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Die Heimat

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Die Surselver sind stolz auf die Surselva, das ist ihre Heimat, nicht die Schweiz. Nicht einmal im Ausland würden viele Surselver, wenn sie gefragt würden, sagen, dass die Schweiz ihre Heimat sei. Einzig, wenn sie in einem Chor sind, singen sie das mit klaren Stimmen, sie sind also nur im Männerchor Schweizer Patrioten. Dies, weil sie, was sie singen, nicht verstehen wollen und weil sie, sich der Autorität des Dirigenten unterwerfend, nicht wagen zu sagen: «Diesen Text singen wir nicht.» Die Texte der Lieder machen mit unseren Sängern, was sie wollen. Die absolute Autorität des gereimten Wortes. Für die Surselver, wenn sie nicht singen, hat die Schweiz etwas mit Eidgenossen, Lanzen und Hellebarden zu tun, mit Bern, mit Sempach, mit Zürich, aber nicht mit der Surselva. Für die romanischen Surselver ist Surselva noch mehr Heimat, wegen ihrer Sprache, die nach der Landschaft das Sursilvan genannt wird. Heimat hat also auch etwas mit Sprache zu tun – nein enger –, mit Dialekt. Die Engadiner sprechen ja auch Romanisch, aber nicht unser Romanisch. Darum ist das Engadin nicht die Heimat der Sursilvans. Im Engadin fühlt sich der Sursilvan als Deutscher. Er wird deutsch angesprochen, hat Preise wie die Tou­risten zu bezahlen, müsste von allem begeistert sein. In Laax auf der Piste sind die Einheimischen, die im Umkreis von zwanzig Autominuten wohnen, Touristen, man redet deutsch mit ihnen, sie haben Preise wie die Fremden zu bezahlen, sollten von der Landschaft begeistert sein, welche ein Zirkus zu sein hat, «Weisse Arena», al­­piner Kampfplatz des surselvischen Amphitheaters. Die Imperatoren des weissen Schnees haben die Berge ge­glättet, den Gletscher behandelt, Steine liquidiert, Wald umgeworfen, Erde aufgewühlt, Kanonen aufgerichtet, Natur beleuchtet. Das wollen die Gäste so und wer zahlt, befiehlt: die Alemannen, die Deutschen, die Italiener, die Holländer, die einheimischen Touristen. Unsere Landschaft ist Produkt geworden. Wie ist es merkwürdig, Tourist in der Heimat zu sein. Arena ist nicht Heimat. Heimat ist dort, wo du nicht Tourist bist, dort, wo du keine Souvenirs kaufst, wo du nicht ständig den Fotoapparat dabei hast, wo du die Museen nicht kennst. Vielleicht dort, wo du dich zu Tode schuftest. Nein, dort ist es schon nicht mehr Heimat. Das wissen die Sursilvans in der Fremde am besten. Dieser Typ von Sursilvan ist aus ökonomischen Gründen in die Schweiz ausgewandert, wegen besserer Lohnperspektiven, der Karriere wegen. Er macht Ferien in der Heimat, besitzt dort ein Maiensäss, eine Wohnung, kommt im Sommer, um Servelas zu grillieren, und im Winter, um Ski zu fahren. Er ist einheimischer Tourist, eine Art sanfter Tourist. Er erzählt ständig, wie es früher hier war. Heimat ist das, was du meinst gehabt zu haben, «was die Zeit unter ihrem Schutt zudeckt; was wir verlieren, ohne vergessen zu können», sagt Iso Camartin. Dann hätte Heimat auch etwas mit Erinnerungen zu tun. Surselvische Heimat ist dort, wo ich das Bild der Dörfer, die Lawinenzüge, das Abschüssige der Hänge, die Bahnen der Pisten, die Neugier der Steinböcke, die Umrisse der Berge kenne oder zu kennen meine, wo ich weiss, an welchen Ecken Geschwindigkeitskontrollen gemacht werden, wo es richtige capuns zu essen gibt. Die Tarotkarten sind Heimat, die Musikgesellschaft, die Jungmannschaft, der Skiclub, das Jagdgesetz.

Auf der Suche nach dem verlorenen Schnee

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