Читать книгу Ariowist und Inkubus - Lennart Bartenstein (geb. Pletsch) - Страница 14

2. Hilferuf aus Albenbrück

Оглавление

Dann ließ er sie los, marschierte allerdings mit ernster Miene weiter in Richtung der Kate. „Was hast du dir dabei gedacht? Er hätte dich umbringen können, wenn ihm danach gewesen wäre!“, schalt Aldrĭn sie.

„Er hätte überhaupt nichts tun können“, erwiderte Rovinja aufgebracht und folgte ihm auf den Feldweg, „dafür waren viel zu viele Leute da.“

„Ach ja?“, fragte Aldrĭn spöttisch, „aber von denen hat keiner etwas unternommen, als er dich gepackt hat! Wenn ich nicht eingegriffen hätte, dann wärst du zu den Würsten in seinen Sack gesteckt worden und jetzt auf dem Weg in seine Burg! Wie kommst du überhaupt auf so einen törichten Gedanken, ihn so herauszufordern?“

„Er ist ein Schurke, dass hast du selbst oft genug gesagt“, wand sie ein und hatte Recht damit, wie Aldrĭn sich gestehen musste.

„Ist es seit Neuem deine Aufgabe, die Schurken ihrer Gerechtigkeit zuzuführen?“, fragte Aldrĭn, „dann solltest du zumindest in der Lage sein, auf dich selbst aufzupassen! Überhaupt solltest du aufpassen, mit wem du dich einlässt!“

Als er seine Worte ausgesprochen hatte, verstummte Rovinjas Aufbegehren für einen Moment und sie schaute ihn bloß fassungslos an. Schließlich wandelte sich ihr Unglaube in Zorn und sie fragte aufgebracht: „Bist du mir etwa gefolgt?“ Sie hatte Aldrĭns Gedanken augenblicklich enttarnt, weswegen sich seine Antwort bloß in einem schuldbewussten Grummeln verlief.

„Ich bin erwachsen“, stellte Rovinja schließlich fest. Daraufhin schwiegen sie sich den Rest des Weges an. Als sie das Haus erreichten, stand ein kräftiger Schimmel auf dem Grundstück und trank aus dem Trog, der unter dem Brunnen stand. Das Tier war noch gesattelt, also musste der Reiter gerade eben erst eingetroffen sein oder bloß auf der Durchreise. Doch Aldrĭn erkannte das Pferd sofort und im nächsten Augenblick trat sein Besitzer auf die Veranda.

„Onkel!“, rief Rovinja freudestrahlend aus und stürzte auf den Mann zu, der grinsend im Schatten des Vordachs stehen blieb, lässig an den Türrahmen gelehnt. Sie fiel ihm stürmisch in die Arme und er wirbelte sie herum, wie er es getan hatte, seit sie auf eigenen Beinen stehen konnte.

„Ronja, hast du zugenommen?“, fragte Ekiredis, als er sie wieder abstellte. Ronja, so nannte nur er sie, dachte Aldrĭn, während er lächelnd auf seinen alten Freund zuging. Und nicht nur dieser exklusive Spitzname verband die beiden. Obwohl Ekiredis ihnen nur alle paar Monate einmal einen Besuch abstattete, waren er und Rovinja sich von Anfang an sehr zugetan gewesen.

Aldrĭn wusste nicht, ob ihr liebevolles Verhältnis dadurch zustande kam, dass Ekiredis und Rovinja sich in ihrer Abenteuerlust so ähnlich waren oder es ganz einfach daher rührte, dass er im Gegensatz zu ihm selbst und Juliana die einzige erwachsene Person in der Familie war, die sich nicht mit Rovinja über Erziehungsfragen ereifern musste. So oder so waren seine Besuche jedes Mal eine Bereicherung, nicht nur für Aldrĭns Tochter.

Herzlich umarmte er seinen Freund. „Wo habt ihr euch denn herumgetrieben?“, fragte Ekiredis, „ich hatte bereits das Vergnügen mit dem Herrn Puk, aber die eigentlichen Hausherren schienen ausgeflogen.“

„Man sollte nicht meinen, dass man sich in Skaldbach aus den Augen verliert, was?“, meinte Aldrĭn. Er wusste, dass Ekiredis wenig von dem kleinen Ort hielt, der noch dazu so weit ab von allen größeren Städten lag. Als seine Schwester und sein gerade gewonnener Schwager sich damals in die nördlichen Lande verabschiedeten, hatte er kein Verständnis dafür zeigen, geschweige denn ihre Begeisterung teilen können, so fernab von Albenbrück sesshaft zu werden.

Ekiredis selbst war dem Albenbrücker Rat beigetreten. Schon nach einer Amtsperiode aber, welche fünf Jahre umspannte, hatte er sich aus der Politik zurückgezogen und hatte inzwischen ein gutes Einkommen als Kaufmann. Doch anstatt sich die Gepflogenheiten eines Patriziers anzueignen, genoss Ekiredis vornehmlich das Leben als reisender Händler. Die reichen und alteingesessenen Kaufmänner von Albenbrück sahen auf ihn herab, weil er ihre Ansichten und Einstellungen gegenüber dem Rat nicht teilte.

Er hingegen machte sich über ihre Selbstgefälligkeit lustig und amüsierte sich herzlich darüber, dass keiner der Patrizier je einen Fuß in die Länder gesetzt hatte, aus denen sie ihre kostbaren Waren empfingen. Somit genoss Ekiredis zwar nicht die Vorteile, welche ihm die Mitgliedschaft in der Kaufmannsgilde geboten hätte, doch war er umso ungebundener und freier in seinen Unternehmungen.

Dadurch, dass er jederzeit sein eigener Herr geblieben war, konnte er auch immer, wenn es ihm beliebte, nach Dysthirthéth reisen, um seine Verwandtschaft zu besuchen. „Gibt es Neuigkeiten aus der großen Stadt?“, fragte Aldrĭn. Sie schlenderten zwischen den Beeten um das Häuschen herum und gelangten in den Teil des Gartens, der hinter der Kate in Richtung Norden lag. Hier bedeckten Dappdill, Mangold und Kohlpflanzen die Erde. Hinter den Beeten blühten Apfelbäume neben den letzten Birnen und ergänzten den hölzernen Lattenzaun um eine Art natürliche Begrenzung des Gartens. Dahinter begann ein dunkler Wald, den die Skaldbacher Geltholz nannten und durch den nur ein schmaler Trampelpfad hindurch führte.

„Leider keine guten Neuigkeiten“, antwortete Ekiredis. Sein Tonfall wurde deutlich ernster und seine sonst so kecke Miene wandelte sich zu einem Ausdruck der Besorgnis. „Du weißt ja, dass immer wieder Stimmen laut wurden, die sich gegen den Elbenrat wandten“, erklärte er, „aber dieses Mal könnte es sich um eine ernstzunehmende Bedrohung handeln.“

Seitdem der Rat von Albenbrück nach Ende des triganischen Krieges auch von Ratsherren der Elben gestellt wurde, hatten sich vielfach Adelige und Ritter der alten Riege dagegen aufgelehnt, ihre Rechte und Privilegien nun mit den Alten Völkern teilen zu müssen.

Insbesondere diejenigen der Edelleute, denen man Land und Reichtümer genommen hatte, um sie den Elben zu überlassen, hegten einen ständigen Zorn gegen die neuen Lehensgenossen. Im einfachen Volk war man geteilter Meinung über die Alten Völker. Doch allein der Umstand, dass sich der abfällige Ausdruck Elbenrat etabliert hatte -trotzdem der Rat natürlich weiterhin auch von menschlichen Edelleuten gebildet wurde- zeigte die weit gestreute Skepsis gegenüber der Einflussnahme der Elben.

Allerorts lebte man in freundschaftlicher Nachbarschaft mit ihnen. Doch dass sie die Geschicke des Landes mitbestimmten, stieß auch nach siebzehn Jahren noch häufig auf Argwohn und Ablehnung.

„Wer lehnt sich denn offen gegen den Rat auf?“, fragte Aldrĭn.

„Es gibt Berichte aus dem Süden, dass ein junger Ritter eine beträchtliche Zahl von einflussreichen Männern um sich geschart hat. Ihr erklärtes Ziel ist nichts anderes als der vollständige Ausschluss aller Elben aus dem Rat von Albenbrück.“

Im Verborgenen waren häufig derartige Pläne geschmiedet worden. Doch eine so radikale Forderung hatte keiner der Aristokraten und Ritter bisher an den Rat herangetragen. Es grenzte nach Reichsgesetz an Hochverrat. Aldrĭn konnte sich nicht ausmalen, wer von den einflussreichen Männern, die ihm bekannt waren, derartiges wagte.

„Ich denke, du kennst ihn“, begann Ekiredis den fragenden Blick seines Freundes zu beantworten, „sein Name ist Brenon von Asmond.“

Aldrĭn konnte sich nicht erinnern, den Namen schon einmal gehört zu haben. Doch trotzdem rührte er in ihm ein Gefühl von lange zurückliegender Vertrautheit an. Ekiredis schmunzelte über Aldrĭns Blick, der von angestrengtem Grübeln gekennzeichnet war.

Dann löste er das Rätsel auf: „Erinnerst du dich an den kleinen Jungen, dem wir im Wald von Umbarien begegnet sind?“

„Ich könnte mich nicht mal erinnern, jemals in Umbarien…“, begann Aldrĭn, doch dann drängten sich ihm beinahe vergessene Bilder aus der Vergangenheit auf. Die düsteren und schier unendlich weiten Wälder von Umbarien, dem Heimatland des Grafen von Asyc, hatten sie vor über siebzehn Jahren durchquert, als sie aus Dysthirthéth in den Süden geflohen waren.

Jetzt erklärte sich ihm auch, welchen Bekannten Ekiredis wohl meinte. „Sprichst du von dem kleinen Rotschopf, der mir damals über den Weg gelaufen ist?“, fragte Aldrĭn ungläubig, „der kann doch noch keine Rebellion anführen!“

Ekiredis lachte: „Der kleine Rotschopf ist inzwischen sechsundzwanzig und hat sich ganz schön gemacht, dafür dass wir ihn als armes Waisenkind kennengelernt haben.“

Aldrĭn stutzte einen Augenblick. Er lehnte sich mit verschränkten Armen an einen der Apfelbäume und sah unwillkürlich zu Rovinja hinüber. Sie stand neben ihrem Onkel und erwiderte Aldrĭns Blick fragend. Sie war der lebende Beweis dafür, dass tatsächlich eine ganze Zeit vergangen war seit jenen Tagen.

Siebzehn Jahre seit Albenbrück. Als hätte es erst der Erinnerung durch seinen Freund bedurft, empfand Aldrĭn die Zeit in Skaldbach plötzlich als eine halbe Ewigkeit.

„Ja, du hast Recht“, resümierte er nachdenklich, „er ist wohl alt genug. Und was haben er und seine Kumpanen bitte vor, um ihr Ziel in die Tat umzusetzen?“

„Vor einigen Tagen sprach ein Unterhändler der Gruppe um Brenon vor“, sagte Ekiredis, „Marius hat mir davon erzählt.“

„Marius von Jalúa? Ist er immer noch Mitglied des Rates?“, hakte Aldrĭn ein.

„Nicht bloß ein Mitglied“, erklärte Ekiredis, „der gute Graf ist seit zwei Jahren Konsul. Das hatte ich dir doch sicherlich erzählt!“

„Ich könnte mich zumindest nicht daran erinnern“, entgegnete er.

„Der Jalúa, dem ihr auf Triga begegnet seid?“, fragte Rovinja dazwischen.

„Eben der! Wie oft musstest du deinem Vater denn schon zuhören, wie er die alten Geschichten vorkramt?“, meinte Ekiredis spöttisch, fuhr dann aber fort, „wir sehen uns von Zeit zu Zeit, um Neuigkeiten auszutauschen. Er bat mich, dir eiligst davon zu berichten und gab mir einen Brief mit.“

Ekiredis langte in die Innentasche seines moosgrünen Gewandes und zog einen Umschlag hervor. „Seit wann verstehst du dich denn so prächtig mit Jalúa?“, fragte Aldrĭn schmunzelnd.

„Behaupte ich ja nicht“, gab Ekiredis zurück und reichte ihm den Brief, „allerdings ist er einer der wenigen Edelleute, die zurecht diesen Titel tragen. Er mag ja ein eitler Pfau sein, aber so treu und ehrlich wie er sind wenige der Mächtigen in Albenbrück. Dahingehend hat sich seit den alten Tagen rein gar nichts geändert.“

Aldrĭn nahm die Botschaft entgegen und strich behutsam über das feine Papier. Lange hatte er kein solches Material mehr berührt, denn in Skaldbach konnten die wenigsten lesen oder schreiben und noch weniger vermochten sich überhaupt Papier zu leisten, welches nur in den fernen Städten hergestellt wurde. Er betaste das blutrote Siegel auf der Rückseite des Umschlags und brach es vorsichtig.

„Wer ist der Unterhändler gewesen?“, fragte Aldrĭn, ohne seinen Blick vom Brief abzuwenden. Ekiredis antwortete: „Halldor Granciël.“

Der Klang dieses Namens ließ Aldrĭn unweigerlich aufschrecken und er warf Rovinja einen bedeutsamen Blick zu. Dann versicherte er sich noch einmal, sich nicht verhört zu haben: „Der ehrlose Halldor steht mit Brenon im Bunde?“

„So sieht es aus“, bestätigte Ekiredis achselzuckend, „hattet ihr in letzter Zeit Ärger mit ihm?“ „Das kann man wohl sagen“, murmelte Aldrĭn zerknirscht und wandte sich wieder der Nachricht zu, „aber das erklärt zumindest seine Großspurigkeit.“

Während er den Brief entfaltete, erschienen Juliana und Galeon zwischen den Bäumen des Geltholzes. Sie trug ein weißes Mieder, ähnlich dem von Rovinja und einen erdfarbenen Rock, welcher allerdings an den Seiten schmale Aussparungen hatte, sodass sie sich ungehindert in dem Kleid bewegen konnte. Ihre dunklen Haare hielt sie mit einer Spange zusammen, wie sie es meist während der Arbeit tat. Dies und der Schmutz an ihren Händen wie auch die feinen Schweißperlen auf ihrer Stirn verrieten, dass sie gearbeitet hatte. Über die Schulter geschlagen trug sie eine lederne Tasche mit Werkzeugen.

Der kleine Galeon spielte mit einem Stock herum, welchen er als Schwert zu benutzen schien, um die Brennnesseln und Disteln am Wegesrand zu bekämpfen. Als der Junge, noch vertieft in sein Spiel, den Rest seiner Familie im Garten stehen sah, rannte er freudestrahlend los. Während Galeon und Ekiredis sich mindestens ebenso stürmisch begrüßten, wie Rovinja und er es getan hatten, las Aldrĭn konzentriert die Zeilen von Jalúa:


Werter Freund, es bekümmert mich zutiefst, dass ich nicht eher ein Wort des Grußes an Euch gerichtet habe, sondern damit bis zur Stunde der größten Not wartete. Nun vergebt mir meine Unfreundlichkeit, mit der ich mich jetzo an Euch wende, gefolgt von der untertänigen Bitte um Unterstützung in einer Sache größter Dringlichkeit.

Wie Euch der Erbe des großen Baldur von Klyenna wohl beigebracht hat, steht alles, wofür wir dereinst kämpften, vor einer Bedrohung, wie sie in all den Jahren nicht da gewesen ist. Der Ritter von Asmond, welcher ein Sohn eines großen Helden ist, der einst unter dem Banner der Familie von Klyenna ritt, hat eine Meute von Ehrlosen um sich vereint, die das Ende unseres herrlichen Reiches fordern. Sie werden vor keinem Mittel zurückschrecken, um ihr sinnloses wie frevlerisches Unterfangen zu vollenden. Ein erstes großes Opfer hat diese Bestie gerissen; es ist meine geliebte Heimat Tir’dahall selbst.

Mich erreichte die Botschaft, dass vor einer Woche Berittene in die Feste eingefallen sind, um alle unsere dortigen Elbenfreunde, aber auch jeden meiner kühnen Recken, die sich ihnen entgegenstellten, nieder zu machen und erbarmungslos zu morden. Tir’dahall ist nun unter Kontrolle der Abtrünnigen und es besteht kein Zweifel, dass es sich um das Werk des von Asmond handelt. Indes hat dieser Übeltäter die Saat des Bösen in das Herz unseres Reiches getragen und in Albenbrück große Zweitracht aufkeimen lassen.

Die Ratsherren der Elben und jene der Menschen begegnen sich in großem Argwohn seit jenen Vorkommnissen. Bevor dieser üble Zwist sich aber in der ganzen Stadt und womöglich im ganzen Reich ausbreitet, muss eine starke Hand sie zur Vernunft rufen. Noch achten sie mich, doch wird meine Stimme in den Hallen des Rates bald untergehen, wenn das Schwert gezogen und Blut vergossen wird.

Mit allem gebührenden Respekt erbitte ich daher Eure rasche Hilfe, um den Konflikt beizulegen, welcher vernichten könnte, wofür wir dereinst gekämpft und gelitten haben, nichts anderes nämlich als das freie Land Albenbrück, von Menschen und Elben geteilt. Wenn es eine Hoffnung gibt, die jenseits von Tod und Verderben liegt, so dann in Euren Händen, mein Prinz. In Hochachtung, Marius Anyjon von Jalúa, Zepterträger von Redencia & IV. Konsul des Hohen Rates von Albenbrück.

Während sich die anderen freudig begrüßten und Neuigkeiten austauschten, war Aldrĭn ganz und gar von den Worten seines alten Weggefährten eingenommen. Geistesabwesend ließ er seinen Blick über die Kate und den sonnenbeschienenen Garten wandern. Dann sah er hinauf zu den dicht belaubten Baumkronen, in denen noch die letzten Blüten des Frühlings saßen.

Die Äste bewegten sich im seichten Wind, der vom See herüberwehte. Alles, wofür wir gekämpft und gelitten haben. Seine Aufmerksamkeit richtete sich auf die Menschen vor ihm, aus deren Gesichtern eine tiefe Zufriedenheit sprach, während sie miteinander redeten.

So lange hatte er keinen Gedanken mehr an die ferne Stadt vergeudet und all das Verderben, das einst von dort aus seinen Lauf genommen hatte. Und nun kehrte dies alles an nur einem Tag wieder zu ihm zurück und stürzte sich auf sein Leben wie ein Raubtier auf die ahnungslose Beute.

Mein Prinz. Jalúa wusste, dass Aldrĭn diesen Titel abgelegt hatte, doch offenbar schien er in seinen Augen noch immer der rechtmäßige Thronerbe zu sein. Obwohl es doch Jalúa selbst war, der als Konsul das höchste Amt im Reich bekleidete!

Was könnte der Konsul von einem abgedankten Prinzen wollen? Aldrĭn konnte Jalúa in dieser Sache nicht helfen. Und es gab nichts, weswegen er in seiner Schuld stand. Er würde einen Brief aufsetzen, in dem er Jalúa um Verzeihung bat, doch welcher ihm unmissverständlich klar machte, dass er nicht mit Aldrĭns Rückkehr rechnen konnte.

„Das Gatter ist wieder in Ordnung“, sagte Juliana und riss ihn jäh aus seinen Gedanken. „Danke“, war das Einzige, was er von sich geben konnte, so sehr war er innerlich aufgewühlt.

„Lasst uns etwas auf den Tisch bringen“, schlug Ekiredis vor, „ich habe seit Stunden nichts zwischen die Zähne bekommen!“

Zusammen gingen sie in die Kate, um ein Mittagsmahl zu bereiten.

***

Es war kurz nach Einbruch der Dämmerung und der volle, milchfarbene Mond läutete die Nacht ein. In der Kate wurden die Lichter gelöscht und nachdem sich alle eine gute Nacht gewünscht hatten, blieb Aldrĭn als Letzter und allein in der Küche beim Schein der Kerze sitzen, welche wie ein Irrlicht in der Dunkelheit auf dem großen Eichentisch niederbrannte.

In dicken Tropfen lief das weiße Wachs über den eisernen Kerzenständer. Gedankenverloren schaute Aldrĭn in die Flamme, die in warmen Farben leuchtete, und dachte über die Ereignisse des Tages nach.

Er schreckte hoch, als das Feuer wild flackerte, weil jemand den Raum betreten hatte. Es war Rovinja, die in ein weißes Nachtgewand gekleidet war und sich ihrem Vater gegenübersetzte.

„Hat dich der Tag nicht müde gemacht?“, fragte er. Sie schüttelte den Kopf, schwieg allerdings und blickte ebenfalls in das kleine Licht zwischen ihnen.

Schließlich fragte sie: „Stimmt es, was Halldor gesagt hat?“

„Was meinst du?“, fragte Aldrĭn, obwohl er ahnte, worauf sie hinaus wollte.

„Dass du in Großvaters Gunst standst, Dirion aber nicht.“

Aldrĭn atmete tief ein, bevor er antwortete. Der Ritter hatte in ihm schmerzliche Erinnerungen wachgerufen, die er lange im Verborgenen gehalten hatte. Zumindest hatte er das bis zu diesem Morgen geglaubt.

„Nein, das hat er nicht. Er hat uns beide gleichermaßen geliebt, so wie ich euch“, versicherte er schließlich.

„Dann ist es gut“, schloss sie. Als er aufsah, blickte sie ihn mit einem ernsten Gesichtsausdruck an. Es lag kein Vorwurf in ihren Augen, doch spürte Aldrĭn, dass sie ihn aufforderten, sich zu erklären. Wie erwachsen dieses Gesicht ihm auf einmal erschien, wie erfahren und klug. Ihm war wiederum zu Mute, wie in jenem Augenblick, als Ekiredis ihm von dem kleinen Jungen Brenon berichtet hatte, der nun den Hohen Rat stürzen wollte. Wie hatte er die letzten Jahre so achtlos an sich vorbeiziehen lassen können? Hatte er sich denn vor der ganzen Welt zurückgezogen und seine Augen verschlossen gehalten? Nur um sie jetzt zu öffnen und festzustellen, dass er zu einer anderen Zeit erwachte, in der die Kinder von damals Erwachsene geworden waren und viele der alten Helden wie spurlos verschwunden.

Noch immer blickten ihn die durchdringenden braunen Augen an. „Verzeih mir, dass ich nach dir geschaut habe“, begann er schließlich. Ihre Mimik zeigte keine Regung und er spürte, dass ihr die Entschuldigung nicht zu genügen schien.

„Verzeih mir, dass ich dir gefolgt bin. Ich hatte ein ungutes Gefühl, so als wärest du in Gefahr. Ich habe mich so sehr gesorgt, dass ich dir gefolgt bin. Ich weiß, dass du alt genug bist, um auf dich selbst aufzupassen. Und du wirst deine eigenen Entscheidungen treffen, unabhängig davon, ob sie mir gefallen oder nicht.“

Einen Moment herrschte Stille und die Worte schienen ihre Wirkung zu entfalten. Dann breitete sich ein Lächeln auf ihren Lippen aus und verstohlen sah Rovinja wieder in das Kerzenlicht.

„Eigentlich war ich gekommen, um mich zu entschuldigen“, gab sie schmunzelnd zu, „dafür, dass ich mich in eine so törichte Lage begeben habe. Aber es tut trotzdem gut, das einmal von dir zu hören.“

Eine Last fiel ihm vom Herzen, dass sich die Spannung zwischen ihnen endlich wieder gelöst hatte.

„Verrätst du, was Jalúa von dir wollte?“ Aldrĭn hob die Augenbrauen und hielt einen Moment inne, darüber nachdenkend, ob er Rovinja vom Inhalt des Briefes erzählen sollte. Doch dann erinnerte ihn eine innere Stimme daran, was er ihr gerade zugestanden hatte.

„Er hat mich darum gebeten, ihm im Rat zur Seite zu stehen, damit diese Rebellion aus dem Süden keinen Erfolg hat. Seine Heimatstadt Tir’dahall ist bereits an Brenon gefallen und er fürchtet, dass er bald auch die Kontrolle über Albenbrück verlieren könnte.“

„Dann müssen wir nach Albenbrück aufbrechen und ihm helfen“, meinte Rovinja entschlossen. Aldrĭn schnaufte schmunzelnd und schüttelte den Kopf: „Ich werde Skaldbach nicht verlassen…und wir schon gar nicht.“

„Aber er hat dich doch um Hilfe gebeten. Soweit ich mich erinnere, hast du uns beigebracht, niemandem Hilfe zu verwehren, der darum ersucht, schon gar nicht einem Freund.“

„Das stimmt“, gab Aldrĭn zu, „aber nicht um jeden Preis. Du wirst noch verstehen, dass es einige Dinge gibt, über die du dir nun eine eigene Meinung bilden musst, von denen, die ich dir beigebracht habe. Ich werde nicht gehen und damit alles aufs Spiel setzen.“

***

Am nächsten Morgen stand Aldrĭn mit dem ersten Hahnenschrei auf. Er sammelte einiges Werkzeug zusammen und machte sich auf, noch bevor die anderen erwachten. Dann ging er durch das morgendliche Geltholz, das zu so früher Stunde noch die Feuchte der Nacht in sich trug und einen ganz besonderen Geruch ausströmte.

Die frischen Blätter an den Bäumen, das Moos auf der Borke und alle Gräser und Kräuter des Waldes gaben einen einzigartigen Duft von sich, wie man ihn nur in diesem Gehölz riechen konnte. Einzelne Sonnenstrahlen drangen durch das Blätterdach auf den dunklen, erdigen Waldboden und erweckten das Leben im Geltholz.

Die Ameisen tummelten sich am Wegesrand und die Vögel sangen mit allerlei verschiedenen Stimmen ihre Lieder. Zwischen mehreren jungen Eichen sah Aldrĭn ein Reh, das an den jungen Trieben der Bäume knabberte und verschreckt davon sprang, als es ihn bemerkte. Er schloss die Augen und genoss die Ruhe des Waldes. Niemand würde ihn mehr von diesem Ort des Friedens vertreiben.

Hier, zwischen den knorrigen, alten Laubriesen, hatte auch er seine Wurzeln geschlagen. Es dauerte nicht lange –keine ganze Bolmpfeife, wie Atli Puk zu sagen pflegte-, da hatte er das Wäldchen durchquert und fand die Engenshöh vor sich. Die sanften Hügel formten das saftige Grasland, auf dem die Schafe und Ziegen in den warmen Monaten lebten.

Ein Unterstand, aus einfachen Holzbrettern zusammengezimmert, bot den Tieren Zuflucht vor Niederschlag und Kälte, während ein weiter Zaun die Weide begrenzte. Diesen hatte Juliana am Tag zuvor wieder instand gesetzt, nachdem das Gatter in einem Sturm beinahe gänzlich umgerissen worden war. Das Vieh hatte scheinbar gelernt, dass es außerhalb der behüteten Weide kein lohnenswertes Leben erwartete und so war kein einziges der Tiere davongelaufen.

Weiter nördlich, dort wo die Engenshöh an das schroffe Schieferhochland grenzte, lebten wilde Raubtiere. Ihr Knurren und Heulen konnte man in manchen Nächten aus der Ferne hören. Doch seit vielen Jahren hatte sich keine der Bestien auf weniger denn eine Meile an Skaldbach herangewagt und Aldrĭn hoffte, dass es auch so blieb. Das Vieh auf der Weide war wichtig, um die Familie mit Milch zu versorgen und einmal im Jahr wurden ein oder zwei der Tiere geschlachtet. Außerdem ließ sich die Wolle im Dorf teuer eintauschen.

Er hatte Juliana nicht einmal seine Anerkennung für ihre Arbeit ausgesprochen, stellte Aldrĭn beim Anblick des reparierten Zaunes beschämt fest. Doch war er bei ihrer Rückkehr zu sehr mit der Nachricht aus Albenbrück beschäftigt gewesen. Ekiredis würde heute wieder aufbrechen und mit Sicherheit eine Antwort von Aldrĭn erwarten. Wahrscheinlich wähnte er ihn schon als Begleiter auf seinem Rückweg in die Stadt.

Doch Aldrĭn hatte den Gedanken längst beiseitegeschoben, auf Jalúas Hilfegesuch einzugehen. Er hatte seine Entscheidung getroffen und dabei blieb es. Um einem Streit aus dem Weg zu gehen, hatte er sich schon so früh aus dem Haus geschlichen, doch nun fühlte er sich töricht bei dem Gedanken, dass er sich vor seinem alten Freund versteckte. Ekiredis würde ihn nicht verurteilen für seine Entscheidung, gleichwohl er sie mitnichten würde verstehen, noch gutheißen können.

Aldrĭn legte die Werkzeugtasche ins Gras und zog die Lederstiefel aus. Vor ihm plätscherte die Riemsbeek dahin, jener Bach, der Geltholz und Engenshöh voneinander trennte. Das kühle, klare Wasser war bloß drei Schritt breit, doch konnte der Strom einen leicht von den Füßen reißen, wenn man nicht vorsichtig war. Um auf die andere Seite zu gelangen, hatte Aldrĭn vor Jahren eine einfache Brücke auf Holzpfeilern erbaut.

Doch nun setzte er vorsichtig einen Fuß vor den anderen, um Halt auf den rutschigen Steinen zu gewinnen und weiter in die Mitte des Baches zu gelangen. Dort hatte er eine Korbreuse ausgelegt, in der sich die Aale des Baches verirren sollten. Früher hatte es weitaus mehr Fischfang mit solcherart Netzen im Dorf gegeben. Vor hundert Jahren fischte beinahe die Hälfte der Einwohner im Bach und man hieß diese Männer die Fukenfischer, benannt nach der besonderen Reusenform, die man nur hier, rund um den See Bengadesch, kannte.

Doch irgendwann versiegte die Quelle des großen Skaldbachs, der aus den nördlichen Hochlanden entsprang, und nur noch eine Handvoll Fukenfischer blieb bei ihrem Handwerk. Dazu zählten jene, die ihre Häuser nahe den kleineren Bachläufen hatten, und einer von diesen war die Riemsbeek.

Geknickt stellte Aldrĭn fest, dass sich wieder kein Fisch im Netz verfangen hatte. Es war nun schon der vierte Tag ohne einen Aal im Netz, was ungewöhnlich für dieses Jahr war. Behutsam zog er die Reuse aus dem Wasser und legte sie an Land, um mit der Verbreiterung des Trichters zu beginnen. Er hatte kaum einige Knoten gelöst, da hörte er schon das Geräusch herannahender Pferdehufe, die durch den Wald hallten.

So früh hatte er nicht damit gerechnet. Ohne von seiner Arbeit aufzuschauen, bemerkte er, wie der Schimmel neben ihm Halt machte und ein entspanntes Schnaufen von sich gab, als sein Reiter abstieg. Angestrengt konzentrierte sich Aldrĭn auf seine Arbeit, während zwei braune Stulpenstiefel vor ihm im Ufergras Aufstellung nahmen.

„Was wird das denn?“, fragte Ekiredis und Aldrĭn glaubte einen vorwurfsvollen Unterton in seiner Stimme zu vernehmen. „Ich vergrößere die Reuse, damit mir endlich ein Fisch hineinschwimmt“, gab er trocken zurück und wagte es, Ekiredis für einen kurzen Augenblick in die Augen zu schauen.

Dieser verzog sein Gesicht zu einem Ausdruck, der sich irgendwo zwischen Belustigung und Entnervtheit bewegte.

„Ich meine, warum verziehst du dich zu dieser Tageszeit in einen eiskalten Bach? Noch dazu, obwohl du weißt, dass ich heute abreise?“

Aldrĭn wusste nicht, was er antworten sollte. Bis Ekiredis gekommen war, hatte er an seinem Entschluss unbeirrbar festgehalten. Doch jetzt, wo der Freund im Begriff war, ihn zu verlassen und er dazu stehen musste, Jalúa die Hilfe zu verwehren, jetzt fühlte er sich auf einmal unbeschreiblich feige und ehrlos bei dem Gedanken daran.

Schweigend knüpfte Aldrĭn das Netz weiter auf, bis Ekiredis schließlich sagte: „Du wirst nicht mitkommen.“ In seiner Stimme schwang eine unausgesprochene, doch merklich spürbare Enttäuschung mit und es schmerzte Aldrĭn im Herzen, seine eigene Entscheidung von Ekiredis vorgehalten zu bekommen. Er nickte und sah schuldbewusst auf.

„Das liegt natürlich bei dir“, meinte Ekiredis, „ich hatte sowieso das Gefühl, dass du es ablehnen würdest.“ Kein Vorwurf lag in seiner Stimme. Doch die Worte wogen umso schwerer. Aldrĭn erhob sich vor Ekiredis und legte die Reuse beiseite. In den Augen seines Freundes spiegelte sich wieder, was Aldrĭn eine schlaflose Nacht bereitet hatte. Mit seiner Absage an Jalúa schien es so, als würde er endgültig beenden, was sie alle seit über siebzehn Jahren verband.

Ihre gemeinsamen Erlebnisse hatten Ekiredis und ihn, Juliana, Jalúa und Kalil eng zusammengeschweißt. Und jeder von ihnen hatte die Erinnerung daran all die Jahre im Herzen getragen, jederzeit dazu bereit, sich zusammen mit den Gefährten in neue Abenteuer zu stürzen und neuen Gefahren zu trotzen. Nun sollte dies alles Geschichte sein.

„Kannst du nicht verstehen…“, begann Aldrĭn, doch Ekiredis fiel ihm ins Wort: „Du brauchst dich nicht zu rechtfertigen“, sagte er mit freundlicher Stimmer, „ich hatte vielleicht einfach zu viel erwartet. Es ist ja auch alles schon so lange Vergangenheit.“

Ich hatte ebenfalls mehr von mir erwartet, gestand Aldrĭn sich. Dann umarmte Ekiredis ihn, warf ihm einen schmunzelnden Blick zu und schwang sich wieder aufs Pferd. „Leb wohl! Wir sehen uns in ein paar Wochen oder Monaten, wie üblich“, sagte er und gab dem Ross die Sporen.

Galoppierend verschwand der Schimmel im Wald und bald konnte Aldrĭn die Hufschläge nicht mehr hören. Er hatte nicht damit gerechnet, dass Ekiredis so verständnisvoll sein würde. Und obwohl er ihm keinerlei Vorwürfe gemacht hatte, hinterließ sein Abschied einen bitteren Geschmack. Doch Aldrĭn hatte seine Entscheidung getroffen und er würde sie nicht bereuen, das nahm er sich vor.

Ariowist und Inkubus

Подняться наверх