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Die Fahrt von Luleå nach Jokkmokk war schön, aber beschwerlich. Leila und Munk fuhren durch eine verschneite Landschaft, der Schnee am Straßenrand war so hoch wie eine Hundehütte. Aber es war auch glatt. Zwischen Gammelstad-Nederluleå und Boden zogen sie einen alten Mann, der mit seinem rostigen Volvo in einen Graben gerutscht war, auf die Straße zurück. Der alte Mann sagte weder „Guten Tag“ noch „Danke“, sondern fuhr einfach wortlos weiter. Munk wollte sich aufregen, aber Leila sagte nur: „So sind die Nordschweden, sie meinen das nicht so.“

Danach gab es keine Zwischenfälle mehr, sah man davon ab, dass insgesamt acht Rentiere die Fahrbahn querten.

„Wo treffen wir Sanna Bak?“, fragte Leila, als sie sich Jokkmokk näherten.

„Direkt auf dem Markt in Jokkmokk – sie hat da einen Stand, an dem man warme Winterstiefel kaufen kann.“

Leila blickte aufs Armaturenbrett. Es zeigte minus 33 Grad an.

„Können wir gebrauchen“, sagte sie.

Leila stellte das Auto vor dem Haus ab, in dem sie zwei Zimmer für eine Nacht gemietet hatten. Während des Sami-Marktes in Jokkmokk waren alle Hotels ausgebucht, viele Einheimische im Ort und in der Umgebung verdienten sich deshalb etwas dazu, indem sie privat an Gäste und Händler vermieteten.

Leila und Munk waren bei der Familie Jönsson untergebracht. Eva Jönsson stand schon in der Tür, als Leila den Mietwagen parkte. Sie hatte die beiden Polizisten wohl durchs Fenster kommen sehen. Frau Jönsson war eine kräftige Frau von etwa 60 Jahren; ihre Wangen glühten dunkelrot, als sie Leila und Munk begrüßte.

„Zwei Polizisten in unserem Haus“, rief sie und breitete die Arme aus, als sich Leila und Munk dem Haus näherten.

Munk hielt sich den Zeigefinger an die Lippen.

„Nicht so laut“, sagte er.

„Eine geheime Mission?“, fragte Eva Jönsson. Sie sprach jetzt ebenso leise wie Munk. Ihr schien die Vorstellung zu gefallen, Teil einer verdeckten Ermittlung zu sein.

„Nein“, erwiderte Munk. „Aber Sie rufen ja auch nicht ‚zwei Elektriker in unserem Haus‘, wenn zwei Elektriker zu Ihnen kommen.“

Die Frau schien Munk nicht zu verstehen.

„Aber Sie sind doch Polizisten, oder?“, fragte sie. Sie sprach jetzt wieder lauter.

Munk hasste dumme Menschen. Und er hasste laute Menschen. Frau Jönsson war offenbar beides.

„Ich dachte, Nordschweden sind schweigsam“, sagte Munk.

Aber auch diese Spitze kapierte sie nicht.

„Ja, langweilig, nicht?“, sagte sie. „Wie gut, dass ich anders bin. Mein Mann sagt das auch immer. Er selbst ist eher schweigsam.“

„Ist Ihr Mann zu Hause?“, fragte Munk, der sich jetzt gerne mit einem schweigsamen Nordschweden unterhalten hätte.

„Ja, er sitzt in der Küche“, sagte Eva Jönsson.

„Kann er uns die Zimmer zeigen?“, fragte Munk.

Diesmal schaute die Frau nicht irritiert, sondern amüsiert.

„Ich mache das“, sagte sie.

Wortlos führte Eva Jönsson die beiden Polizisten in deren Zimmer. Munk glaubte, sie sei beleidigt, weil sie nichts mehr sagte. Aber warum lächelte sie jetzt permanent? Es verunsicherte ihn.

Nun war es Munk, der zu sprechen begann.

„Ist Ihr Mann noch berufstätig?“, fragte er, als er alleine mit Frau Jönsson in einem kleinen, aber geschmackvoll eingerichteten Gästezimmer stand. Leila packte im Nebenzimmer ihre Sachen aus.

„Nein“, sagte Eva Jönsson knapp.

„Was hat er denn früher gemacht?“

„Er war Paläontologe.“

Munk wunderte sich, dass Frau Jönsson das Wort fehler­frei aussprechen konnte. Und dass sie mit einem ehemaligen Paläontologen verheiratet war.

„Paläontologe mit dem Schwerpunkt Mammut­forschung“, sagte sie.

„Aha.“

„Er war ein anerkannter Wissenschaftler.“

Und sie? War sie eine anerkannte Gerüchte­vermittlerin, die Nummer eins als Tratschtante?

„Ich selbst, falls es Sie interessiert“, sagte sie in Munks Gedanken hinein, „hatte einen Lehrstuhl für Philosophie an der Uni in Lund.“

Dann drehte sie sich um und verließ den Raum. Munk blieb mit offenem Mund zurück.

Dann verließ er den Raum und klopfte heftig an Leilas Zimmertür. Leila öffnete.

„Ich brauche dein Smartphone, schnell“, sagte Munk.

„Der Empfang ist hier nicht optimal“, sagte sie und reichte ihm das Gerät. „aber es geht. Ich lese gerade ein paar Infos zum Abschlusstraining des FC Liverpool …“

Es war offenkundig ein Scherz. Aber Munk ging nicht darauf ein.

„Gib es mir bitte“, sagte er ungeduldig.

Leila lächelte.

„Der Herr Technikverweigerer hätte jetzt doch gerne ein Smartphone“, sagte sie. „Warum denn?“

„Ich brauche es halt.“

„Du kriegst es nur, wenn du mir sagst, warum du es brauchst.“

„Ich will nachsehen, ob Frau Jönsson früher einen Lehrstuhl für Philosophie an der Universität in Lund hatte.“

Leila hatte Munk zugehört, aber sie brauchte einen Moment, bis sie die Worte verstanden hatte. Dann lachte sie laut.

„Wie kommst du denn darauf?“, fragte sie.

„Sie hat es mir gesagt.“

Leila lachte wieder. Dann hielt sie Munk das Smartphone hin.

„1000 Kronen, dass das nicht stimmt“, sagte sie.

Munk überlegte. 1000 Kronen waren nicht wenig. Und Leila hatte ja recht: Ein Philosophie-Lehrstuhl passte zu diesem Trampel wie der Friedensnobelpreis zu Assad. Aber hatte sie wirklich so einen Humor, dass sie ihn veralbert hatte?

„1000 Kronen dagegen“, sagte Munk.

Die beiden gaben sich die Hand.

„Wie geht das?“, fragte Munk und blickte auf das Smartphone.

„Wie geht was?“

„Wie kommt man damit ins Internet?“

„Gib her“, sagte Leila.

„Aber nicht schummeln.“

Leila wischte auf ihrem Smartphone herum. Nach wenigen Sekunden verdüsterte sich ihre Miene.

„Du hast recht“, sagte sie.

„Was?“

„Ich meine, sie hat recht – sie war Philosophie-­Professorin in Lund. Hier, guck mal.“

Munk schaute auf das Display. Eva Jönsson hatte sogar einen Wikipedia-Eintrag. „Anhängerin von Schopenhauer“, las er da, „später beeinflusst von Kierkegaard und Wright, dessen politische Ansichten sie jedoch nicht teilt.“

Munk las weiter: „Emeritiert im Jahr 2017, danach Umzug nach Lappland, wo sie gemäß ihrem Credo Ruhe ist Frieden, aber Streit ist noch lange kein Krieg leben kann.“

Die beiden sahen sich an. Dann lachten sie.

„Und warum spielt sie einen Trampel?“, fragte Leila.

„Weil es mir Spaß macht.“

Leila und Munk hatten nicht bemerkt, dass Eva Jönsson ins Zimmer gekommen war.

„Oh, verzeihen Sie“, sagte Munk.

„Kein Problem“, erwiderte Eva Jönsson. „Es ist ein Spiel für mich – ich möchte wissen, wie die Menschen auf einen Trampel reagieren. Fast alle verachten mich nach wenigen Sekunden. Sie haben es auch getan, Herr Munk.“

„Sie haben recht“, sagte Munk etwas verlegen. „Und was machen Sie mit dieser Erkenntnis?“

Eva Jönsson schwieg einen Moment. Sie schien nach Worten zu suchen.

„Ist es so etwas wie ein Hobby?“, fragte Munk. „­Trampel spielen. Andere spielen Schach. Wenn Sie Schach spielen würden, wären die Bauern Ihre Lieblingsfiguren, oder?“

Er lachte. Munk war nicht mehr verlegen. Er wollte sich jetzt messen. Es forderte ihn heraus, wenn ein anderer oder eine andere mit Humor oder Ironie spielten.

Eva Jönsson zögerte kurz, dann lachte sie auch.

„Ihr Witz war mittelgut“, sagte sie schließlich. „Aber jetzt mal ernsthaft. Es gibt nur einen Grund für meinen Auftritt bei Ihrer Begrüßung: Ich wollte Sie dafür sensibilisieren, dass man Menschen nicht mit Vorurteilen begegnen sollte. Halt – bevor Sie die Augen verdrehen, weil Sie es als Plattitüde betrachten! Es geht hier um Vorurteile gegenüber den Sami. Manche Schweden halten die Sami für rückständig, beschränkt, dumm. Zumindest im Unterbewusstsein. Machen Sie diesen Fehler nicht! Sie werden hier gar nichts erfahren, wenn die Sami spüren, dass Sie sie für minderwertig halten. Begegnen Sie ihnen unbedingt auf Augenhöhe, selbst wenn Sie ihre Tracht, ihr Aussehen, ihr Leben für eigenartig halten. Sami sind stolz.“

Eva Jönsson machte eine Pause.

„Und jetzt kommen Sie mit in die Küche“, sagte sie schließlich. „Es gibt Blaubeerkuchen.“

In der Küche saß ein älterer Herr mit grauem Bart. Herr Jönsson las Zeitung. Als die beiden Polizisten den Raum betraten, stand er auf und gab ihnen die Hand. Er schien keinen Trampel zu spielen.

„Mein Mann kann Ihnen die Geschichte des Sami-Marktes erzählen“, sagte Eva Jönsson, die zum Herd ging, um Wasser für den Tee aufzusetzen.

„Sie trinken doch Tee zum Blaubeerkuchen?“, fragte sie.

„Sehr gerne“, sagte Munk.

Leila nickte.

„Ich habe den Blaubeerkuchen gemacht“, sagte Herr Jönsson. „Es ist der erste, den ich in meinem Leben gebacken habe.“

„Ich stelle mich gerne als Vorkoster zur Verfügung“, sagte Munk, der einen Mordshunger hatte, und griff nach dem Kuchenmesser, um sich ein Stück abzuschneiden. Er hielt in der Bewegung inne, weil ihm Leila gegen das Schienbein getreten hatte.

„Ich meine, selbstverständlich sollten Sie den Kuchen als Erstes probieren, schließlich haben Sie ihn ja auch gemacht“, sagte Munk.

Jönsson schnitt wortlos ein großes Stück ab und legte es Munk auf den Teller. Munk wartete, bis auch Leila, Eva und Herr Jönsson versorgt waren. Dann begann er zu essen und hörte zu, was Herr Jönsson über den Sami-Markt erzählte.

„Der Markt ist schon über 400 Jahre alt“, sagte er. „­Früher war dieser Ort ein Winter-Sammelplatz der Ureinwohner Nordeuropas. Später trafen sich die Sami in Jokkmokk, um Gericht abzuhalten, Handel zu treiben und Ehepartner zu finden. 1602 beschloss König Karl IX., im Norden offizielle Marktplätze anzulegen – er brauchte Steuer­einnahmen, um seine Kriege zu finanzieren. Zunächst wurde in Jokkmokk eine Kapelle gebaut, dann kamen ein Pfarrhaus, Wohnhäuser und Marktbuden dazu. 1605 wurde der Sami-Markt erstmals abgehalten.“

Jönsson biss in seinen Blaubeerkuchen.

„Schmeckt wunderbar“, sagte Munk, der sein Stück schon gegessen hatte.

„Noch einen?“, fragte Jönsson.

„Warum nicht.“

Munk bediente sich mit einem vorfreudigen Grinsen.

„Der Sami-Markt“, fuhr Jönsson fort, „findet immer in der ersten Februarhälfte statt.“

„Wie viele Leute kommen da?“, fragte Munk. Offenbar wollte er zeigen, dass er hier war, um Fragen zu stellen und zu arbeiten – und nicht nur, um einen neuen Weltrekord im Blaubeerkuchen-Schnellessen aufzustellen.

„40.000“, sagte Jönsson. „Es kommen Händler aus ganz Lappland und manche sogar aus Stockholm.“

„Darf ich fragen, warum zwei Polizisten aus Stockholm zum Sami-Markt nach Lappland kommen?“, fragte Eva Jönsson. Sie hatte vier Tassen Tee auf den Tisch gestellt und sich dazugesetzt.

Leila und Munk sahen sich an.

„Sie dürfen fragen, aber eigentlich dürfen wir nicht antworten“, sagte Munk schließlich.

„Ich kann es mir denken“, sagte Eva Jönsson.

Wieder sahen sich Leila und Munk an. Diesmal waren sie verwundert.

„Es geht um Rune Katt, oder?“, sagte Eva Jönsson, „und um seine ehemalige Freundin, um Sanna Bak?“

„Kennen Sie sie?“, fragte Munk.

„Jokkmokk hat 3000 Einwohner, hier kennt jeder jeden. Und jeder kannte auch Rune Katt. Aber keiner mochte ihn. Er war ein Nationalist, er hat gegen Einwanderer gehetzt – man solle sie einfangen wie Hunde und außer Landes schaffen, sagte er. Und er hat Sanna Bak schlecht behandelt. Alle waren froh, als die Beziehung zu Ende war.“

„Was hat er ihr getan?“, fragte Leila.

Eva Jönsson wandte den Blick ab. Sie sah durchs Fenster hinaus in den Schnee.

„Ich weiß es nur vom Hörensagen“, sagte sie dann. „Fragen Sie sie selbst.“

Munk sah auf die Uhr.

„Wir treffen sie gleich zum Abendessen“, sagte er und stand auf. „Vielen Dank für den Kuchen, wir müssen leider los.“

„Darf ich Ihnen einen Kuchen mitgeben?“, fragte Eva Jönsson.

Leila schüttelte den Kopf.

„Sehr gern“, sagte Munk.

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