Читать книгу Ein Thron aus Knochen und Schatten - Laura Labas - Страница 8
Kapitel Drei
ОглавлениеDie Kutsche ruckelte heftig, als wir über die Pflastersteine fuhren. In wenigen Augenblicken würden wir den Marktplatz sehen können, der zu dieser Uhrzeit allein von Menschen besucht wurde. Mittags gehörte die Stadt den Menschen, die sich der Vorstellung hingaben, dass es keine Dämonen gab. Nur heute würden wir sie in ihrer Illusion stören, da vor und hinter uns mehrere Königs- und Schattendämonen auf Pferden ritten. Wir Novizen befanden uns in der ersten von den drei Kutschen. Da man uns nicht in Begleitung von Dorian sehen durfte, hatte er die mittlere Kutsche für sich beschlagnahmt. In der letzten saß, soweit ich Bescheid wusste, Eliza mit Bird und zwei weiteren Verletzten, die ihrer Pflege bedurften. Die anderen menschlichen Diener hatten in ihren dunkelgrauen Uniformen neben den Kutschern Platz genommen.
»Alison!«, wies mich Ophelia zurecht. Meine Hand hatte sich zum Vorhang bewegt, der vor einem offenen Fenster angebracht worden war. »Gareths Anweisungen waren klar. Wir dürfen unsere Gesichter unter keinen Umständen zeigen.«
Ich verschränkte die Arme und ließ mich zurück in den Sitz fallen. Ian und Hadley warfen Phi und mir neugierige Blicke zu. Es war nichts Neues, dass wir uns in den Haaren lagen, aber seit dem Kampf gegen die Kaskaden hatten wir uns eigentlich auf einen vorübergehenden Waffenstillstand geeinigt.
»Sorry, hatte vergessen, dass du Gareth immer noch in den Arsch kriechst.« Normalerweise hätte ich sie mit Ignoranz gestraft, doch meine Nerven waren aufgrund unseres hastigen Aufbruchs zum Zerreißen gespannt. Es geschah nicht alle Tage, dass ich es schaffte, ein ganzes Volk gegen mich aufzubringen. Hoffentlich hatte Dorian recht und die Kaskaden würden uns nicht bis in die Stadt folgen. Das wäre eine Katastrophe. Zudem gab es wichtigere Dinge, um die ich mich kümmern musste.
Phi schnaubte. »Ach, komm schon, Aly«, entgegnete sie süffisant. »Damit kannst du mich nicht mehr unterbuttern. Ich weiß, was ich will und wenn es dir nicht passt, sei ruhig.«
Blinzelnd erwiderte ich ihren energischen Blick. Das spitze Kinn hatte sie keck angehoben, während sich ihre blauen Augen in meine bohrten. Sprachlos wandte ich schließlich das Gesicht ab und widerstand dem Drang, ihr wie ein Kleinkind die Zunge rauszustrecken. Wie kam es, dass sie sich plötzlich erwachsener als ich verhielt?
Ich fragte mich, was sie sagen würde, wenn ich ihr von dem nicht ganz unschuldigen Kuss zwischen Gareth und mir erzählte. Nicht, dass sich dadurch etwas geändert hätte, außer dass ich von mir selbst angewidert war.
»Es ist echt viel los hier draußen«, kommentierte Hadley, der den Vorhang auf seiner Seite ein Stück vorgezogen hatte. Die Beschwerde lag mir bereits auf der Zunge, dass Phi ihn nicht ermahnt hatte, als mir klar wurde, dass sie lediglich darauf wartete. Ihr kalkulierter Blick verriet mir immerhin so viel.
Blöde Kuh.
Ich beugte mich vor und hielt den braunen Vorhang auf meiner Seite zurück, ohne meinen Kopf zu weit rauszustrecken. Hadley hatte recht. Wir kamen nur sehr langsam voran, da die Menschenmenge Mühe hatte, sich in den engen Straßen aufzuteilen. Die Sonne hatte sich zwischen den Wolken hervorgekämpft, was die Massen erklärte. Jeder wollte den warmen Herbsttag genießen.
»Alison?« Hadley spielte mit seinen Dreadlocks, nachdem er den Vorhang wieder fallen gelassen hatte. Neugierig lehnte ich mich vor. »Sag mal, was hast du eigentlich vor, wenn das alles hier vorbei ist? Ich weiß von Bird, dass sie sich an einem sicheren Ort niederlassen möchte. Vielleicht sogar hier in Ascia. Aber was ist mit dir?«
»Was ist mit euch? Ich erinnere mich daran, dass mir recht unhöflich der Mund verboten wurde, als ich euch das letzte Mal danach gefragt habe.« Mein Blick huschte kurz zu Phi, doch sie nahm den dargebotenen Köder nicht an. Verdammt. Sie spielte mir ihre neu gewonnene Reife wirklich nicht vor. Oder sie konnte nur sehr lange daran festhalten.
»Nur etwas Geld besitzen. Sicherheit. Und Phi möchte ihren Vater finden«, verriet er, bevor sie ihn aufhalten konnte.
»Du sollst mich nicht so nennen«, stieß sie wütend hervor, ehe sie ihren Blick abwandte und eine sture Haltung einnahm.
»Sorry«, entschuldigte sich Hadley kleinlaut, der der Einzige abgesehen von mir war, der ständig ihren Zorn abbekam. Ian war Phis bester Freund, weshalb er oftmals spielerisch getadelt wurde. Bird war selbst für die Oberzicke ein zu leichtes Opfer und ich glaubte mittlerweile sogar fast, dass Phi die kleine Japanerin ins Herz geschlossen hatte. Des Öfteren hatte sie Bird mit einem nachsichtigen Blick und einem freundlichen Lächeln bedacht. Also blieb nur Hadley als angemessenes Opfer übrig, nachdem wir Clay Dupont im Kampf gegen die Kaskaden verloren hatten. Ich hatte keine sonderlich gute Beziehung zu ihm gehabt, die anderen aber hatten ihn viele Jahre gekannt und man merkte ihnen die Trauer noch an.
»Ich will jemanden finden«, antwortete ich ausweichend, obwohl Hadley nicht weiter nachgebohrt hatte.
»Und Dorian soll dir dabei helfen?«, hakte überraschenderweise Ophelia nach, die wohl vergessen hatte, weiterhin beleidigt zu sein.
»Das ist der Plan, ja«, nickte ich. Mir war nicht ganz klar, was mich nun dazu bewegte, die Wahrheit zu sagen, außer vielleicht, dass wir doch ein Team waren. Es war etwas, mit dem ich noch lernen musste umzugehen. Aus diesem Grund behielt ich die Tiefe meiner Rachegelüste für mich. Evan hatte mich damals aus diesem Grund abgewiesen, da er nicht mit meinem Wunsch nach Vergeltung konkurrieren konnte oder wollte. Bird war die Einzige, der ich mich bisher anvertraut hatte und die mich deshalb nicht anders ansah.
Schließlich ließen wir den Marktplatz hinter uns und fuhren die Auffahrt zum Rathaus hinauf. Da wir nun die meisten Menschen hinter uns gelassen hatten, zog ich den Vorhang komplett zurück und legte meine Unterarme auf die Fensterkante, während ich die gepflegten blauen und violetten Hortensienbüsche betrachtete, die in voller Blüte standen. Eine leichte Brise umwehte mein Gesicht, als ich den Kopf auf meine Arme bettete.
Ich erhaschte das erste Mal seit unserer Abreise einen Blick auf Gareth, der von seinem dunkel gescheckten Hengst stieg und die Zügel einem Stallknecht reichte. Als ob er meinen Blick gespürt hätte, wandte er sich in meine Richtung und runzelte die Stirn. Was er wohl dachte? Ging ihm unser Kuss durch den Kopf? Oder hatte er das Thema bereits für sich abgehakt? Er hatte sehr deutlich gemacht, dass es sich lediglich um körperliche Anziehung handelte und ich keinen Aufstand darum machen sollte, aber wie sollte ich nicht? War es nicht falsch, wenn er sich zu mir und ich mich zu ihm hingezogen fühlte? Er war ein Königsdämon und ich ein Mensch. So etwas sollte doch nicht passieren, oder?
Den Kopf schüttelnd zog ich mich zurück, wartete, bis die Kutsche zum Stehen kam, und ließ dann den anderen den Vortritt. Plötzlich hatte ich es gar nicht mehr so eilig, auszusteigen.
Nachdem ich allerdings die Einzige war, die noch drin saß, konnte ich das Unweigerliche nicht mehr weiter hinauszögern und folgte den Novizen. Sie hatten sich mit den anderen im Foyer versammelt und hörten sich gerade die Wegbeschreibung von einem Bediensteten an, der ihnen den Grundriss des Hauses erklärte.
Ich umfasste meine Tasche fester, als Gareth auf mich zukam. Er überragte mich um mehr als einen Kopf und wirkte in seiner schwarzen Reitbekleidung düster und gefährlich. Auf seiner unteren Gesichtshälfte hatte sich ein dunkler Bartschatten gebildet, der ihn noch attraktiver machte. In meinem Bauch kribbelte es und ich wünschte mir, Ophelia wäre an meiner Seite, damit ich mich über ihr Verhalten Gareth gegenüber lustig machen könnte. Immerhin würde ich dann nicht über mein eigenes nachdenken müssen.
»Dorian möchte mit uns sprechen«, verkündete er mit seiner akzentbehafteten Stimme, ehe er auf die Treppen deutete.
»Uns?«, fragte ich, mich nach meinem Team umschauend, doch sie waren bereits verschwunden.
»Noah, dich und mich«, klärte er mich auf und setzte sich in Bewegung. Selbst ohne Ketten wusste er, dass ich ihm folgen würde. Was blieb mir auch anderes übrig? Ich hatte mit Dorian Ascia einen Pakt geschlossen, den es einzuhalten galt. Zudem brachte es nichts, davonzulaufen, da Dorian Gareth befehlen konnte, mich ausfindig zu machen. Dadurch, dass Gareth mir in regelmäßigen Abständen sein Blut eingeflößt hatte, um meine Trainingsverletzungen zu heilen, hatte sich mein Körper an ihn gebunden. Es erlaubte Gareth, mich immer und überall zu finden. Ob ich das wollte oder nicht, tat dabei nichts zur Sache.
Gareth führte mich in den dritten Stock, wo sich Dorians Spielzimmer befand. Ich wusste nicht, ob er hier auch ein Arbeitszimmer besaß, das dem in unserem Camp ähnelte, da er mich immer nur hier getroffen hatte. Vielleicht wollte er mich auch nirgendwo anders wissen?
Noah und Dorian befanden sich bereits dort, als wir eintraten, und schienen tief in einer Unterhaltung versunken. Beide wirkten keineswegs so, als wären sie die gleiche Strecke wie ich gereist. Ich fühlte mich klebrig, erschöpft und mir schmerzten vom Sitzen sämtliche Gelenke, aber die drei Männer sahen aus, als hätten sie sich gerade frisch herausgeputzt. Jeder war auf seine Weise attraktiv, wobei Dorian knapp fünfzehn Jahre älter aussah als die beiden Dämonen unter seinem Befehl. Ihnen allen war dieser südliche Teint zu eigen, der es mir oft erleichtert hatte zu entscheiden, ob ich es mit einem Dämon oder einem Menschen zu tun hatte. Natürlich durfte man sich genauso wenig darauf verlassen wie auf den Akzent, den Noah als Einziger nicht aufwies. Er gehörte der ersten Generation Dämonen an, die hier auf der Erde geboren worden war. Wie er mir anvertraut hatte, war das kein Vorteil, da sein Vater sich sicher gewesen war, er würde menschliches Blut in sich haben. Es endete darin, dass Noah seinen Bruder durch die Hände seines eigenen Vaters verlor, ohne dass Dorian ihn hatte beschützen können. Mir tat es noch immer im Herzen weh und das, obwohl er ein Schattendämon war. Ich wusste nicht, wie es dazu gekommen war, aber ich sah Noah als meinen Freund an. Umso schmerzhafter war die Ungerechtigkeit, die ihm widerfahren war, schließlich war die Angst seines Vaters vollkommen unbegründet gewesen. Und wenn man einmal genauer darüber nachdachte … Schattendämonen besaßen ohnehin einen menschlichen Vorfahren. Wenn ich mich recht an die Legende erinnerte, so hatte die Dämonenhexe Morrigan zusammen mit Aeshma Königsdämonen gezeugt und als dieser ihrer überdrüssig geworden war, ließ sie sich von einem Menschen trösten. Aus ihrer Verbindung entstanden dann Schattendämonen …
»Gut, dass ihr da seid«, unterbrach Dorian sich selbst in seiner Unterhaltung und wartete, bis Gareth die Tür hinter uns geschlossen hatte.
Meine Augen wanderten zu dem riesigen Billardtisch in der Mitte des Raumes. Die Kugeln waren verschwunden. Dorian trat einen Schritt näher und verlangte dadurch erneut meine Aufmerksamkeit. Er wusste ganz genau, wie er sich gebärden musste, um verschiedene Reaktionen bei seinem Gegenüber auszulösen. Er nahm seine Rolle als Anführer und Puppenspieler sehr ernst.
»Nun, da wir wieder hier sind, wird sich einiges ändern müssen«, begann er, schien aber ausschließlich mit mir zu reden.
Ich ließ meine Tasche fallen, aber er reagierte weder auf mein unabsichtlich despektierliches Verhalten noch auf den Laut, als sie schwer auf dem Boden auftraf. Ich für meinen Teil verzog das Gesicht. Mindestens zwei meiner Rippen waren nach wie vor angebrochen oder geprellt. In meinem Gesicht gab es mehrere blaue und gelbe Flecke, die mich nur bedingt störten. Nach unserem kurzen Gespräch im Camp hatte Gareth keinerlei Anstalten mehr gemacht, mich zu heilen.
»Ich erwarte von dir, dass du mehr Verantwortung übernimmst. Du bist die Anführerin, weshalb du mit deinen Trainern gemeinsam einen Plan entwickeln wirst. Der Kampf gegen die Kaskaden hat uns unsere Defizite schmerzhaft vor Augen geführt. Es liegt nun in deiner Verantwortung, sie besser auf solche und andere Begegnungen vorzubereiten. Außerdem steht noch nicht fest, wie lange ihr in Ascia bleibt, doch soweit es mich betrifft, ist dies für sehr lange Zeit unser letztes Gespräch.«
Mein Gesicht schien meine Verwirrung preiszugeben, da sich ein leichtes Lächeln auf Dorians Gesicht abzeichnete. Er wirkte plötzlich sehr väterlich. Das angegraute Haar trug noch dazu bei, auch wenn er in seiner Kleidung eher wie ein Geschäftsmann aussah.
»Ich muss eine Verbindung zu dir zumindest bis zu einem gewissen Grad verleugnen können. Deshalb wirst du die Befehle ausschließlich von Gareth und Noah erhalten. Hast du noch Fragen?«
»Nein.«
»Also bist du einverstanden?«
Meine Mundwinkel zuckten. »Solange du mir gibst, was ich verlange, gehöre ich dir. Allerdings …« Ich blickte von Gareth zu Noah, da ich mir nicht sicher war, ob sie die Details meiner Abmachung mit Ascia kannten. »Wann wird es so weit sein? Wie lange werde ich mein Leben für dich riskieren müssen, bis ich bekomme, was ich will?«
Die Miene des Königs war regungslos, als würde er während seines Schweigens eine Lüge vorbereiten.
»Die Zeit wird kommen.«
»Nein!«, unterbrach ich ihn sofort. »Ich möchte einen Beweis haben. Eine Art … Zugeständnis, dass du dich an unsere Abmachung hältst.«
Entweder blitzte es in seinen Augen oder ich bildete es mir ein, aber schließlich rang er sich ein Nicken ab. »In vier Monaten werde ich dir einen Namen nennen.«
Die Antwort bestätigte meine lang gehegte Vermutung, dass er bereits wusste, wer hinter der Ermordung meiner Familie steckte, doch er vertraute mir nicht. Er wollte nicht riskieren, dass ich ihn und die Mission verließ, sobald ich einen Anhaltspunkt besaß, wer die Verantwortlichen waren. Mit dieser Einschätzung lag er gar nicht mal falsch … Auch wenn ich meine Situation zu schätzen gelernt und die Ausbildung, die mir hier geboten wurde, angenommen hatte, vergaß ich nie, dass ich mich unter Feinden befand.
»Sonst noch etwas?«
Ich schüttelte den Kopf.
Ascia schien zufrieden mit meiner Antwort zu sein, da er mich mit einem Nicken entließ.
Ich bückte mich steif, hob meine Tasche auf und schlenderte ruhiger, als ich mich fühlte, aus dem Raum. Gareth zog die Tür zu und blieb bei Dorian und Noah.
Nach nur ein paar zurückgelegten Metern hielt ich mit pochendem Herzen inne. Es war vorbei. Ich konnte mir nicht länger vormachen, dass ich dem Königsdämon allein aus einer schwierigen Situation heraushalf. Nein. Es war ernst. Ich würde fallen, wenn Billings je Wind von mir und meinem Team bekäme, und Ascia würde nichts tun, um das zu verhindern. Ich hoffte bloß, dass ich nicht starb, bevor ich meine Rache bekam. Also, wieso nahm ich dieses Risiko auf mich? Ich konnte oder wollte die Frage nicht beantworten.
Eine Hand auf meine linke Seite legend hielt ich inne. Gareth hatte vor so langer Zeit recht gehabt. Ich würde mit meinen Verletzungen nicht anständig trainieren können, insbesondere da ich nun auch die Verantwortung für das Training der anderen trug. Ich würde nicht zulassen, dass sie genauso endeten wie Clay, der nicht vorbereitet gewesen war. Wir dürften vielleicht Königsdämonen unterlegen sein, aber weder Menschen, selbst wenn sie Kaskaden waren, noch Schattendämonen.
Es wäre ohnehin müßig, mich weiterhin gegen Gareths Blut zur Wehr zu setzen, da es mich bereits als seines beansprucht hatte. Eine Faust ballend fasste ich einen Entschluss und blieb weiterhin stehen.
Und dennoch … es war in meinem Leben bereits so viel geschehen, das ich nicht hatte beeinflussen können … Es fiel mir schwer, mich selbst und meine Entscheidungen zu akzeptieren, die teilweise nicht mal meine eigenen gewesen waren. Bis ich zwölf war, hatten meine Eltern für mich entschieden. Lucy hatte die Verantwortung nahtlos übernommen, bis ich fast mein siebzehntes Lebensjahr erreicht hatte, und danach … ja, die Zeitspanne, in der ich Teil der Gilde gewesen war, hatte sie mir gehört? War ich es gewesen, die die Jahre auf der Jagd verbracht und unzählige Schattendämonen getötet hatte, nur weil ich nicht an die wahren Personen herankam, die meine Wut verdient hatten? Ich war mir nicht mehr sicher, wie viel davon mir gehörte, und es war frustrierend.
Gareth riss mich endlich aus diesen trübsinnigen und überwältigenden Gedanken, als er Dorians Zimmer verließ, um den König mit Noah allein zu lassen. Er schien nicht sonderlich überrascht, mich hier anzutreffen, oder er war lediglich wieder einmal gut darin, seine wahren Gefühle vor mir zu verstecken. Ich hatte die Veränderung nach der Bestattung durchaus bemerkt. Er wollte mich nicht mehr an sich heranlassen. Ich konnte nicht mal sagen, ob ich ihn gefühlsmäßig jemals berührt hatte, da er Menschen noch immer verabscheute. Er würde nicht mal mit der Wimper zucken, würde die Menschheit über Nacht ausgelöscht werden.
»Was ist?«
In dem Sonnenlicht, das durch das Fenster am Ende des Flurs trat, waren seine Augen heller, als ich sie je gesehen hatte. Meistens begegneten wir uns in der Nacht, außer wir absolvierten unser Spezialtraining, doch da gingen mir in der Regel andere Dinge durch den Kopf als seine Augen. Wie zum Beispiel, dass ich mich würde übergeben müssen, sollte er mich noch weitere zehn Meter antreiben.
»Ich brauche dein Blut«, sagte ich so gelassen wie möglich, obwohl ich innerlich vor Nervosität Purzelbäume schlug.
Er starrte mich an.
»Ich brau-«, setzte ich erneut an, doch er hob eine seiner vom Kämpfen gezeichneten Hände, um mich zum Schweigen zu bringen.
»Ich habe dich schon verstanden.« Sein Stirnrunzeln verriet allerdings, dass ich ihn mit meiner Forderung verblüfft hatte. »Normalerweise muss ich dich dazu zwingen.«
Ich nickte. »Das ist wahr. Aber meine Rippen sind mindestens geprellt und ich muss dafür sorgen, dass die anderen vernünftig trainieren. Das kann ich nur, wenn ich zu hundert Prozent dabei bin. Glaub mir, ich würde lieber etwas anderes trinken, aber da das Schlimmste jetzt ohnehin schon eingetreten ist …« Ich ließ den Satz ins Leere laufen und zuckte mit den Schultern.
»Das Schlimmste? Deine Bindung an mich.« Ich versuchte in seinem Gesicht zu lesen, doch seine Stirn hatte sich geglättet und gab nichts mehr preis. »Okay.«
Nachdem ich meine Tasche aufgehoben hatte, setzten wir uns stillschweigend in Bewegung.
Das Gewicht schmerzte, aber es hätte noch mehr wehgetan, wenn Gareth die Tasche für mich getragen hätte. Das hätte mein Stolz nicht verkraftet.
Wir erreichten das Zimmer, das ich auch das letzte Mal belegt hatte, nur dass es dieses Mal nicht leer war. Elle wartete auf mich und stürzte nun auf mich zu, um ihre langen, dünnen Arme um mich zu schlingen.
Verblüfft ließ ich die Tasche fallen und erwiderte die Umarmung. Ich hatte ganz vergessen, wie gerne ich die junge Königsdämonin hatte. Ich versuchte mir meine schmerzenden Rippen nicht anmerken zu lassen.
»Hey«, lächelte ich sie an, als sie mich endlich wieder losließ.
»Du bist zurück!«, rief sie unnötigerweise aus. Ihr hübsches Gesicht, das von samtigen braunen Locken umrahmt wurde, strahlte. Sie sah ihrer Tante Liliana unglaublich ähnlich. Dann entdeckte sie Gareth und das Lächeln erstarb. Ich wusste, dass sie großen Respekt vor dem düster dreinblickenden Königsdämon hatte, weshalb ich sie von ihrem Leid erlöste.
»Ich habe noch was zu erledigen. Vielleicht möchtest du bei Bird auf mich warten? Sie ist auch eine Jägerin, aber verletzt«, schlug ich vor. »Ich komme sofort nach.«
Sie nickte eifrig.
»Wirst du sie finden?«
»Ich frage jemanden«, antwortete sie zuversichtlich, drückte mich noch einmal kurz und verschwand dann in ihrem wehenden Kleidchen aus dem Zimmer. Ich fürchtete mich vor dem Tag, an dem sie erwachsen wurde und erkannte, dass eine Freundschaft zwischen Mensch und Dämon unmöglich war.
Ich stutzte. Aber war es das wirklich? Sah ich Noah nicht als meinen Freund an?
Gab es für mich nur einen Unterschied zwischen Königsdämonen und Schattendämonen, weil Erstere direkt für den Tod meiner Familie verantwortlich waren? Ich hatte mir selbst stets gesagt, dass ich lediglich Jagd auf Schattendämonen machte, um zu trainieren und stärker zu werden, damit ich eines Tages einen Kampf gegen Königsdämonen gewinnen konnte. Bedeutete dies also, dass ich mich niemals mit Königsdämonen anfreunden könnte? Nicht einmal mit Elle?
»Soll ich dich mit deinen wichtigen Gedanken allein lassen oder können wir die Sache jetzt hinter uns bringen? Ich habe nicht den ganzen Tag Zeit«, meldete sich Gareth recht verärgert zu Wort.
Ich rollte mit den Augen, schloss die Tür hinter mir und entledigte mich meiner schwarzen Lederjacke. Mein Blick blieb währenddessen auf Gareth gerichtet, der seine Jacke ebenfalls auszog, sie aufs Bett legte und dann einen kleinen Dolch hervorzog, den er immer in einem Gurt direkt auf seiner Brust trug.
Es faszinierte mich auf eine makabre Art und Weise, wie er die Klinge an seinem Unterarm ansetzte und sich selbst eine Verletzung zufügte, um die meine zu lindern.
»Ich werde nicht so viel brauchen«, erklärte ich leise.
»Lass mich das entscheiden«, erwiderte er in schroffer Manier.
Das Blut quoll rot und dickflüssig hervor, während ich mich Gareth näherte. Er hielt mir den Arm hin, den ich mit meinen Händen rechts und links neben der Wunde umfasste und dann an meinen Mund führte. Als der Lebenssaft meine Lippen benetzte, vergaß ich, dass es sich um Blut handelte, schloss meine Augen und genoss den Geschmack von Honig und Sommer auf meiner Zunge. Es war ein berauschendes Gefühl.
Gareth stand hinter mir. Trotz des Highs konnte ich die Wärme seines Oberkörpers, der nur wenige Zentimeter von meinem Rücken entfernt war, spüren. Vielleicht war es auch nur Einbildung, doch seine Nähe ließ mich erzittern.
»Das reicht.«
Gareth zog seinen Arm zurück. Anstatt beschämt die Augen zu schließen, wie ich es sonst immer tat, suchte ich aktiv seinen Blick und wurde nicht enttäuscht. Die seinen verrieten, dass in ihm ein ebenso emotionaler Sturm herrschte wie in mir. Er war nicht schnell genug, die Maske der Gleichgültigkeit wieder aufzusetzen. Als es ihm jedoch gelang, ging ich nervös ins Badezimmer, um zwei Handtücher zu holen. Ich reichte ihm eines für seine Wunde und nutzte das andere, um das Blut von meinem Mund zu wischen.
»Würdest du mir einen Gefallen tun?« Bei meinen Worten hielt er inne, sah mich aber nicht an. »Würdest du Clarke und Ty Bescheid geben, dass ich mit ihnen den Trainingsplan durchgehen möchte? Am besten nach dem Abendessen. Oder dem Frühstück. Ich habe vergessen, welchem Zeitplan wir hier folgen. Das gibt uns allen noch Zeit, uns vorher auszuruhen.«
»Was ist mit Noah?« Er gab mir das Handtuch zurück. Die Blutung war bereits gestillt.
»Ihm sage ich selbst Bescheid.« Ich lächelte unwillkürlich. »Kann ja nicht von dir verlangen, dass du dich meinetwegen in seine Nähe begibst.«
Kurz dachte ich, ihm ein Lächeln entlockt zu haben, doch da war der Moment bereits verstrichen und ich war mir sicher, Opfer einer weiteren Einbildung geworden zu sein.
Er nickte.
»Wir treffen uns auf der Terrasse. Halte dich an den kürzesten Weg«, wies er mich an, bevor er davonschritt.