Читать книгу Ein Thron aus Knochen und Schatten - Laura Labas - Страница 11
Kapitel Sechs
ОглавлениеMüde und vom Training erschöpft fiel ich ins gemütliche Bett. Sobald mein Kopf das Kissen berührte, war ich auch schon tief und fest eingeschlafen.
Ich träumte von einem Sommer, der viele Jahre zurücklag und von dem ich mir nicht sicher war, ob er wirklich so geschehen oder nur meiner Fantasie entsprungen war. Er lag in der Zeit, in der die Dämonen bereits auf der Erde verweilten und wir Menschen aber zum großen Teil noch nichts von ihrer Existenz gewusst hatten. Meine Eltern und meine Schwester Sarah waren mit mir in den Park gegangen, in dem ich besonders gerne den Kletterberg erklommen hatte. Ich kannte weder Angst noch Zurückhaltung und ließ Sarah jedes Mal hinter mir. Sie war wütend, dass ich so viel schneller und flinker war als sie. Das Problem, das ich allerdings ständig außer Acht ließ, war, dass ich nicht mehr von allein herunterkam. Ich hatte keine Angst vor der Höhe, aber furchtbare Panik vor dem Fallen. Solange es für mich also hinaufging, verschwendete ich keinen einzigen Gedanken an die Tiefe, aber dann, sobald ich nicht weiterkam, musste ich mich unweigerlich der Wahrheit stellen. Meine Eltern und Sarah hatten das gewusst, aber sie waren unfähig gewesen, mich vom Klettern abzuhalten. Sie hatten es versucht, doch ich hatte bloß begonnen, wie eine Verrückte zu schreien. Eine Fünfjährige konnte ziemlich laut brüllen, wenn sie wollte.
»Ich komme nicht mehr nach unten«, hatte ich das letzte Mal in einer ähnlichen Situation gejammert und mich mit allem, was ich hatte, an den dicken Seilen festgehalten.
»Das sagst du jedes Mal«, motzte Sarah unweit unter mir. »Einfach einen Schritt nach dem anderen setzen, Aly«, leitete sie mich an, obwohl sie von mir genervt war. »Wenn du fällst, fang ich dich auf.«
Ich zögerte, riskierte einen weiteren Blick nach unten und sah meine Schwester an, die abwartend zu mir aufschaute.
»Versprochen?«, flüsterte ich.
»Versprochen«, wisperte sie zurück. »Ich werde immer da sein, wenn du fällst, Aly.«
Schniefend und mir den Rotz am Ärmel abwischend hatte ich dann mit dem Abstieg begonnen. Ich war trotz meiner zittrigen Gliedmaßen nicht gefallen, denn immer hatte ich die schützende Anwesenheit meiner Schwester im Hinterkopf behalten. Ohne sie hätte ich den Abstieg nicht gewagt.
»Alison«, rief jemand und für einen Moment glaubte ich, Sarah wäre zu mir zurückgekehrt, doch dann erwachte ich vollends. Sarah war tot. Sie würde nie wiederkommen.
Ich blinzelte gegen das sanfte Licht des Flurs, das durch die offene Tür in mein Zimmer fiel, sowie gegen den Lichtschimmer der Mittagssonne, der durch die Vorhänge drang. Sofort erkannte ich eine Person, die auf der Bettkante hockte, bevor ich auch den Rest des Raumes begutachtete. Niemand anderes befand sich bei uns. Trotzdem strahlte Elle eine gewisse Aura der Angst aus, als sie so in Tränen aufgelöst meinen Blick erwiderte.
»Elle«, murmelte ich verwirrt. »Was ist passiert? Bist du verletzt?«
Sie schüttelte den Kopf.
»Was ist los? Kann ich dir helfen?«
Statt mir zu antworten, fiel sie mir weinend und zitternd in die Arme. Verblüfft wusste ich zunächst nichts mit ihr anzufangen, beschloss aber dann, erst mal zu versuchen, sie zu beruhigen. Es dauerte eine ganze Weile. Jedes Mal, wenn ich mir sicher war, ihre Tränen wären getrocknet, begann sie erneut zu weinen.
Ich strich behutsam über ihr langes Haar, bis das Schluchzen verebbte und ihr Körper zu zittern aufhörte. Langsam und sanft nahm ich ihr junges, herzförmiges Gesicht in meine Hände und schob es von mir, bis ich ihr in die verweinten Augen sehen konnte.
»Elle? Du machst mir Angst«, gestand ich. Es brach mir das Herz, sie so zu sehen. Ich hatte die Worte, die ich an ihren Vater gerichtet hatte, ernst gemeint. Ich wollte nicht, dass ihr etwas zustieß und ich würde sie beschützen.
»Ich habe … etwas erfahren«, sagte sie schließlich. »Über Mom. Lystra«, fügte sie hinzu.
»Magst du mir davon erzählen?«
Sie zögerte kurz, schüttelte dann aber den Kopf. Ich ließ meine Hände fallen. »Was soll ich tun, Alison?«
Nachdenklich spielte ich mit einer von ihren Strähnen. »Denkst du denn, dass du etwas tun musst?«
»Ich bin mir nicht sicher.« Sie senkte ihre Lider. Dichte Wimpern berührten beinahe ihre Wangen. »Vielleicht.«
»Wird in naher Zukunft jemand dadurch verletzt werden, wenn du nichts sagst?«, bohrte ich vorsichtig weiter, um etwas zu finden, mit dem ich sie trösten könnte. Natürlich interessierte es mich brennend, was Lystra so Schlimmes getan hatte, aber ich würde Elle nicht für Informationen ausquetschen, wenn es ihr so schlecht ging.
»Ich glaube nicht.«
Erleichtert nickte ich. »Dann denke ich, hast du noch ein bisschen Zeit, darüber nachzudenken, was du tun sollst.«
»Meinst du wirklich?«
»Aber sicher. So, wie du mir die Lage geschildert hast …« Ich zuckte mit den Schultern und verzog das Gesicht vor Schmerzen. Muskelkater. Ich hatte wirklich Muskelkater.
Sie nickte ernst.
»Darf ich … Darf ich die Nacht hier bei dir verbringen?«, fragte sie zögerlich.
Ich räusperte mich. »Solange dein Vater nicht ungeladen hier auftaucht und meinen Kopf fordert.«
»Tut mir leid«, nuschelte sie deutlich verlegen.
»Keine Sorge. Na komm. Das Bett ist groß genug für uns beide. Brauchst du noch was? Ein Taschentuch? Wasser?« Elle schüttelte den Kopf, bevor wir uns beide in die Decken kuschelten und sie schon nach ein paar Minuten einschlief. Ich horchte noch eine Weile ihrem ruhigen Atem, bis auch ich mich nicht mehr gegen die Müdigkeit wehren konnte.
Ich erwachte, als die Tür leise geöffnet wurde. Dieses Mal waren meine Sinne sofort geschärft und nahmen den Raum innerhalb von Sekunden wahr, dabei bediente sich mein Verstand der Methode, die mich Tante Lucy gelehrt hatte. Den Fokus zunächst auf meine unmittelbare Nähe zu richten. Je näher die Bedrohung, desto schneller musste ich reagieren.
Elle lag schlafend neben mir im Bett. Sie hatte sich bis ganz an den Rand vorgearbeitet und auf die Seite gedreht. Das Sonnenlicht, das durch die Vorhänge drang, war gedämpfter als noch zu dem Zeitpunkt, als Elle hereingekommen war. Die Tür zum Badezimmer war verschlossen, die Eingangstür aber geöffnet und in ihr stand die Bedrohung. Gareth.
»Ich habe auf dich gewartet«, erklärte er seine Anwesenheit. Er sah bloß mich an.
»Es war eine lange Nacht«, murmelte ich und stieg langsam und leise aus dem Bett. Der Boden fühlte sich unter meinen nackten Sohlen kalt an. Gareth hob abwartend eine Augenbraue, bevor seine Augen musternd über meinen Körper fuhren. Ich trug nichts sonderlich Skandalöses, vor allem, wenn man unsere zweite Begegnung in Betracht zog, in der ich bloß ein Bettlaken um mich geschlungen hatte. Nein, ich war mit einem Top und einer lockeren, kurzen Stoffhose absolut anständig gekleidet, doch meine nackten Beine und mein verworrenes braunes Haar ließen mich verwundbar fühlen.
»Warte draußen. Ich will sie ungern aufwecken«, bat ich, was zum einen der Wahrheit entsprach, zum anderen brauchte ich ein paar Minuten, um mich zu fangen. Wieso bemerkte ich jetzt auf einmal seine Blicke, die mir unter die Haut gingen? Wieso sah er mich überhaupt so an? Er drehte sich wortlos um und schloss die Tür hinter sich. Natürlich, er fand mich attraktiv. Das war doch alles, oder? Ich sollte vorsichtiger sein, denn auch wenn er anscheinend kein Problem mehr mit einem Menschen hatte, so hatte ich meine Vorurteile aber noch längst nicht alle abgelegt und würde mich nicht auf ihn einlassen.
Im Bad putzte ich mir eilig die Zähne und schlüpfte in enge schwarze Jeans, ein Shirt und einen Pulli, den ich bequem ausziehen konnte, falls mir während des Laufens zu warm wurde. Meine dunkelbraunen Haare, die seit mehreren Monaten keine Schere mehr gesehen hatten, reichten mir mittlerweile bis zur Mitte des Rückens. Ich würde sie bald wieder schneiden müssen, da sie im Training hinderlich waren. Für den Moment band ich sie mir zu einem Pferdeschwanz zusammen. Einen letzten Blick in den Spiegel werfend seufzte ich. Die Nacht war wirklich kurz gewesen und das zeigte sich in meinen dunklen Augenringen und meinen blassen Wangen.
Schließlich verließ ich das Bad, um Gareth nicht länger warten zu lassen. Ich wollte nicht, dass er erneut hereinstürmte und dabei Elle weckte, die ihren Schlaf eindeutig nötiger hatte als ich. Was auch immer sie erfahren hatte, es war schlimm für sie gewesen. Ich rätselte, was es sein konnte, kam dabei aber zu keinem Ergebnis. Für Antworten kannte ich Lystra einfach nicht genug. Ich hatte sie erst ein einziges Mal gesehen.
»Also?« Gareth hatte direkt hinter der Tür an der Wand lehnend gewartet und sah mich nun unverhohlen neugierig an.
»Also was?«, schnappte ich sofort. Die schlechte Laune saß mir im Nacken. Außerdem hatte ich noch immer leichten Muskelkater von gestern, was nicht dazu beitrug, mich aufzuheitern.
»Willst du mir verraten, was Elle in deinem Zimmer macht?«
Wir setzten uns gemeinsam in Bewegung. Das Anwesen war still. Die Dämonen schliefen entweder oder beschäftigten sich mit Angelegenheiten, die wenig kräftezehrend waren. Das Tageslicht bekam ihnen nicht. Nun ja, den meisten von ihnen zumindest. Gareth schien nur minimal davon betroffen zu sein. Ich hatte bemerkt, dass er schneller außer Atem kam, wenn wir tagsüber liefen.
»Sie hatte … Schwierigkeiten zu schlafen.« Ich wandelte die Wahrheit etwas ab und rollte zum Warmwerden mit den Schultern, als wir die Treppen erreicht hatten.
»Und dann kommt sie ausgerechnet zu dir?« Er schüttelte den Kopf. »Ich dachte, nach Adams Reaktion würdest du einen großen Bogen um seine Tochter machen, aber ich habe dich wieder mal unterschätzt.« Ich sollte das nicht als ein Kompliment nehmen, tat es aber trotzdem.
»Du hast davon gehört?«
»Er ist mein Freund.«
»Du hast Freunde?«
Seine Mundwinkel zuckten verräterisch.
Eine Dämonin kam uns entgegen und die Lockerheit, die ich gerade erreicht hatte, schwand augenblicklich.
»Gareth, hallo«, begrüßte sie zuerst den Dämon. »Alison.«
»Vitória«, lächelte Gareth beinahe. »Hast du dich wieder gut eingelebt?«
Sie nickte und ordnete ihr lockiges schwarzes Haar. Wieso war sie derart schön? Das nervte mich ungemein.
»Ja, Dorian weiß, wie man einen Gast behandelt.«
»Ich würde mich gerne noch länger mit dir unterhalten, aber die Pflicht ruft.« Er deutete zwar nicht auf mich, doch es war klar, was er meinte. Ich schnaubte leise. Gareth hob eine Augenbraue. »Bis bald!«
Vitória zog eine Schnute, bevor sie uns passieren ließ.
»Was ist denn jetzt schon wieder?«, fragte er entnervt. Anstatt den Weg zum Garten einzuschlagen, stiegen wir weiter die Treppen herunter. Ich kommentierte diesen Umstand nicht, da Gareth mir vermutlich ohnehin nicht antworten würde.
»Du hast mich gerade als Ausrede benutzt.« Das Erstaunen und die Missbilligung über seine Handlung färbten meine Stimme dunkel.
»Hab ich nicht«, widersprach er augenblicklich.
»Und ob!« Wir hatten das Foyer erreicht, weshalb ich mich zwang, leiser zu sprechen. Ich wollte nicht, dass uns irgendjemand belauschte, um Gareth nicht in Schwierigkeiten zu bringen. Nicht, dass es dazu käme, wenn er mir weiterhin vehement widersprach, um mir weiszumachen, ich hätte mir alles nur eingebildet.
»Aber sicher. Du wolltest dich nicht länger mit ihr unterhalten, also hast du deine Pflicht vorgeschoben. Normalerweise nimmst du keine Rücksicht auf mich.«
»Auch jetzt nicht.« Er knirschte mit den Zähnen. Bevor wir nach draußen treten konnten, presste er eine Hand gegen die Tür und sah mich von oben herab an. »Du bist meine Pflicht.«
Ich zuckte mit den Schultern und versuchte von seiner Präsenz unbeeindruckt zu wirken. Mein Mund wurde trocken, als ich realisierte, wie nah er mir war, ohne dass wir trainierten.
»Wie du meinst.« Sein Atem vermischte sich mit dem meinen. Ich konnte die goldenen Sprenkel in seinen dunkelgrünen Augen sehen. Das Herz schlug mir bis zum Hals und ich war unfähig, mich zu bewegen, bis er endlich seine Hand von der Tür nahm und diese öffnete.
Die kühle Luft, die uns umwehte, war heilsam und erweckend. Was auch immer gerade geschehen war, es hatte mir für einen kurzen Moment den Verstand vernebelt.
»Wohin gehen wir?«, fragte ich, als ich meiner Stimme wieder vertraute. Wir schritten die lange Auffahrt hinab in Richtung des gusseisernen Tores. Dahinter lag die Stadt, die das Rathaus wie mehrere schützende Ringe umgab.
»Wir laufen heute durch die Stadt«, klärte er mich auf und begann sich zu dehnen. Ich hielt inne.
»In die Stadt? Ist das nicht … nun ja, kontraproduktiv? Will Dorian nicht, dass wir unter dem Radar bleiben? Und wenn wir beide miteinander gesehen werden …« Stirnrunzelnd sah ich die Straße entlang, die von Häusern umsäumt wurde, welche erst nach dem Krieg gebaut worden waren. Ein paar der Gebäude in Ascia hatten schon vorher hier gestanden, doch die meisten waren neu errichtet worden. Sie alle besaßen Wasseranschlüsse, wenn auch nicht immer perfekt funktionierende. Doch Kabel und elektrische Anschlüsse suchte man vergeblich.
»Menschen wissen nicht, wer oder was ich bin. Und andere Dämonen haben keine Ahnung, wer du bist«, führte er ruhig und effizient an. Natürlich hatte er sich bereits Gedanken darüber gemacht. »Solange wir nicht zu lange an einer Stelle ausharren, an der sich Dämonen befinden, sollte es in Ordnung gehen. Tagsüber befinden sich die meisten ohnehin in ihren Häusern.«
Er hatte natürlich recht, trotzdem verwirrte es mich, dass er ein solches Risiko einging. Ich dehnte meine Beine.
»Wieso laufen wir nicht im Garten?«
»Willst du das denn?«
Wollte ich mir die Chance entgehen lassen, Zeit in der Stadt zu verbringen? Weg von meinem neuen Alltag? Was, wenn mich Arias oder Evan sahen?
Doch es war das Risiko wert. Es war eine nette Geste von Gareth, unser Training auf das Gebiet außerhalb des Anwesens auszuweiten.
»Nein, ist schon okay so«, antwortete ich und zwang mich zu einem dankbaren Lächeln. Er wich meinem Blick entschieden aus.
»Wieso hast du nicht vorgeschlagen, dass die anderen Jäger mit uns laufen?«, fragte er plötzlich. »Es wäre praktisch gewesen.«
»Für dich oder für mich?«
»Für alle.« Ich versuchte mir nicht anmerken zu lassen, wie enttäuscht ich über die Antwort war. Was hatte ich auch erwartet?
»Sie sind weniger widerstandsfähig als ich und brauchen ihren Schlaf«, log ich. Die Wahrheit war, dass ich gelernt hatte, mein Einzeltraining mit Gareth zu genießen, da ich durchaus die Verbesserung meiner Ausdauer und meiner Technik gemerkt hatte. Zudem trainierte Gareth auf eine ähnliche Weise wie ich, auch wenn ich es niemals zugeben würde. Er war oft schweigsam, aber immer ernst und zielorientiert. Das mochte ich an ihm.
Gareth sagte nichts mehr und wir dehnten uns noch ein paar Minuten, dann setzte er das Tempo und wir joggten durch die Stadt.
Es war später Nachmittag, weshalb in den Straßen nicht mehr so viel los war. Der Markt hatte für die Menschen mittlerweile geschlossen und würde nach einer kurzen Pause auf die Bedürfnisse der Dämonen ausgerichtet werden. Das bedeutete teurere Kleidung, Stoffe und exotische Nahrung.
Menschen, die nicht auf dem Markt arbeiteten, aßen derweil in ihren Wohnungen zu Abend, verbrachten Zeit miteinander und ruhten sich von einem anstrengenden Tag auf ihren Arbeitsstellen aus.
Viele, die hier lebten, schufteten in den Kläranlagen, den Plantagen, die sich außerhalb der Stadtmauer befanden, oder im Einzelhandel. Dorian sorgte dafür, dass niemand hungerte und dass für jeden gesorgt war. Selbst für Menschen, die aus verschiedenen Gründen nicht arbeiten konnten.
Gareth und ich liefen meist in den Außenbezirken, umkreisten das Zentrum und nutzten kleine, enge Gassen, in denen wir von den wenigsten Leuten bemerkt wurden. Uns wurden neugierige Blick zugeworfen, aber sobald man erkannte, dass es sich lediglich um Jogger handelte, war das Interesse meist schon wieder verflogen. Es war zwar nicht üblich, um diese Uhrzeit Jogger zu sehen, doch es war auch nichts Unerhörtes. Normalerweise hatten die Menschen einfach weder Zeit noch Muße, sich während des Tages so etwas wie Training zu widmen. Und da die Sonne schien, dachten sie nicht einmal daran, dass einer von uns ein Dämon sein könnte.
Es gefiel mir mehr, als ich mir oder Gareth eingestehen würde. Ich hatte Ascia vermisst, obwohl ich die Stadt noch immer nicht als mein Zuhause ansah, aber sie kam dem Begriff doch auf eine Weise am nächsten.
Nachdem wir fast zwei Stunden lang die Stadt durchquert hatten, erreichten wir erneut das Rathaus. Anstatt jedoch ins Gebäude zu gehen, schlug Gareth den Weg ein, der hinter den Garten führte. In der hohen grauen Mauer war ein schmiedeeisernes Tor eingelassen, durch das er schritt, nachdem er es mit einem kleinen Schlüssel aufgeschlossen hatte. Zögerlich folgte ich ihm. Bisher hatte ich mich in dem rückläufigen Teil des Gartens noch nie aufgehalten.
»Durstig?« Er reichte mir schnell atmend eine von zwei Trinkflaschen, die er oder ein Bediensteter hier vorher deponiert hatte.
Der Teil des Gartens, den wir betreten hatten, war genauso dicht bewachsen wie der Rest, doch auch hier gab es kleine Lichtungen. Grasflächen, die von Bäumen und Hecken umrahmt wurden. Alles wirkte wilder, verwucherter, unberechenbarer.
»Lass uns kämpfen.« Ich hielt in der Bewegung inne, die Flasche zuzuschrauben.
»Was?«
»Kämpfen«, wiederholte er, als würde er mit einem Kind reden. Ich stellte die Flasche zu seiner in den Schatten eines Baumes.
»Wieso jetzt?« Wir hatten das letzte Mal offiziell gegeneinander gekämpft, als Dorian sehen wollte, wie fähig ich war. Da ich keine Lust gehabt hatte, ihm zu gehorchen, hatte ich mich freiwillig zusammenschlagen lassen.
Gareth trat näher. Sein Körper zeugte von Spannung und Gefahr, von beidem wurde ich angesteckt.
»Theoretisch besitzt du mittlerweile die Fähigkeit zu gewinnen«, antwortete er so lässig, als wäre es keine große Sache. Anscheinend wollte er mit dem Kampf herausfinden, ob es wirklich so war.
»Nur theoretisch?« Wir begannen uns zu umkreisen. Ich konnte mich nur noch nicht entscheiden, wer von uns beiden das Raubtier und wer die Beute war.
»Du musst dich besser konzentrieren. Mehr sehen«, sagte er leise und danach sprachen wir für sehr lange Zeit nicht mehr.
Ich preschte nach vorne, wich seiner Linken aus und packte seine Schulter. Er hatte mit der Bewegung gerechnet, duckte sich und drehte sich aus meinem Griff heraus. Bevor er mir seinen Fuß in die Seite rammen konnte, wich ich aus seiner Reichweite.
Das Spiel wiederholte sich mehrmals und nach einer Weile bemerkte ich, dass Gareth recht hatte. Ich besaß durchaus die kampftechnischen Fähigkeiten, um ihn zu besiegen. Die Frage war nur, hatte ich neben dem körperlichen auch das psychische Durchhaltevermögen?
Es war erstaunlich, wie wenige Treffer er landete. Noch vor einem Monat hätte er mich in nicht mal zwei Minuten k. o. geschlagen. Nein, er hatte mich tatsächlich k. o. geschlagen, als ich in einem Kampf gegen Ophelia die Kontrolle verloren hatte. Damals hatte ich ihm nichts entgegensetzen können. Mit Schaudern erinnerte ich mich daran, wie er meine Schulter ausgekugelt und meine Nase gebrochen hatte.
»Konzentrier dich«, zischte Gareth, der wahrscheinlich an meinem Blick gemerkt hatte, dass meine Gedanken abgedriftet waren.
Ich schüttelte mich innerlich und leistete seinem Befehl Folge. Es fiel mir zunehmend schwerer, seinen Schlägen und Tritten auszuweichen und gleichzeitig einen passenden Moment zu finden, in dem ich ihn angreifen konnte. Ich fühlte mich immer weiter in die Ecke gedrängt, obwohl wir die Lichtung nicht einmal verließen. Es war eher ein unterschwelliges Gefühl, das mir außerdem sagte, dass ich den Kampf entweder jetzt gewinnen oder verlieren würde.
Während eines Ausfallschritts seinerseits dachte ich, ich könnte ihn mit einem schwungvollen Kick in die Bauchhöhle auf den Boden befördern. Zu spät erkannte ich, dass er mich nur hatte locken wollen. Er wartete auf mich, reagierte in einem übernatürlichen Tempo und umfasste meinen Knöchel. Meinen Schwung nutzend wirbelte er mich herum, sodass ich den Halt verlor und gegen einen Baum geschleudert wurde. Im letzten Moment riss ich die Hände hoch, die meinen Aufprall deutlich abmilderten. Gareth war sofort hinter mir, presste seinen Körper an meinen und verhinderte, dass ich den Kampf wieder aufnehmen konnte, selbst wenn ich gewollt hätte. Allerdings fühlte ich mich bei Gott nicht mehr dazu in der Lage. Alles schmerzte.
»Gewonnen«, raunte er mit seiner dunklen Stimme so nahe an meinem Ohr, dass ich seinen Atem auf meiner Wange spürte. Eigentlich konnte ich alles von ihm spüren, während unser beider Atem unregelmäßig und schwer geworden war.
»Zufrieden?«, murrte ich. In meinem Bauch flatterten Schmetterlinge, als seine Hände meine Hüfte berührten und dann … mein Waidblatt hervorholten.
»Jetzt.« Er drückte die Klinge für eine Sekunde an meinen Hals, ehe er von mir abließ, sodass ich mich von der Rinde wegdrehen konnte. Er grinste verschlagen. So, wie ich ihn noch nie lächeln gesehen hatte.
»Du …«, begann ich, aber ich wusste wirklich nicht, was ich sagen sollte und schüttelte nur den Kopf. Er reichte mir das Waidblatt mit dem Griff voran, das ich zögerlich annahm. Mein Herzschlag beschleunigte sich, als sich unsere Finger berührten und unsere Blicke sich trafen. Schnell steckte ich das Messer ein.
»Du hast dich gut geschlagen«, zollte er mir schließlich Respekt. »Wir müssen zurück.«
In der Tat war die Sonne bereits so tief gesunken, dass sie längst nicht mehr zu sehen war. Die Nacht würde sich schon bald über die Stadt gelegt haben.
»Gareth?« Wir hatten die Wasserflaschen aufgeklaubt und waren bereits ein paar Schritte in Richtung Rathaus gegangen, als ich ihn noch einmal zurückhielt. Fragend sah er mich über seine linke Schulter hinweg an. »Wieso hast du dich nicht gewandelt, als wir gegen die Kaskaden gekämpft haben? Alle haben sich gewandelt.« Nur du nicht.
Er unterbrach den Blickkontakt und ging weiter. Seufzend begab ich mich an seine Seite. Ich wusste, er würde mir nicht antworten, selbst wenn ich weiterbohrte. Viel eher würde er sich verschließen und die freien Momente, die wir während und nach dem Kampf erlebt hatten, würden der Vergangenheit angehören.
»Ich bin nicht so perfekt, wie du vielleicht denkst«, sagte er in die Stille hinein. Wir hatten mittlerweile den Kiesweg erreicht, der direkt zur Terrasse führte.
»Das habe ich keine Sekunde angenommen«, lachte ich. »Ich finde, du bist stur, brutal und leidest unter Kontrollzwang.«
Während des letzten Wortes zuckte er zusammen. Zunächst wollte ich diese unbedachte Reaktion übergehen, bis die Erkenntnis einsetzte.
»Du verlierst die Kontrolle?« Meine Stimme war leise, aber fest. Ich hielt ihn mit einer Hand an seinem Unterarm zurück. Seine Augen huschten zu der Stelle, an der ich ihn berührte. Sofort gab ich seinen Arm wieder frei.
»Ja«, gab er zu. Er wischte sich mit den Händen übers Gesicht. Diese Geste schien so menschlich und verletzbar und passte nicht zu dem Bild, das ich von ihm hatte. »Nicht immer, aber insbesondere in einem Kampf, einer heiklen Situation, in der es um Leben und Tod geht … ich bin stark, Alison. Und das sage ich dieses Mal nicht, um dich zu beeindrucken.« Ich hob eine Augenbraue. Als ob er es sonst sagen würde, um mich zu beeindrucken. »Ich bin sogar so stark, dass ich Dorian besiegen könnte, wenn ich wollte. In so einem Zustand würde ich allerdings jeden töten, der mir in die Quere käme. Es ist fast unmöglich für mich, von allein aus diesem Teufelskreis auszubrechen.«
»Aber wie gelingt es dir denn sonst?«
Bitterkeit hatte sich in seine Züge gegraben, als er mich wieder ansah. »Gar nicht. Ich vermeide es, mich zu wandeln, und trainiere stattdessen so hart, damit ich jeden Dämon töten kann, ohne mich zu wandeln.«
Mit offenem Mund starrte ich ihn an. Ich wollte etwas erwidern; wollte ihm Trost spenden und das erschreckte mich am meisten.
Bevor ich etwas Dummes tun konnte, wie seine Hand zu nehmen, wurden wir von den anderen Novizen entdeckt. Das zweite Training würde gleich beginnen.
Gareth hielt meinen Blick noch einen Moment länger fest, ehe er zurück ins Haus ging.
Ich fühlte mich plötzlich leer und kalt.