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Die Berge

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Die hohen Berge haben die Fremden verherrlicht, und wegen ihnen haben wir gemerkt, dass sie um uns sind. Sie sind für uns nicht majestätische Kathedralen, ewige, reine. Zwar vielleicht schon ewiger als der ewige Schnee, aber die Berge sind Berge, nicht Freiheitssymbole, nicht intakt, nicht virginal, keine Kontraste zur Zivilisation. Wir wissen noch heute kaum ihre Namen. Das interessiert uns nicht. Weil die höchsten überhaupt nicht vom Rheintal aus zu sehen sind, sind sie irgendwie virtuell. Vom Tödi reden alle respektvoll, fast leise, wie wenn sie über den Everest reden würden, er ist schliesslich auch unser Everest. Und von beiden Bergen wissen wir gleichviel, nämlich nichts. Fazit: Tödi und Oberalpstock sind zwar respektable Grössen, aber unbekannte, darum brauchen wir auch fast exklusiv ihre deutschen Namen statt der romanischen Russein und Tgietschen.

Der Berg ist für uns also anonym. Von der Masse der Berge um uns kennen wir weder Silhouette noch Name. Sie verstehen sich für uns von selbst, ohne Etikette. Sie ­gehören zu uns. Wir sind die Berge. Landschaften ohne Berge wären für uns keine richtigen Landschaften. Sind das überhaupt Landschaften? Gibt es überhaupt solche? «Gibt’s Länder, Vater, wo nicht Berge sind?» Das ist die Frage, die den Bergler am besten charakterisiert. Hier hat es Schiller auf den Punkt gebracht. So fühlen wir. Aber wenn er, vom Nebel des deutschen Idealismus umhüllt, «Auf den Bergen ist Freiheit!» posaunt, dann ist das ein Flachländer, der etwas ­behauptet; dann verwan­delt er sich in einen Touristen oder im schlimmsten Fall in einen Werbeagenten, der seine Platte aufgelegt hat. In den Bergen, meinen jene, sei die Freiheit in dem Sinne zu verstehen, dass sie tun können, was sie wollen: zelten, ihre Hunde frei und ungehindert herumspringen lassen, hinter jedem Stein die Hosen run­terlassen etc. Für uns sind die Berge Tyrannen, die Perspek­tive, Geist und alles eingrenzen und einengen. Jahrhunderte haben sie uns im Winter – das ist das halbe Jahr – von der Aussenwelt abgeschnitten, isoliert. Immer haben sie mit Lawinen gedroht. Eingeschlossen zu sein, war normal. Heute sind wir daran nicht mehr gewöhnt. Die Strassen haben offen zu sein, damit die Fremden abhauen können, wenn es darauf ankommt. Lawinen, ja cool, aber bitteschön nicht, wenn wir Ferien machen.

Neben den grossen Bergen mit ihrer Aura des Uner­reichbaren ist eine andere Sorte Berge zu nennen, eine Art volkstümlicher Berge. Wenn man von unten heraufkommt und durch Flims hindurch im Stau steht und vor den Deutschen Acht gibt, die auf die Klötze treten und mit dem Blinker weder ein noch aus wissen, ist da einmal der Flimserstein mit seiner titanischen Wand über dem Dorf; würdige Wand, um daran einen himmelstürmenden Prometheus zu schmieden, ein horizontaler Berg ohne Spitze, der oben eine Ebene ist, eine Alp. Er ist immer noch ein Handlungsort für verschiedene Märchen und Sagen, wo Berge stürzen, Blitze blitzen, Kühe verschwinden, wo Hexen ihre Rituale machen, wo uralte Eulen landen und ihre kauzigen Kommentare geben.2 Dann, schaut man geradeaus, erblickt man den Crap Sogn Gion und den Crap Masegn, jetzt magische Kulthügel für Snöber und Carver. Diese bedauernswerten Berge müssen im Winter täglich Tausende von bunten Leuten ertragen, die über sie hinwegflitzen. Wäre es nach den Touristikern gegangen, hätte man sie in Crap I und Crap II umbenennen sollen, scheinen doch diese Bergkuppen mit ihren zungenbrecherischen Namen gegen die hektische Invasion zu protestieren. Wenn die Show der Meute vorbei ist, wenn die Sonne untergegangen ist, beginnen die Pistenmaschinen den Berg hinaufzuschaben. Und jetzt, wenn unser Auto diese «Topregion des Tourismus» hinter sich lässt und gegen Ilanz fährt, sehen wir bald vor uns den vierten volkstümlichen Berg, den Péz Mundaun, den Eckpunkt zwischen dem Rheintal und der Val Lumnezia, von den Lehrern seines Panoramas wegen als Bündner Rigi bezeichnet, jedem surselvischen Schüler der obligatorischen Schulreise wegen, die er mit kurzen Hosen einmal nach dorthin gemacht hat, bekannt.

Eine ganz spezielle Sorte von Bergen sind die heiligen Berge. Heiliger Berg meint hier nicht das Numinose, welches jedem Berg anhaftet, meint auch nicht Berge mit aufgepflanztem Kreuz, womöglich mit romanischen oder lateinischen Sprüchen daran, z.B. E montibus salus – diese Kreuze der Kreuzfahrer mit ihrer Wahnidee, erobern zu müssen. Die heiligen Berge sind im besten Fall mit Antennen und Schirmen bespickt, nationale Berge, je näher dem Gotthard desto hohler.

Auf der Suche nach dem verlorenen Schnee

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