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Er trat auf einen Zweig. Ein Elch schreckte auf. Das Tier war etwa 50 Meter entfernt. Es sah ihn an und rannte davon. Er hob seine Pistole und senkte sie wieder. Nein, er war nicht hier, um auf einen Elch zu schießen; schon gar nicht mit einer Pistole.

Er war hier, um einen Menschen zu töten.

Er blickte nach vorne und versuchte, sich im Wald zu orientieren. Wie weit war es noch bis zur Hütte? Einen Kilo­meter? Zwei Kilometer? Ohne Eile ging er weiter. Bald stand er vor seinem Ziel. Ruhig hob er die Pistole – er spürte keine Nervosität. Dann trat er die Tür ein und stand kurz darauf vor dem berühmten Rune Katt, der an einem Tisch vor dem Fenster saß und seelenruhig seine Pfeife stopfte.

„Du?“, sagte Katt, als er seinen Besucher sah, und blickte auf die Pistole.

„Ich wusste, dass irgendwann irgendjemand kommen würde, aber dass gerade du es bist …“

„Einer muss es tun“, sagte er und überlegte, ob der Satz klischeehaft klang. Oder ob es der einzig richtige war.

„Einer muss es tun“, wiederholte Katt und kniff die Augen zusammen, was ihn für einen Moment irritierte. Er hob die Pistole ein Stück höher, sodass sie direkt auf den Kopf des alten Mannes gerichtet war.

„Und jetzt?“, fragte Katt.

„Jetzt sagst du noch einmal die Aufstellung des AIK Stockholm von 1977 und dann drücke ich ab.“

Rune Katt lachte.

„Ich mochte deinen Humor schon immer“, sagte Katt. „Ich befürchte, dass nur der erste Teil des Satzes ein Witz ist und der zweite nicht – du wirst abdrücken.“

„Der erste Teil ist auch kein Witz“, sagte er. „Du wirst jetzt die Aufstellung sagen.“

„Warum?“

„Weil ich wissen will, ob du dich erinnerst. Ob du die Namen noch kennst. Oder ob du immer nur an dich gedacht hast.“

Der alte Mann überlegte einen Moment.

„Einverstanden“, sagte Katt schließlich. „Aber nur, wenn du mir danach eine Chance gibst, das hier zu über­leben. In einem fairen Wettkampf unter Männern.“

Er senkte die Pistole.

„Was für ein Wettkampf?“, fragte er. Er schien eher belustigt als neugierig zu sein.

„Du bist über 20 Jahre älter als ich – welchen Wettkampf unter Männern willst du gegen mich gewinnen? Ich nehme an, es soll ein körperlicher sein.“

„Ein Elfmeterschießen“, sagte Katt, „draußen zwischen zwei Bäumen.“

Der Jüngere überlegte. Was für ein Schwachsinn, dachte er, ein Elfmeterschießen sollte über Leben und Tod entscheiden? Andererseits: Nirgendwo passte das besser als hier – und außerdem war er in seinem Leben immer für Verrücktes offen gewesen.

„Gut, aber eines musst du mir noch verraten“, sagte er zu dem Alten hinüber. „Warum sollte ich mich darauf einlassen, wo ich doch nur verlieren kann? Ich könnte dich jetzt umstandslos über den Haufen schießen – aber wenn ich das Elfmeterschießen verliere, muss ich dich laufen lassen. Also: warum?“

„Weil du kein Feigling bist“, sagte Katt, „und vor allem: weil du ein Spieler bist.“

Der Jüngere nickte.

„Du kriegst die Chance“, sagte er, „aber nur, wenn du die elf Stammspieler von AIK aus der Saison 1977 nennen kannst.“

Der alte Mann sah aus dem Fenster, dann begann er: „Gentemot Gunnarsson, Carl Nilsson, Sten Tyresson, Olof Hösten …“

Nachdem er zehn Spieler genannt hatte, sagte er: „… und im Tor: Rune Katt.“

„Wo hast du den Ball?“, fragte der Jüngere.

„Im Schuppen hinter der Hütte“, antwortete Katt. „Nicht weit entfernt davon gibt es zwei Bäume, die etwa sechs Meter auseinanderstehen – das sind die Torpfosten.“

„Und die Querlatte? Wie hoch dürfen wir schießen?“

„Komm mit, dann zeige ich es dir.“

Die beiden Männer verließen die Hütte. Der Jüngere ging hinter ihm und hatte seine Pistole auf Katt gerichtet. Katt ging zum Schuppen, öffnete die Tür, die nicht verschlossen war, und kam mit einem alten Lederball wieder heraus. Er warf ihn in die Höhe und fing ihn wieder auf.

„Vorsicht!“, rief der Jüngere und richtete die Pistole auf Katt. „Keine Bewegungen, die mich nervös machen könnten.“

Rune Katt grinste.

„Hast du Angst, du könntest verlieren?“, fragte Katt.

Er hatte tatsächlich Angst, er könnte verlieren.

Katt war zwar 73 Jahre alt und würde einen platzierten Schuss nie und nimmer erreichen können, obwohl er einmal der beste Torwart Schwedens gewesen war. Aber was war, wenn er es verpatzte? Wenn der Ball an den Pfosten ginge, also an den Baum? Oder vorbei. Er musste dieses Risiko reduzieren.

„Ich habe drei Schüsse, und zwei davon müssen drin sein“, sagte er.

„Der Herr hat also doch Angst“, sagte Katt und lächelte.

„Ich habe keine Angst, aber ein Schuss kann immer mal daneben gehen“, sagte er.

„So ist das Leben“, antwortete der alte Mann. „Ich dachte, du bist ein Spieler? Hopp oder top. Leben oder Tod. Ein Schuss. Ist er drin, darfst du noch mal schießen – mit der Pistole. Halte ich den Ball, haust du ab und wir sehen uns nie mehr wieder.“

Der Jüngere überlegte. Er wusste, dass dieser Rune Katt sein Leben lang Menschen manipuliert hatte. Aber er musste einräumen, dass er es überzeugend tat.

„Komm, das ist die ehrlichste, beste, spannendste Variante“, schob Katt nach. „Ein Schuss entscheidet über Leben und Tod.“

„Gut“, sagte der Jüngere, „wo ist das Tor?“

„Hier ums Eck“, sagte Katt und lief mit dem Ball in der Hand um die halbe Hütte herum. Der Jüngere sah, wie eine Stange in etwa zweieinhalb Metern Höhe die beiden Bäume verband. Die Querlatte. Katt hatte hier schon öfter Fußball gespielt.

„Es sind genau 2,44 Meter – wie bei einem richtigen Tor“, sagte Katt. Sogar ein weißer Kalkstreifen war zwischen den beiden Bäumen zu sehen: die Torlinie.

„Mit wem hast du hier schon gespielt?“, fragte der Jüngere.

„Och, es waren einige zu Besuch“, sagte Katt. „Aber bisher haben wir nur darum geschossen, wer den nächsten Schnaps bezahlt.“

Katt lachte. Er schien überhaupt nicht nervös zu sein. Was machte ihn so sicher, dass er den Ball halten würde? Oder hatte er schlicht keine Angst vor dem Tod? Den Jüngeren machte diese Selbstsicherheit nervös. Er überlegte, ob er nicht gleich mit der Pistole statt mit dem Ball schießen sollte. Er verwarf den Gedanken wieder.

„Leg den Ball hier ab und geh ins Tor“, sagte der Jüngere, eine Spur aggressiver als gewollt.

„Nervös, Junge?“, fragte Katt und sah seinen Gegner mit zusammengekniffenen Augen an.

„Geh ins Tor!“, sagte der Jüngere noch schärfer. Er erinnerte sich daran, woher er diesen Blick kannte. Und genau dieser Raubtierblick erinnerte ihn daran, warum er diesen Mann töten wollte.

„Geh ins Tor!“, rief er noch einmal.

Der alte Mann legte den Ball etwa elf Meter vor dem Tor ab und stellte sich zwischen die Bäume. Rune Katt sah nicht mehr so imposant aus wie in seiner aktiven Zeit. Damals war er 1,87 Meter groß und muskulös gewesen. Jetzt stand er mit gebeugtem Rücken und grauen Haaren zwischen den Bäumen; er trug kein blaues Trikot, keine weiße Sport­hose – wie hatte der Jüngere dieses Outfit früher geliebt – und keine Handschuhe wie damals, sondern eine Jeans, ein kariertes Hemd und eine Strickjacke. Er war schlank, aber Muskeln waren nicht mehr zu erkennen. Rune Katt sah aus wie ein gut erholter Großvater. Nie und nimmer würde er den Ball erreichen können, wenn der Jüngere ihn nur halbwegs in eine Ecke schießen würde.

Er fühlte sich jetzt wieder überlegen.

„Na, willst du nicht wenigstens die Strickjacke ablegen?“, rief er Rune Katt zu.

„Gute Idee“, sagte Katt, zog die Jacke aus und warf sie in den Wald hinter sich. Dann stellte er sich mitten in sein Tor.

„Ich bin bereit“, sagte er.

Der Jüngere hatte den Ball in der linken und die Pistole in der rechten Hand. Er legte die Waffe neben sich, ganz nah, damit er jederzeit zugreifen konnte, sollte Katt sich auf ihn stürzen. Rune Katt behielt er dabei stets im Auge.

Dann legte er sich den Ball zurecht. Seine Nervosität war verflogen; er war selbst ein guter Fußballer gewesen. Jetzt konzentrierte er sich nur auf den Elfmeter. Er würde den Ball in die rechte untere Ecke schießen – so wie früher.

„Es geht los“, rief er Katt zu, der etwas in die Hocke gegangen war und mit zusammengekniffenen Augen auf den Ball schaute.

„Schade, dass du nicht im Tor stehst“, sagte Katt mit seinem Raubtierblick. „Mit deinen verkrüppelten Händen würdest du keinen Ball halten.“

Das saß.

Der Jüngere sah Katt in die Augen. Er wusste, dass der alte Mann ihn provozieren wollte. Und wer sich provo­zieren ließ, war nicht mehr ruhig. Der Jüngere aber zwang sich zur Ruhe. Er reagierte nicht auf Katts Worte, nahm zwei Meter Anlauf und trat wuchtig gegen den Ball, der flach in Richtung rechtes unteres Toreck rauschte.

Rune Katt legte alle Energie, die noch in seinem 73-­jährigen Körper steckte, in den Sprung, er kippte wie ein Tipp-Kick-Torwart nach links unten und reckte die linke Hand nach dem scharf geschossenen Ball. Die Finger berührten den Ball und lenkten ihn an den Baum, von dort sprang er über den am Boden liegenden Katt hinüber zum anderen Pfosten, fiel nach unten – und kullerte deutlich hinter die Torlinie.

Opfer ohne Gewissen

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