träne, die an Jos Wange herunterlief, und wischte sie mit seinem Daumen weg – in einer Sanftheit, zu der er vorher sicher nicht imstande gewesen wäre.
Diesmal schaute er nicht weg, aus Angst, sie würde ihn manipulieren, denn sie hatte ihn auf wundersame Weise gerade vom Abgrund weggerissen. Diesmal hielt er den Blickkontakt bewusst aufrecht, gestattete dieser geheimnisvollen Jo, ihn in ihren Bann zu ziehen. In ihre Augen zu sehen – die vergleichbar, aber weitaus schöner als der rotorange Hessonit aus Sri Lanka waren – schenkte ihm einen Frieden, von dem er jetzt erst wusste, wie sehr er ihn all die vielen Jahre vermisst hatte.
Lange Momente verstrichen.
„Wie machst du das nur, Jo? Ich seh in deine Augen und …“ Nein, das hörte sich vollkommen dämlich und unrealistisch an. „Ach, vergiss es.“
„Vielleicht …“, begann Jo, winkte dann aber auch ab. „Ja, vergessen wir das.“
***
Mehr schlecht als recht wankte Jo auf die Toilette und dachte währenddessen an den aggressiven Rottweiler aus ihrer Kindheit.
Der Hund hatte nach seiner Attacke auch in ihre Augen gesehen, war ganz zahm geworden, hatte gewinselt und ihre Wunde geleckt. Trotzdem hatte man das Tier später einschläfern müssen, weil er eine Gefahr für die Allgemeinheit darstellte. Hatte Quint etwas beschreiben wollen, das dem Verhalten des Hundes damals ähnelte? Nein, das wäre doch absurd! Wahrscheinlich hatte dieser Kerl mit seiner harten Schale nur auf seine Weise versucht, ihr etwas Nettes zu sagen.
Fand Quint sie womöglich sympathisch?
Seine Motorradjacke hatte er nicht neben sich selbst, sondern auf den freien Hocker neben ihr gelegt. Erst hatte sie gedacht, er wollte einfach keine Gesellschaft haben. Vielleicht war es aber seine Absicht gewesen, andere Männer von ihr fernzuhalten, um ungestört mit ihr zu reden, wobei er diesbezüglich etwas eingerostet schien.
Irgendwie gefiel ihr dieser Gedanke, und als sie zurück zu ihrem Barhocker ging, betrachtete sie Quint genauer.
Sein verhärtetes Gesicht schien weicher geworden zu sein und wirkte nun auf ansprechende Art männlich. Die Lippen waren nicht mehr zu grimmigen Strichen zusammengepresst, sondern einladend. Seine Augen sahen sie nicht mehr hasserfüllt an. Nein, ihr wunderschönes Rotbraun, vergleichbar mit edlem, roten Jaspis, strahlte nun Wärme aus. Die glänzenden, schwarzen Sprenkel darin betonten seine Wildheit, ebenso wie die unbändigen, feuerroten Locken.
Heute roch Quint auch sehr angenehm, mit einem Hauch Moschus und wilder Minze. Er trug ein graues Rippenshirt, das seine muskulöse Brust betonte, darüber ein offenes grün kariertes Flanellhemd mit hochgekrempelten Ärmeln, genau wie sie selbst diese Hemden meist trug. Eine dunkelblaue, abgewetzte Jeans und dunkelbraune Caterpillar Boots ergänzten sein Outfit.
Insgesamt wirkte Quint fast wie ein kanadischer Holzfäller aus dem 18. Jahrhundert, es fehlte nur eine überdimensionierte Axt über seiner Schulter.
„Du siehst mich an, als wolltest du einen Steckbrief von mir erstellen“, meinte Quint und runzelte auf einmal die Stirn.
Sie streckte ihren Arm aus, berührte mit den Fingern seine Stirn und hätte schwören können, dass er beinahe ihre Hand gepackt und sie daran gehindert hätte.
„Tu das nicht, Quint. Die Falten auf deiner Stirn lassen dich brutal wirken.“
Sie hörte, wie träge ihre Zunge geworden war, und auch ihr Barhocker fühlte sich immer wackliger an. Das Ziel des heutigen Abends hatte sie demnach fast erreicht.
Ihr ausgestreckter Arm brachte sie aus dem Gleichgewicht. Zum Glück hatte Quint seine Hand so schnell an ihrem Oberarm, dass ihr die Bekanntschaft mit dem Boden erspart blieb.
„Das war knapp“, murmelte sie und rief dann dem Barmann zu: „Einen letzten! Egal was, aber mit richtig viel Umdrehungen, wenn ich bitten darf.“
„Du hast mir immer noch nicht verraten, warum du eine Pistole bei dir trägst.“
Sie starrte fasziniert auf seine Lippen und fühlte sich fast betrunken genug, um etwas zu wagen.
„Hier, ein doppelter Daiquiri“, sagte der Barmann und stellte das Glas vor ihr ab.
Da war weißer Rum drin, und nicht zu knapp, danach hätte sie genug Mut. Sie trank das Zeug ohne das Glas einmal abzusetzen, hustete kräftig und keuchte dann: „Wenn du mich küsst, verrate ich’s dir.“
Er gab ihr einen flüchtigen Kuss auf die Wange und streifte dabei mit seinen Fingern ihre Haare. In Jo wurde der unvernünftige Wunsch übermächtig, er würde seine Hände in ihre Haare vergraben, während er sie …
„Das war kein richtiger Kuss. Dafür verrate ich dir noch nicht mal, dass mir deine Locken wahnsinnig gut gefallen.“
Sein Mundwinkel hatte sich zu einem kleinen Lächeln verzogen. Das ermutigte sie, ihre Hand auszustrecken und dem Drang nachzugeben, mit ihren Fingern durch seine Locken zu fahren. Es war leider nicht das gleiche Gefühl wie vor über zwanzig Jahren mit dem einzigen Geliebten, den sie je gehabt hatte, aber es tröstete sie – für einen viel zu kurzen Moment, denn ihr Hocker kippte um.
Quint fing sie auf und sie fand sich schließlich auf seinem Schoß wieder, ein Bein rechts von ihm und eines links.
„Der Hocker hat schon die ganze Zeit gewackelt“, entschuldigte sie sich und wurde dafür mit einem Lächeln belohnt.
Weil ihr schwindelig wurde, hielt sie sich mit einer Hand an seinem beeindruckenden Bizeps fest. Er war so stark, konnte so unnachgiebig hart sein, war mit Messern und Feuerwaffen vertraut.
„Vielleicht wärst du genau der Richtige, um mich und unser Geheimnis zu beschützen“, dachte sie und merkte zu spät, dass sie es laut ausgesprochen hatte. Erschrocken legte sie ihre Hand auf den Mund.
„Vor wem soll ich dich beschützen? Und welches Geheimnis meinst du?“
„Ich muss gehen“, presste sie hervor.
Ich muss gehen, bevor ich uns verrate!