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Als Leila Andersson und Casper Munk im Polizeipräsidium im Stockholmer Stadtteil Kungsholmen ankamen, saßen die alten Kollegen und die neue Mitarbeiterin bereits im Besprechungsraum: der bodenständige Hauptkommissar Halldor Selander, der ausgeglichene Kriminaltechniker Jari Huskonen, der lässige Per Henrik Grip – und Kajsa Tapper. Munk nickte ihr freundlich zu und setzte sich auf seinen Platz neben Selander, den Leiter der Mordkommission.

„Schön, dass du wieder da bist, Casper“, sagte Selander. „Ich hoffe, du hattest einen erholsamen Urlaub und kannst uns jetzt wieder deine volle Arbeitskraft widmen.“

Selander redete so. Förmlich. Ironiefrei. Munk hatte sich damit abgefunden. Er mochte ihn trotzdem, vielleicht gerade wegen seiner Ernsthaftigkeit.

„Das ist Kajsa Tapper“, sagte Selander in Munks Gedanken hinein. „Sie war bisher beim mobilen Einsatzkommando, ich muss euch ja nicht erklären, was sie dort gemacht hat.“

Die Polizisten schüttelten den Kopf. Beim mobilen Einsatzkommando ging es um verdeckte Observierungen und Zugriffe „in besonderen Bedrohungslagen“, wie es so schön hieß.

Kajsa Tapper stand auf, um ein paar Worte an die neuen Kollegen zu richten. Munk musterte sie. Kajsa war etwa 1,85 Meter groß, also unwesentlich kleiner als er selbst. Sie war sehr gut trainiert. Munk bemerkte, wie Grip Kajsa musterte. Grip, der seit längerer Zeit Single war, hatte Munk kürzlich gesagt, er sei mittlerweile schon erregt, wenn er von Weitem das Klappern von Stöckelschuhen höre.

„Ich freue mich, hier zu sein“, sagte Kajsa, „und ich werde mein Bestes geben.“

Dann ging sie reihum, gab jedem die Hand und blickte den Kollegen dabei in die Augen. Anschließend setzte sie sich wieder auf ihren Platz. Eine sympathische Vorstellung, dachte Munk. Sie schwätzt nicht. Und sie ist offen.

„Zum Fall Rune Katt“, sagte Selander. „Ich fasse für Casper mal zusammen, was wir haben: Katt wurde vor drei Tagen tot vor seinem Ferienhaus bei Grisslehamn gefunden. Der Nachbar hat ihn dort entdeckt. Er rief sofort die Polizei. Wir sind nach Grisslehamn gefahren und fanden Katt auf dem Boden vor seiner Hütte – mit einem Loch in der Stirn. Jemand hat ihn einfach über den Haufen geschossen. Er wurde nicht gequält, jedenfalls nicht physisch, es war einfach ein Schuss in den Kopf. Fertig.“

Warum so … so einfallslos, dachte Munk. Mörder töten doch oft und hinterlassen Symbole. Weil sie den Polizisten oder der ganzen Welt etwas sagen wollen. Munk hatte wenigstens erwartet, dass man den ehemaligen Torwart mit zwei angespitzten Stollen an die Querlatte eines Tores nageln würde. Oder dass man ihm zwei Torwarthandschuhe in den Mund stopfen würde, bis er erstickte. Oder dass …

„Der Todeszeitpunkt war zwischen 15 und 17 Uhr“, fuhr Selander fort.

„Irgendwelche Spuren?“, fragte Munk.

Der Hauptkommissar schüttelte den Kopf.

„Keine Waffe, kein Fußabdruck, kein verdächtiger Finger­abdruck, nichts“, sagte er, „aber …“

Selander rieb sich die Nasenwurzel, als hätte er Kopfschmerzen.

„Aber was?“, fragte Munk.

„Die Kugel, die Rune Katt getötet hat, war angemalt“, sagte Selander.

„Ich rate mal“, sagte Munk. „Der Ex-Torwart wurde mit einer Kugel getötet, auf die der Täter weiße und schwarze Rautenmuster gemalt hatte – Muster, wie man sie von den alten Fußbällen kennt.“

„Ich würde gerne ernsthaft über den Fall reden“, sagte Selander trocken. „Nein, sie hatte kein Rautenmuster, sondern eher Streifen. Und sie wurde nicht schwarz und weiß angemalt, sondern sehr bunt. In den Regenbogenfarben.“

„Rot, orange, gelb, blau, grün, violett – die Farben der Homosexuellen“, sagte Grip. „Wir haben deshalb schon mal recherchiert, ob Katt vielleicht schwul war, sich aber nie geoutet hat. Seine Ex-Frau, die Tochter und seine Freunde haben dies verneint.“

„Und seine Freundin?“, fragte Munk.

„Sie lebt in Lappland, wir haben sie noch nicht erreicht“, sagte Selander. „Außerdem hatten sie sich vor einiger Zeit getrennt.“

„Zeig mal bitte die Kugel“, sagte Munk zum Kriminaltechniker Jari Huskonen.

Huskonen schob die Kugel, die in einer Klarsichthülle steckte, hinüber zu Munk.

Munk sah sich die Kugel kurz an. Ärger stieg in ihm hoch.

„Da sind zwar Regenbogenfarben drauf“, sagte er, „aber nicht so viele wie bei der Flagge der Homosexuellen, sondern nur rot, grün, gelb und blau.“ Dann äußerte er seine Vermutung: „Das sind die Farben der Sami!“

„Die Farben der Sami?“, riefen Leila, Kajsa, Grip und Huskonen. Sie schauten Selander an. Der schwieg betreten.

Die Sami waren die Ureinwohner im Norden Skandinaviens. Sie wohnten vorwiegend in Lappland und wurden deshalb auch manchmal Lappen genannt. Rot stand für das Feuer, grün für die Natur, gelb für die Sonne und blau für das Wasser.

„Habt ihr die Kugel nicht genau angeschaut oder kennt ihr die Farben der Sami nicht?“, fragte Munk streng.

Alle schwiegen.

„Es war meine Schuld“, sagte Selander schließlich. „Ich hatte mich auf die Homosexuellen festgelegt und das felsenfest vertreten – ich weiß gar nicht, ob sich die anderen die Kugel so genau angeschaut haben.“

„Du aber offenbar auch nicht“, sagte Munk. „Du kennst doch die Farben der Sami.“

Selander gehörte zu den Menschen, die sich als Bildungsbürger sahen und sich darauf etwas einbildeten. Er war belesen, er hatte zusammen mit seiner Frau ein Abonnement für die Oper und er las die Zeitung so intensiv, dass er zu jedem politischen Thema eine Meinung hatte. Natürlich kannte Selander die Farben der Sami. War er überarbeitet? Er blickte zu Boden.

„Was ist los mit dir, Halldor?“, fragte Munk. Diesmal war keine Schärfe in seiner Stimme, sondern Sorge.

„Entschuldigt mich bitte“, sagte der Hauptkommissar und verließ das Besprechungszimmer.

Die Polizisten sahen sich fragend an.

„So ist er schon seit ein paar Wochen“, sagte Grip zu Munk. „Aber er sagt nicht, was mit ihm los ist.“

„Ich weiß es auch nicht“, sagte Huskonen, auf den nun alle Blicke gerichtet waren. Huskonen war in etwa gleich alt wie Selander, also über 60, und hatte zu ihm das engste Verhältnis.

„Er blockt ab“, sagte Huskonen.

Munk stand auf und lief hinter Selander her. Er traf ihn in seinem Büro an. Selander blickte aus dem Fenster.

„Halldor“, sagte Munk.

Der Hauptkommissar reagierte nicht.

„Halldor, bist du krank?“

Selander drehte sich langsam um, er hatte Tränen in den Augen. Munk hatte Selander noch nie weinen sehen. Er wusste nicht, wie er damit umgehen sollte. Ihn in den Arm nehmen? Undenkbar. Sie kannten sich lange, sie schätzten sich, sie mochten sich, aber es war immer eine Distanz zwischen ihnen geblieben.

„Meine Frau ist sehr krank“, sagte Selander tonlos. „Sie hat Krebs, sie wird nur noch ein paar Monate leben, wenn überhaupt.“

Selander war seit mehr als 40 Jahren verheiratet. Ulrika war seine Jugendliebe. Munk ging ein paar Schritte auf Selander zu, der mit hängenden Schultern am Fenster stand. Munk legte ihm die Hand auf die Schulter. Selander schloss die Augen. Beide schwiegen. Nach einigen Augenblicken löste sich der Hauptkommissar.

„Ich werde hier aufhören und die letzten Monate mit meiner Frau verbringen“, sagte Selander fest. „Du musst jetzt die Mordkommission leiten, Casper. Übergangs­weise oder für immer. Ich weiß nicht, ob ich zurückkommen werde.“

Munk stand schweigend da. Er wusste, dass es keine Worte gab, die Selander trösten konnten, was die Krankheit seiner Frau anging. Aber er wusste, welche Worte Selander helfen würden, was die Mordkommission betraf.

„Ich werde dich vertreten, Halldor – so lange, bis du wieder bei uns bist. Jeder von uns will, dass du wieder zurückkommst.“

Selander machte ein paar Schritte auf die Tür zu. Er nahm die Klinke in die Hand und sagte: „Danke, Casper! Jetzt kann ich zu Ström gehen und ihn über die neue Lage unterrichten.“

Lasse Bosse Ström war der Polizeipräsident.

Munk blieb in Selanders Zimmer zurück. Er blickte aus dem Fenster, so wie Selander vor einigen Minuten aus dem Fenster geblickt hatte. Halldors Frau wird sterben, dachte er. Hätte er, Munk, fragen sollen, welchen Krebs sie hatte?

Ob es wirklich keine Hoffnung gab? Ob er irgendwie helfen konnte? Nein, wenn es Hoffnung geben würde, hätte Selander das gesagt. Es war so, wie er es gesagt hatte. Selander beschönigte nicht und er übertrieb nicht. Munk mochte das an ihm.

Und Selander helfen? Er half ihm, indem er seinen Job übernahm. Einen Job, den Munk nie haben wollte. Er war kein Chef, er wollte weder Mitarbeiter führen noch Verwaltungs­kram erledigen noch mit Vorgesetzten verhandeln. Er war ein Ermittler, manchmal ein eigen­sinniger, aber doch ein erfolgreicher. Er war ein guter Polizist, aber konnte er ein guter Chef sein?

Er ging zurück ins Besprechungszimmer, wo Leila Andersson, Kajsa Tapper, Per Henrik Grip und Jari Huskonen noch immer um den Tisch herumsaßen. Leila und Kajsa sprachen über den Fall, Huskonen redete mit Grip über Selander.

„Was ist mit ihm?“, fragte Huskonen, als Munk den Raum betrat.

Sollte er die Kollegen einweihen? Nein, das musste Selander selbst tun. Er würde sicher zu ihnen kommen, sobald er mit dem Polizeipräsidenten gesprochen hatte.

„Halldor hat ein sehr, sehr großes Problem“, sagte Munk. „Aber er wird es euch sicher gleich selbst sagen.“

Keiner sagte etwas. Aber allen war anzumerken, dass sie sich sehr, sehr große Sorgen machten wegen dieses sehr, sehr großen Problems. Selander war beliebt.

„Wir verteilen die Aufgaben“, sagte Munk schließlich.

„Wir haben bereits mit der Ex-Frau, der Tochter und Freunden geredet, wobei nichts herausgekommen ist“, sagte Leila. „Aber wir sollten jetzt dringend mit Katts letzter Lebensgefährtin sprechen – sie ist Sami. Und wenn die Kugel die Farben der Sami hat …“

„Hast du den Namen und die Anschrift der Frau?“, fragte Munk.

„Yep.“

„Wir fliegen morgen früh hin“, sagte Munk. „Die anderen machen hier mit Befragungen weiter – Nachbarn, frühere Mitspieler, Bekannte. Und geht ins Archiv, da findet man viele Artikel über Rune Katt. Vielleicht gibt es etwas in seiner Vergangenheit.“

Die Kollegen standen auf und verließen den Raum. Nur Jari Huskonen, der alte Kriminaltechniker, blieb sitzen.

„Halldor ist krank, oder?“, fragte er, als nur noch er und Munk im Besprechungszimmer waren. Munk über­legte einen Moment. Wäre es ein Vertrauensbruch, wenn er Huskonen von der Krankheit der Frau erzählen würde? Selander und Huskonen kannten sich seit bald 40 ­Jahren, sie hatten fast gleichzeitig bei der Polizei angefangen, sie waren bekannte Sportler gewesen, Sprinter der eine, Dreispringer der andere. Sie standen sich zwar nicht so nahe, dass Selander Huskonen von der Krankheit seiner Frau erzählt hatte. Aber sie mochten sich. Beide waren schwedische Männer vom alten Schlag. Schweigsam, ernsthaft, zuverlässig, politisch korrekt. Selander war ehrgeiziger als Huskonen, und deshalb war er Leiter der Mord­kommission geworden. Huskonen war zufrieden mit dem, was er hatte.

„Halldors Frau hat Krebs“, sagte Munk. „Sie wird nicht mehr lange leben.“

Huskonen blickte zu Boden. Er sagte nichts. Dann stand er auf, legte Munk die Hand auf die Schulter und verließ den Raum. Munk, der gestanden hatte, setzte sich. Er spürte plötzlich einen Schmerz über das, was er gerade erlebt hatte, und er spürte die Verantwortung, die auf ihn zukommen würde. Er musste ein Team leiten. Entscheidungen für alle treffen. Da war es nicht gut, sprunghaft zu sein. Aber Casper Munk war sprunghaft.

Opfer ohne Gewissen

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