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Für den Touristen gilt gemäss Reiseführer das Folgende: «Die Region Bündner Oberland oder die Surselva, wie die Region im Rätoromanischen genannt wird, umfasst das Gebiet des Vorderrheintals zwischen dem Flimser Wald und dem Piz Badus, wo der Vorderrhein entspringt, sowie die Seitentäler, Lugnez, Safien und Val Medel.» Das wird auch so in der Schule gesagt. Für denjenigen, der von unten heraufkommt, ist der Grosse Wald zwischen Trin und Laax das Tor zur Surselva: Was über diesem Wald ist, ist die Surselva, was unter diesem Wald ist, ist die Sutselva. Von hier aus wurde die Gegend ein erstes Mal bevölkert. Von unten herauf kam auch die römische Kultur, später die deutsche, dann die Reformation. Die Christianisierung kommt mit Sandalen über den Oberalp, mit den Mönchen, den Missionaren, wie es die Legende will. Über den Lukmanier kommt die Gegenreformation. Die Re­volution kommt 1799 mit Kanonen über den Oberalppass und kurz später noch von unten herauf, unterwirft und brandschatzt. Die Gegenrevolution kommt in der Person eines alten Generals über den Panixerpass, plündert das Dorf, frisst alles auf, tötet die Haustiere, vergewaltigt die Frauen, wird 1999 von den Panixern gefeiert. So sind die Ideen, die Ideologien, das Tal herauf gegen den Rhein oder die Pässe herunter mit den Rheinen gekommen und haben sich zum Teil miteinander vermischt. Einzig die Aufklärung vermochte kaum von Frankreich über die Pässe zu blasen, wie der Historiker des Klosters Disentis, Pater Iso Müller, mit Befriedigung konstatiert: «Der kalte Hauch der Aufklärung wehte in der Cadi wenig oder gar nicht.» Cadi ist das Haus Gottes, das Kloster und die Gemeinden in seinem Umkreis bis und mit Breil.

Über die Pässe sind die Walser gekommen, hinunter ins Safiental, hinunter ins Valsertal, nach Obersaxen, Medel und Tujetsch. Ohne grosse theoretische Ideologien sind sie gekommen, um zu leben und zu bleiben, haben ihre Holzhäuser zu bauen begonnen, das Landschaftsbild revolutioniert. Sie haben ihre Höfe in die Wildnis gestellt, Haus und Stall auf diesen Hang, Haus und Stall auf jenen Hang. Ganz anders als die geschlossenen Dörfer der romanischen Bevölkerung. Mag dies ein abgedroschenes Klischee sein, für beide Kulturen galt das Axiom des Vriner Architekten Gion Antoni Caminada (*1957): «Bauen ist Leben und das Leben ist die Norm des Architekten. Wer das vergisst, verfällt der Beliebigkeit. Für das Bauen wesentlich ist der Ort, denn aus ihm kommt der Entwurf. Auch im Wechselspiel mit dem Fremden. Das Neue, welches entsteht, weist zum Ort und deutet zugleich über den Ort hinaus. Das war schon immer so …» Es wurde später vergessen. Die Hochkonjunktur hat andere Gesetze gehabt. Sie hat aus Bauzeichnern «Architekten» gemacht, die gezeichnet und gebaut haben nach dem Stil: «Baufreiheit für uns Bauzeichner, die wir Architekten sind, und für alle Bauherren», und «Jeder kann bauen, wie und wo er will, er muss es ja selber bezahlen.» Die Hochkonjunktur hat nicht wissen wollen, dass jedes Gebäude in einer Landschaft steht und also eine öffentliche Dimension hat. So kommt es, dass die Bauten der letzten Jahrzehnte den Geschmack der Bauzeichner widerspiegeln. Das ist die absolute Autonomie des einzelnen Bürgers und Bastlers. Die Demokratie des Privaten, die zum Terror wird für ganze Generationen, weil sie gestraft sind, solche Pfuschereien ein Leben lang anzusehen. Jeder Bürger hat seinen eigenen Stil fabriziert, darum haben viele Dörfer keinen Stil mehr. Es herrscht dort ein Tuttifrutti von Bauereien, ein Gebastel von Stilen. Andere Dörfer haben Charakter behalten, Charakter entwickelt. Beispiel Vrin: Wenn Bauen Leben ist, hat Bauen allein einfach und funktional zu sein, keine Kopie, keine Kulisse, nicht Maske, nicht Schnörkel. Die Architektur wird zur öffentlichen Sache, wird selbst funktional, indem sie den Bergdörfern Struktur, Infrastruktur gibt; indem sie dafür sorgt, dass der Bauer, dass der Arbeiter, dass die Strasse, dass die Kirche, die Lebenden, die Toten im Dorf bleiben; indem sie möglichst mit den vorhandenen Materialien – Holz und Stein – arbeitet und so die Arbeit im Dorf behält. Architektur ist nicht mehr Selbstdarstellung des Bauzeichners oder des Bauherrn.

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