Читать книгу Ein Thron aus Knochen und Schatten - Laura Labas - Страница 6
Kapitel Eins
Оглавление2005 – In den Rayons nahe der neu gegründeten Stadt Billings
Tante Lucy hielt inne, hob ihr wettergegerbtes Gesicht gen Nachthimmel und wartete auf etwas, das mir noch verborgen blieb. Die Dunkelheit lag wie ein samtener Mantel um unsere Schultern und schien durch nichts durchbrochen werden zu können – doch da, einen Moment später schob sich der volle, satte Mond an den Wolken vorbei und tauchte die Stadt in silbriges Licht. Niemand außer uns war hier. Der Tod bewachte die Nacht. Die Häuser, in denen bis vor Kurzem noch Menschen gelebt, gelacht und gefeiert hatten, glichen leeren Höhlen. Leichen gar. Mich überzog eine Gänsehaut. Skelette eines vergangenen Zeitalters, das einst voller Licht und Leben gewesen war.
»Trödel nicht rum, Alison!«, wies mich Lucy streng zurecht. Sie hatte sich bereits zur nächsten Hausecke aufgemacht, während ich noch gedankenverloren ins Nichts gestarrt hatte.
Wir befanden uns in einer verlassenen Kleinstadt mit einladenden Holzhäusern und überwucherten Gärten. Es gab eine einzige Einkaufsstraße und der näherten wir uns.
Ich schüttelte den Kopf, um ihn von diesen trostlosen Gedanken zu befreien, verspürte aber nur einen geringen Erfolg. Seit meinem Geschenk zu meinem vierzehnten Geburtstag vor einer Woche war nichts mehr, wie es einmal war. Lucy hatte mich, wie so oft vorher, zu einer Jagd mitgenommen und ich hatte das allererste Mal einen Schattendämon getötet. Natürlich nicht allein. Lucy hatte ihn zuerst niedergestreckt, damit ich ihm gefahrlos den Todesstoß versetzen konnte. Im ersten Augenblick hatte ich gezögert. Es war so viel Blut geflossen und dieses Mal hatte ich es nicht nur aus der Ferne gesehen. Noch immer spürte ich den warmen Lebenssaft an meinen Händen.
»Alison!«, keifte Lucy ungehalten, die viel mehr Kraft in ihrer Stimme besaß, als man ihr bei der ersten Begegnung zutrauen würde. Körperlich glichen wir uns sehr, nachdem ich in den letzten Jahren meiner Ausbildung deutlich an Gewicht verloren hatte. Ich aber besaß gewisse Rundungen, die auch nach Monaten des Trainings nicht verschwinden würden. Sie waren vielleicht noch nicht sonderlich ausgeprägt, aber sie entwickelten sich zu Lucys deutlichem Leidwesen. Sie lag mir ständig damit in den Ohren, dass ich beten sollte, keinen großen Busen zu kriegen, der mich im Kampf behindern würde. In ihren Augen waren meine breiten Hüften schon ein Todesurteil.
»Ich komme ja schon«, zischte ich und schloss zu ihr auf, bevor sie einen prüfenden Blick auf die breite, asphaltierte Straße warf. Sie hatte mir mehrmals befohlen, auf Zeichen von Zivilisation zu achten, doch was ich auch tat, ich erreichte niemals ihr Level der Spurensuche. Sie hatte eine unheimliche Begabung dafür entwickelt. Manchmal fragte ich mich, ob sie in dieser Gegenwart mehr zu Hause war, als sie es in der Vergangenheit ohne Dämonen je gewesen war.
Meine Erinnerungen an die Zeit waren verschwommen, doch den abfälligen Ton meiner Mutter, mit dem sie damals über ihre verrückte Schwester gesprochen hatte, hatte ich nie vergessen. Eine Schwester, die niemals still sitzen konnte. Eine Schwester, die paranoid war und in allem eine Bedrohung sah. Es stellte sich heraus, dass Lucy die Einzige von uns gewesen war, die mit dem Einmarsch der Dämonen halbwegs zurechtgekommen war. Wie hätte es auch anders sein können? Sie hatte sich ein Leben lang darauf und auf jede andere Art von Bedrohung vorbereitet.
»Da vorne.« Sie deutete mit einer Hand nach links, wo ein zerbrochenes Schaufenster einen ungehinderten Blick auf den Laden dahinter bot. Das unbeleuchtete Schild verriet, dass es sich einst um einen Sportbekleidungsladen gehandelt haben musste.
»Was ist denn?«, murmelte ich unruhig auf der Stelle tretend. Mir war trotz der milden Temperaturen, die in Kalifornien herrschten, kalt, da ich nur einen dünnen Pullover trug. Zuvor hatte ich meine Lederjacke vergessen und ich war zu stolz gewesen, Lucy zur Umkehr zu bewegen. Sie hätte mich nur wieder getadelt, da sie schließlich nie etwas vergaß. Auch heute war sie bis an die Zähne bewaffnet und trug ihre übliche Kleidung. Eng anliegende Jeans, feste robuste Stiefel, einen Rollkragenpullover und ihre widerstandsfähige Synthetikjacke. Alles natürlich in einem dunklen Grau, um so gut wie möglich mit der Dunkelheit verschmelzen zu können.
»Sieh genau hin«, befahl sie mir, während sie an der Hauswand lehnte, um deren Ecke wir schauten, anstatt mir normal zu antworten. Ihr dickes rotbraunes Haar hatte sie zu einem festen Zopf in ihrem Nacken gebunden, sodass keine einzige Strähne in ihr faltenfreies Gesicht fiel. Sie wirkte zeitlos. Körperlich sah sie kaum aus wie die vierzig Jahre, die sie zählte, doch in meinen Augen wirkte sie oftmals wie ein Kind, das sich inmitten seines liebsten Spiels befand und vorhatte zu gewinnen.
Ich unterdrückte ein Seufzen, da ich dieses Verhalten bereits gewohnt war. Keine Reaktion meinerseits würde dies ändern. Also kniff ich die Augen zusammen und starrte tiefer in die Finsternis, bis ich den Schatten im Laden erkannte. Er bewegte sich langsam, behäbig gar, als würde er eine Last mit sich schleppen.
»Dämon?«, flüsterte ich leise. Mit der Erkenntnis begann mein Herz plötzlich so schnell zu pochen, dass ich kaum atmen konnte. Mir brach der Schweiß auf der Stirn aus, mein Herz pumpte Adrenalin durch meine Adern und die leicht abfällige Gleichgültigkeit, die mich zuvor noch beherrscht hatte, war wie weggewischt. So war es immer.
Während der Zeit zwischen der Jagd fühlte ich mich meist wie ein normaler Teenager, zumindest bezeichnete mich Lucy als einen. Ich nörgelte. Ich war unausstehlich. Ich wollte ein anderes Leben. Sobald wir uns aber in der Nähe von Gefahr, von Dämonen befanden, spürte ich die Veränderung in meinem Körper. Der Anflug von Gefahr rückte alles Unwichtige in den Hintergrund, sodass ich mich allein auf meine Umgebung konzentrieren konnte. Für mich existierte nichts mehr außer den Dämonen. Denn dafür war ich noch hier. Dafür lebte ich noch. Um ihn zu finden und zu töten. Den Mörder meiner Familie. Ja, ich wusste, dass es zwei Königsdämonen gewesen waren, aber in meinem Kopf existierte nur einer. Derjenige, der die Strippen gezogen hatte. Derjenige, der mein Leben allein deshalb verschont hatte, damit ich in Schmerz und Verzweiflung untergehen würde. Das war sein Versprechen an mich gewesen und ich hatte es nicht vergessen. Es war das, was mich antrieb.
»Bist du bereit?«, fragte mich Lucy, die nichts von meinem inneren Aufruhr mitbekommen hatte. Sie war so ruhig wie eh und je. Ich bewunderte sie für ihre mentale und körperliche Stärke, obwohl ich ihr das niemals sagen würde. Sie würde ein Kompliment nicht zu schätzen wissen und als verschwendeten Gebrauch von Luft und Stimmbänder abstempeln.
»Nimm die Armbrust. Du weißt, was du zu tun hast.«
Ich nickte ernst. Eisern. Die Armbrust, die bis gerade noch an einer Halterung an meinem Rücken befestigt gewesen war, wog schwer in meinen Händen, obwohl ich mittlerweile einige Muskeln aufgebaut hatte. Vielleicht lag es auch an der Schwere der Situation.
Ich überprüfte, ob der Bolzen richtig eingeklemmt war, ehe ich mich neben Lucy positionierte und den Lauf auf den Laden richtete, darauf wartend, dass sich der Schatten nach draußen bewegte.
Es geschah viel schneller, als ich angenommen hatte. Der Schatten kletterte aus dem zerbrochenen Schaufenster, anstatt die Tür zu benutzen.
Eine Schweißperle blieb in meinen Wimpern hängen. Ich blinzelte nicht. Dann sah ich das Gesicht des Mannes, weiße Pupillen blickten in unsere Richtung. Das reichte für mich aus, den Abzug zu drücken und den Bolzen fliegen zu lassen. Der Schatten hatte keine Chance, da sich die Spitze der Waffe erbarmungslos in seine Brust bohrte. Sein Herz hatte ich allerdings verfehlt, das war mir trotz der Entfernung bewusst. Der Bolzen war zu weit rechts eingeschlagen.
»Seine Lunge«, schnaubte Lucy missbilligend und ich wusste, ich würde mir später noch mehr anhören müssen. »Los.«
Der Schatten war auf seine Knie gefallen, konnte sich aber nicht lange aufrecht halten und kippte seitlich auf den harten Boden. Seine Hände umklammerten den Schaft, als würde er versuchen wollen, den Bolzen herauszuziehen.
Lucy und ich pirschten uns vorsichtig heran, immer in Erwartung, dass sich noch weitere Dämonen in der Nähe befanden und uns angriffen. Dieses Mal sollten wir Glück haben. Niemand anderes schloss sich unserer Gesellschaft an, als wir den sterbenden Dämon erreichten, der doch keiner war.
»Lucy?«, hauchte ich überwältigt von der Wahrheit, die sich erst allmählich an mich heranschlich. »Lucy …«
»Du konntest es nicht wissen …«
Jedes Mal, wenn Lucy einen Schattendämon getötet hatte, war er in seiner gewandelten Form geblieben. Niemand hatte sich bisher in seine normale menschliche Form zurückgewandelt. Das passierte einfach nicht. Es konnte also nur Eines bedeuten …
»Er hatte … Seine Pupillen, sie waren doch weiß!«, stammelte ich und versuchte die Schuld von mir zu schieben, während der Mann unter mir gurgelnd die Augen öffnete, die blau waren. Leuchtend blaue Iriden und schwarze Pupillen. Keine Spur von Weiß.
»Es muss der Mond gewesen sein. Seine Augen sind so hell, da passiert so eine Verwechslung schon mal«, antwortete mir Lucy rational, ehe sie sich auf einem Knie abstützte und eine Hand um den Schaft legte.
»Was tust du da?«, rief ich mit Schrecken und viel zu laut. »Er ist ein Mensch! Wir müssen ihm helfen!« Ich wich dem Blick des Mannes aus. Er schien in dem Alter meiner Tante zu sein, doch sie war unberührt von der Tatsache, dass er in einem anderen Leben ihr Freund hätte sein können.
»Ihm ist nicht mehr zu helfen. Sieh nur, seine Lungen sind bereits voller Blut. Er ertrinkt.« Mit einem Kopfnicken deutete sie auf seinen Mund, aus dem in Wellen Blut hervorquoll. Der Mann zuckte unkontrolliert. »Willst du, dass er weiter leidet?«
Tränen hatten sich in meinen Augen gesammelt. Was ich wollte? Ich wollte das hier ungeschehen machen. Ich wollte in mein Bett. Ich wollte …
»Wir haben keine Zeit für deine Heulepisoden, Alison«, sagte sie barsch. »Also?«
Ich schüttelte den Kopf, unfähig etwas zu sagen. Meine Hände waren zu Fäusten geballt.
»Was? Drücke dich aus, Alison, wir sind nicht in einem Stummfilm.« Ich wusste zwar nicht, was ein Stummfilm war, aber ich erkannte den Sinn ihrer Forderung.
»Ich will nicht, dass er leidet«, sagte ich leise.
»Gut, dann tu was dagegen.« Ohne Vorwarnung zog sie den Bolzen heraus, als würde sie mir keine Zeit mehr geben, meine Entscheidung zu überdenken. Der Mann schrie auf, doch der Schrei endete in einem Gurgeln. Sein ganzer Körper zitterte, als würde er unvorstellbare Schmerzen erleiden. Panik durchfuhr mich, doch anstatt mich umzudrehen und fortzulaufen, kniete ich nieder, zog mein Waidblatt, eine Art großes Jagdmesser mit abgeschrägter Spitze, aus der Scheide und stieß ihm die Spitze zielsicher ins Herz. Sein Körper erschlaffte. Die Augen wurden glasig.
Manchmal hasste ich meine Tante mit jeder Faser meines Herzens. Doch jedes Mal, wenn sie in der Vergangenheit diesen Hass in meinen Augen gesehen hatte, hatte sich eine verwirrende Zufriedenheit in ihr Gesicht geschlichen. Als ob meine Ausbildung allein darauf ausgerichtet war, sie zu verabscheuen.
»Sehr gut. Nun …«, setzte sie an, bevor wir gestört wurden. Ein Junge, ungefähr in meinem Alter, stürzte aus dem Nichts hervor, schubste mich nach hinten und beugte sich über den nunmehr leblosen Körper.
»Dad!«, schluchzte er so laut und herzzerreißend, dass es mir einen Schauder über den Rücken jagte.
Ich saß auf dem sandigen Asphalt und beobachtete mit Entsetzen die Szene, die sich vor mir abspielte. Die kleinen Steinchen auf dem Boden schrammten meine Ellbogen, mit denen ich mich nach seiner halbherzigen Attacke aufgestützt hatte, bei jeder noch so kleinen Bewegung weiter auf, doch ich spürte keinen Schmerz.
Ich hatte jemandes Vater getötet. Ich war eine Mörderin.
»Alison!«, rief mich Lucy zur Besinnung. Sie packte mich grob an meinem Oberarm und zerrte mich hoch, um mich wegzubringen.
Es vergingen mehrere Sekunden, in denen ich nur den Jungen sah, der die Leiche seines Vaters umklammerte, als würde er dessen Seele zwingen wollen, im Körper zu verbleiben. Es zerriss mich innerlich.
»Wir können ihn nicht zurücklassen! Er ist doch ganz allein.«
»Glaub mir, das Letzte, was er will, ist, mit der Mörderin seines Vaters zusammen zu sein«, erwiderte Lucy kühl. Daraufhin bedurfte es nicht mehr ihrer Gewalt, um mich fortzuzerren. Ihre Worte hatten den gewünschten Effekt, doch Lucy war noch nicht fertig. »Sollte mich jemand töten, warte nicht auf mich und kehre nicht zurück. Ich bin nicht deine Schwäche. Du hast keine Schwäche, Alison. Sei auf der Hut und lasse dich nie von deinen Emotionen beherrschen. Du brauchst weder Freunde noch Familie, du brauchst nur …« Sie stockte und bevor ich mir einen Reim auf ihre Worte machen konnte, wechselte sie das Thema und ihre Stimme wurde eine Nuance sanfter. Wir ließen die Hauptstraße hinter uns und bogen in eine enger geschnittene Gasse ein. »Fehler passieren nun mal. In dieser Welt sind sie auf der einen Seite schwerwiegender und auf der anderen Seite einfacher.«
»Was meinst du damit?« Ich zitterte am ganzen Leib. Es fiel mir leichter, mich auf das Gespräch zu konzentrieren, als an das Geschehene zu denken. Es würde mich zerstören. Endgültig.
»Die Fehler, die wir nun begehen, wären früher ein Kapitalverbrechen gewesen. Heute aber sind es Fehler, die uns unser Überleben ermöglichen«, weihte sie mich in ihre Weisheit ein, von der ich nicht wusste, was ich von ihr halten sollte. »Du musst lernen loszulassen, Alison.«
»Was soll ich loslassen?« Stirnrunzelnd blieb ich neben ihr stehen. Wir hatten den Stadtrand erreicht und blickten nun die Straße entlang, die sich in die Dunkelheit davonschlängelte. Links und rechts schlossen sich weite vernachlässigte Felder an.
»Deine Menschlichkeit. Deine Gefühle. Dich selbst.« Sie sah mich genau an. »Du bist nicht mehr Alison Talbot.«
»Wer bin ich dann?« Meine Stimme war kaum mehr ein Flüstern. Ich spürte, dass dies die Antwort war, auf die ich die letzten zwei Jahre so sehnlichst gewartet hatte.
»Du bist Rache.«
»Ich bin …« – Rache. Es war eine unbegreifliche Offenbarung. Ich konnte sie nicht aussprechen. Zu groß die Überraschung. Zu frisch die Erkenntnis.
»Es gibt etwas, das ich dir zeigen muss, und ich glaube, ich habe kein Recht, es dir länger vorzuenthalten. Es ist deine Bestimmung.« Sie presste ihre Lippen einen Moment zusammen, als würde sie mit sich ringen. »Komm mit. Wir sollten hier nicht derart angreifbar stehen bleiben.«
Wir betraten das nächstgelegene Einfamilienhaus, sicherten es ab, damit wir von niemandem überrascht werden würden, und fanden uns dann in dem verstaubten Wohnzimmer wieder. Keine zerstörten Möbel.
In einem der Sessel sitzend rubbelte ich mit einem Tuch vergeblich das Blut von meinen Händen, bis ich es aufgab und die Verfärbung meiner Haut stattdessen nüchtern betrachtete. Wenn ich Rache war, dann war es doch nur rechtens, Blut an meinen Händen zu haben. Das war meine Bestimmung.
»Sieh her«, bat mich Lucy mit einer so sanften Stimme, wie ich sie nur einmal, kurz nach meinem Auftauchen bei ihr, gehört hatte. Die meiste Zeit hatte sie mich mit ihrer schroffen Stimme angesprochen, die sie präzise zu nutzen wusste. Als wäre sie früher einmal in der Armee gewesen.
Ich tat wie geheißen, hob meinen Blick und betrachtete ihren flachen, nackten Bauch. Sie hatte sich offensichtlich ihrer Jacke und des Pullovers entledigt, um sich lediglich in ihrem BH bekleidet vor mich hinzustellen. Tante Lucy deutete mit ihrem Zeigefinger auf eine bestimmte Stelle. Eine kleine Erhebung war zu sehen, als wäre dort ein Knochen falsch zusammengewachsen.
»Das ist der Schlüssel, Alison«, flüsterte Lucy voller Ehrfurcht. »Der Schlüssel, um das Portal zur Welt der Dämonen zu öffnen.«
Verblüfft öffnete ich den Mund und versuchte unter der Wölbung die Form eines Schlüssels auszumachen. Unmöglich. Hatte Lucy nun vollends den Verstand verloren? Mir war schon immer klar gewesen, dass sie sehr speziell war, aber das hier? Das überstieg alles bei Weitem.
»Die Tore, das Portal … sie können nur mit dem Schlüssel und dem Schloss geöffnet werden. Beide zusammen haben die Macht dazu. 1986 wurden das letzte Mal die Tore geöffnet und seitdem galt der Schlüssel als verloren. Es dauerte fast zwei Jahrzehnte, bis er wiedergefunden wurde. Fünfzehn Jahre danach konnten die Portale endlich wieder geschlossen werden. Der Schlüssel wurde mir von der vorigen Trägerin anvertraut.« Ich hing an jedem einzelnen Wort, unabhängig davon, ob ich diese Geschichte glauben sollte oder nicht. Es war faszinierend und angsteinflößend zugleich. »Ich muss den Schlüssel beschützen, während er gleichzeitig mich beschützt.«
»Wie meinst du das?« Ich beschloss, vorerst mitzuspielen. Was hatte ich schon zu verlieren?
»Der Schlüssel darf niemals in die Hände von Dämonen gelangen. Die Tore dürfen nie wieder geöffnet werden. Es gibt bereits zu viele Monster hier. Wir können nicht noch mehr einlassen.« Ihre hellbraunen Augen bohrten sich eindringlich in meine. Ich erkannte, dass sie überzeugt war von dem, was sie da sagte. Aber wurde diese Geschichte dadurch wahr? Die Worte meiner Mutter kamen mir wieder in den Sinn. Lucy ist verrückt. Meine Schwester ist unfähig, Traum und Realität voneinander zu unterscheiden. Aber Lucy hatte recht gehabt. Im Gegensatz zum Rest der Welt hatte sie den Untergang der Welt, wie wir sie kannten, vorhergesehen.
»Wer hat diesen Schlüssel erschaffen? Woher stammt er?«
»Das konnte mir Minerva nicht sagen. Sie war die Trägerin vor mir und ihr war der Schlüssel von einer anderen Frau gegeben worden, die ihr ihre Identität nicht preisgegeben hatte.«
»Klingt alles sehr …«
»Es ist die Wahrheit, Alison. Solange der Schlüssel in mir existiert, kann er von niemandem gefunden werden. Ich beschütze ihn und er gibt mir Kraft und Stärke. Durch ihn bin ich zu einer besseren Kämpferin geworden. Und das Gleiche wird er für dich tun.«
»Was?«, stieß ich atemlos hervor. Ich sank tiefer in den Sessel, wollte mit ihm verschmelzen.
Lucy ließ sich auf keine unnötigen Erklärungen ein, sondern befahl mir, mich obenrum frei zu machen. Allein jahrelanges Training unter ihr ließ meinen Körper reagieren.
Ich erhob mich, zog Jacke und Pulli aus und fuhr mir frierend über die Oberarme. Eine Gänsehaut hatte sich auf meinem Körper ausgebreitet.
»Keine Angst«, versuchte mich meine Tante zu beschwichtigen, doch davon kam nichts bei mir an. Ich fühlte mich allein, hilflos, entblößt. »Gib mir deine Hand.« Es war mir unmöglich, mich ihr zu widersetzen und so streckte ich meine Hand aus, die sie über die Wölbung legte, die sich unnatürlich hart unter meinen Fingern anfühlte. »In naher Zukunft werde ich dir diesen Schlüssel überreichen, der dich genauso beschützen wird, wie er mich beschützt hat. Doch ich erlaube dir schon jetzt, ihn vorher einmal zu halten. Zu sehen. Ihn zu fühlen.«
Ich spürte die Wärme unter meiner Hand, die fast unerträglich heiß wurde, ehe meine Finger von etwas zurückgestoßen wurden und sich danach reflexartig um den hervorkommenden Gegenstand schlossen. Es war der Griff eines goldenen, blutbesudelten Schlüssels, den ich Stück für Stück hervorzog. Mir wurde schlecht.
»Weiter«, keuchte Lucy, als würde sie starke Schmerzen erleiden.
Nachdem ich den Schlüssel aus ihrem Körper gezogen hatte, schloss sich die Wunde so schnell, dass ich fast glaubte, sie wäre niemals da gewesen.
Ich wog ihn unsicher in meinen Händen, prägte mir seine Form ein und staunte darüber, dass Lucy doch nicht vollkommen wahnsinnig geworden war. Sie legte einen Finger unter meine Rippen.
»Dort wirst du ihn später fühlen können. Glaub mir, es ist ein fantastisches Gefühl.«
Damit war der Augenblick der Untersuchung abgeschlossen. Lucy führte meine Hände, während wir den groben Schlüssel, der fast so lang war wie meine Handfläche, gemeinsam zurück durch ihre Haut schoben.
Zwei Jahre später würde es die meine sein. Es würde ein wenig ziehen, aber alles in allem nicht sonderlich wehtun, anders offenbar, als wenn man ihn herauszog. Ich würde spüren, wie sich etwas in meinem Körper veränderte, aber das Adrenalin, das durch meine Adern schoss, würde alles taub und verschwommen wirken lassen. Schließlich würde auch das Ende des Schlüssels verschwinden und die Wunde sich schließen. Etwas Blut würde zurückbleiben, zusammen mit der Wölbung, die ich Jahre zuvor das erste Mal bei Lucy gesehen hatte.
»Du bist nun die Hüterin, Alison. Der Schlüssel wird dir die Kraft geben, deine Rolle als Rache einzunehmen. Wenn du dein Ziel erreicht hast, gib den Schlüssel weiter«, würde sie sagen, als wüsste sie bereits, dass sie mit der Weitergabe ihren eigenen Tod besiegelte. Ein paar Monate später würde sie im Kampf gegen einen Schattendämon, den ich daraufhin für sie tötete, sterben.
Mein Ziel. Ich durfte mein Ziel nie aus den Augen verlieren. Meine Rache würde über allem stehen.
Nun legte sie die Hände auf meine Schultern und wartete, bis ich ihren durchdringenden, fast schon fanatischen Blick erwiderte. »Aber was auch immer du tust, öffne niemals das Portal.«
»Niemals«, wiederholte ich leise.
Rache.
Ich bin Rache, hallte es in mir nach und das erste Mal spürte ich bei dem Gedanken so etwas wie Angst in mir aufflackern.