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Die Lawine

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Die Lawinen muss man nehmen, wann sie kommen. Sie überfallen den Bergler mit Angst, Tod und Zerstörung. Er lebt mit der Lawine, weiss, dass sie immer wieder vom Berg heruntergekommen ist, weiss aber auch, dass sie immer wieder den Berg hinaufgegangen ist im Frühling. Das ist das einfache Wissen des Berglers, welches er gebraucht hat, um auszuharren und zu überleben.

Den Journalisten kommen sie als Sensation. Den Gemeinden bringen sie Arbeit und Subventionen. Unsere Lawinen kann man im einundzwanzigsten Jahrhundert nicht mehr zu negativ sehen, ausser man muss sie am ei­genen Leib erfahren. Sie sind Bewegung und Änderung, Eigenwille. Die Zumthor-Kapelle in Sogn Benedetg verdankt ihre Existenz einer Lawine, welche die alte Kapelle zerstört hat. Ganz korrekt wäre: dem Gemeindevorstand, der das Tal mit Bauschutt auffüllen liess, sodass die Lawine gegen die Kapelle hingeführt wurde. Die Lawine also, in Zusammenarbeit mit dem Gemeindevorstand, als Kulturförderin. Der Teufel, der eine Wand der uralten Kapelle zierte, wurde zerstört, später wieder zusammengefügt und treibt jetzt im Pfortengang des Klosters seinen Schabernack. Ein Teufel, nackt wie ein Frosch, der steif auf ­seinem Thron sass als einer, der weiss, dass jemand ihn fotografieren will, breitbeinig, die Krallenhände auf die Oberschenkel gestemmt, dazwischen ein Bauch mit Augen, zwischen den Beinen das schwarze Loch eines kleinen offenen Mundes und hinunter bis zum Boden ein schrecklich langer Schwanz, ein Rüssel, der den Leib eines nackten Sünders umklammert. Dies scheint der Gehörnte ganz lustlos und ohne Gier zu tun, schaut uns wie ein Esel mit dem unschuldigen Gesicht eines Kindes an. Seine lächerlichen Schafsohren stehen gerade ab, aber leicht hängend, was zeigt, dass er ein Gewissen hat. Du, Teufel von Sogn Benedetg, wie viele Generationen haben mit Schrecken auf deinen Unterleib, dann in dein Gesicht geschaut und gesehen, dass es ganz so unerbittlich doch nicht sein kann.

Den Charakter dieser Landschaft geben nicht die Wasser, nicht die Täler, nicht die Gletscher, den Charakter dieser Landschaft gibt schlussendlich der Mensch. Ich fanta­siere die Täler, eingefressen in seinen Schädel, mit Hilfe des Hirns, das frei formt, was es will: vielleicht die Berge, die Kapellen, die Lawinen, die Ferienprospekte, möglicherweise triste Teufel oder brüllende Hirschstiere mit gegen den Himmel gereckten Hälsen oder, wenn es meint, adornische Murmeltiere, die mit Dampf pfeifen. Aber immer ist er, der Schädel, das Zentrum, sieht, was er will, formt seine private Surselva.

Aus dem Rätoromanischen von Christina Tuor-Kurth

Auf der Suche nach dem verlorenen Schnee

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