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Die Geburt der Geschichten

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Es war einmal und es war einmal nicht, eine frühere Zeit, da hängte bei uns niemand Steinbockhörner an die Wand. Das ganze Tier galt als Apotheke. Der hinterletzte seiner Teile wurde verwertet, inklusive Hörner und Fell. Puder und Öle wurden daraus gewonnen. Die Apotheker drückten mit diesen Extrakten Pasten zusammen und machten Salben zum Einreiben und fürchterliche Tinkturen zum Einnehmen, und man erhielt auf diese Weise Qualitäten wie die Standfestigkeit, die Postur, die Potenz, das Profil des Steinbocks.

Das hat sich ein wenig geändert.

In einem echten Bündner Haus wird Ihnen von der Frau Kaffee serviert und vom Hausherrn und Jäger Geschichten – falls er gerne erzählt, sonst erzählen die Tassen. Über diese Eigenart aber später. Es wäre unhöflich, den Kaffee zurückzuweisen. Es wäre unhöflich, den Erzählungen nicht zuzuhören. Sie haben schon längst die ganze Kaffeekanne ausgetrunken und die Erzählungen gehen weiter, und sie würden nie aufhören, wäre nicht der Kaffee ausgegangen und hätten Sie nicht immer und immer wieder betont, Sie dürften nicht zu viel Kaffee trinken. Aber Sie müssen eine zweite Kanne trinken. Man verlangt von den Gästen eine gewisse Höflichkeit, wenn sie schon ins Haus kommen, und diese Höflichkeit bedeutet, mindestens zwei Kannen Kaffee zu leeren und einen guten Teil des Repertoires an Geschichten des Hausherrn oder der Tassen anzuhören, bevor Sie aufstehen und wieder gehen.

Nun ist der Kaffee aus der Kanne natürlich nicht der Kaffee der Maschinen, kein schwarzer Espresso mit einem schönen Schäumchen, sondern eine gestreckte Flüssigkeit, so klar, dass man hindurchsieht. Wegen seiner Klarheit wird er auch caffè da sontga Clara genannt, ein schlechter Kaffee, sozusagen im guten Sinn des Wortes, den können Sie trinken und trinken, ohne dass er Sie kribblig macht und das Hirn austrocknet. Seitdem die Hörner des Steinbocks an der Wand hängen und seine heilenden Kräfte ignoriert werden, ist dieser traditionelle – um nicht zu sagen nationale – Bündner Kaffee der wahre Heiltrunk für Seele und Darm. Und alle trinken sie zu allen Zeiten caffè da sontga Clara: Erwachsene, Jugendliche, Hund und Katze und auch die Wickelkinder nippen an diesem Kaffee genauso gerne wie an der Mutterbrust. Ja, man kann behaupten, er sei die Muttermilch unserer Nation, wie der Schwarztee bei den Engländern. Vor dem Kaffee hatte zwar der Schnaps eine Weile grosse Bedeutung. Er wurde in teuflischen Mengen getrunken wie der Wodka in Russland. Dann vermochten die Moralisten mit scharfen Predigten und polternden Befehlen dieses Getränk zu bannen, welches den angeborenen Schwachsinn und die windschiefen, buckligen, blassgelben, hinkenden, krummen Gestalten hervorbrachte, die nicht alt wurden und entweder an Schwindsucht, Schlagfluss oder Wassersucht starben. So wurde die Kultur des Schnapses vom Ritual des Kaffeetrinkens abgelöst. Kaffee als Heilmittel am Morgen, um wach zu werden, Kaffee am Abend vor dem Zubettgehen, um besser zu schlafen. Kaffee vor dem Zahnarztbesuch zur Beruhigung, Kaffee vor den Prüfungen, um das Gedächtnis zu wecken. Kaffee, um den durchfrorenen Darm la beglia manedla zu wärmen und Kaffee zum Schutz vor der Hitze im Sommer. Ja, es soll sogar Pfarrer geben, die die Messe mit Kaffee zelebrieren. So gross ist die Revolution des Kaffees, dass man ihn in Thermosflaschen im Rucksack des Jägers ebenso findet wie auf dem Altar des Priesters.

Kaffee für alle und überall. Und jede Hausfrau hat immer zwei Thermoskrüge warmen Kaffees bereit für den Fall, dass jemand unerwartet zur Tür hereinkommt, und sie stellt sofort eine neue Pfanne mit Wasser auf den Herd für einen dritten Reservekrug. Die erste Frage ist immer: «Vul in tec caffè?» Und bevor Sie antworten können, steht das Getränk schon vor ihrer Nase, und wenn Sie vor lauter Höflichkeit nicht aufpassen wie der Teufel auf die Seelen, werden gleich noch vier, fünf Löffel Zucker für Sie hineingetan und Sie haben selber nur zu trinken und zuzuhören.

Nun sind die Bergler entweder furchtbar schweigsam oder schreckliche Schwätzer.

Auch die Unterländer waren früher nicht anders. Walter Benjamin erzählt uns von Arnold Böcklin, dessen Sohn Carlo und Gottfried Keller folgende Geschichte:

«Sie sassen eines Tages wie des öftern im Wirtshaus. Ihr Stammtisch war durch die wortkarge, verschlossene Art seiner Zechgenossen seit Langem berühmt. Auch diesmal sass die Gesellschaft schweigend beisammen. Da bemerkte, nach Ablauf einer langen Zeit, der junge Böcklin: ‹Heiss ist’s›, und nachdem eine Viertelstunde vergangen war, der ältere: ‹Und windstill!› Keller seinerseits wartete eine Weile; dann erhob er sich mit den Worten: ‹Unter Schwätzern will ich nicht trinken.›»

Die Bergler sind noch heute furchtbar schweigsam oder schreckliche Schwätzer. Zu welcher Gruppe sie gehören, kann man an dem Service ablesen, in dem sie den Kaffee servieren. Bei den Schwätzern sind die Tassen weiss, braun, gelb. Bei denen, die wenig oder gar nicht reden, sind die Tassen mit jeweils einem ovalen Bild verziert. Dort erzählen die Tassen. Ich erinnere mich an die Tassen von früher, als ich ein Bub war, Tassen mit dem Motiv des Angelusläutens von Jean François Millet und mit den Variationen des extravaganten Salvador Dalí, der im «An­gelus»-Motiv, wie mein Grossvater, ein unvermutetes Drama sah, «das sich unter den scheinheiligsten Erscheinungen dieser Welt verbirgt».

In einem Haus, in das wir zum Kaffeetrinken gingen, gab es ein Service mit Engeln, die Ordnung machten: Sie warfen Adam und Eva aus dem Paradies, brachten Sünder wieder auf den richtigen Weg, trieben heiligen Josephen Zweifel aus, beschützten Kinder, die über gefährliche Brücken gingen.

Die Toni Mihels besassen ein Service mit lauter heiligen Michaels, die den Teufel vernichteten. Dort lernte ich den Heiligen Michael von Jacob Epstein an der Kathedrale von Coventry, England, kennen und kombinierte sogleich, dass England also das Land der Engel sein müsse. Dieser Erzengel Michael mit riesigen platten Bronzeflügeln sprang wie ein Athlet auf dem Trampolin auf einen gefallenen Engel herab, der sich nicht wehren konnte. Aber ich habe nie geglaubt, er könne den armen Teufel fertigmachen, auch wenn er als «Führer der himmlischen Streitscharen gegen das Satansheer» galt.

Geradezu harmlos waren dagegen die Tassen mit Jagdmotiven bei unseren Jägern, falls die Tassen selber deren Heldentaten erzählten: Steinböcke, die sich aufrichteten, Gemsen, die zusammenbrachen, Hirschstiere, die brüllten. Wie langweilig sind, verglichen mit dem Geschirr der Toni Mihels, die heutigen Servicetassen mit allen Arten amerikanischer Mickymäuse. Oder die Serien von Tassen mit der einschläfernden rätoromanischen Propaganda: Tgi che sa rumantsch, sa dapli.1 – Tgi che sa rumantsch, po dapli. – Tgi che ei rumantschs, ei dapli. Tassen, angefertigt, um den Rätoromanen ihren Komplex auszutreiben.

Wie die Teetrinker und die Krautmischer an das glauben, was sie trinken, sind auch unsere Kaffeetrinker davon überzeugt, dass ihr Getränk Medizin sei. Ich persönlich hatte immer den Verdacht, die heilende Kraft, die man dem Kaffee zusprach, komme eher von der Grossartigkeit der Tassen. Aber je mehr man daran herumstudiert, desto unsicherer wird man. Am leichtesten leben diejenigen, die nicht zu viel studieren. Schon früh hatte mein Grossvater gesagt, nichts zu studieren sei das beste Mittel, um alt zu werden. Er ist trotzdem alt geworden. Um jedoch gesund zu bleiben, müsse man immer um die Geschichten herum sein, um rauchende Tassen und um haufenweise Bücher. Dann könne man Kräuter, Tabletten, Kügeli und Salben vergessen. Er war einer, der nur Tigerbalsam in seiner Apotheke stehen hatte, eine Gemskugel in seinem Hosensack, und einer von der Sorte, die behaupteten, Baldachin komme von Bagdad, und alle lachten und dachten, er mache seltsame Etymologien, und als ich im Lexikon nachschaute, sah ich, dass Baldachin von Bagdad kommt, und ich staunte.

Mein Grossvater und meine Grossmutter hatten ein Service, das mit seiner Imposanz sogar dasjenige der Toni Mihels schlug. Ein Service mit Geschichten aus Tausendundeiner Nacht. Dieses unendliche Geschirr brachte es fertig, dass der Kaffee bei Grossvater und Grossmutter eine nebensächliche Bedeutung zu haben schien. Musste nicht jeder Dummkopf, der einmal bei meinem Grossva­ter, mei­ner Grossmutter zum Kaffeetrinken war, denken, der Kaffee sei nur ein schlechtes, schäbiges Wässerchen verglichen mit einer einzigen Tasse von Tausendundeiner Nacht? Und erst recht alle tausendundeine Tassen, die man in­einan­der schachteln konnte wie die Geschichten Schahrasads, so, dass am Ende nur eine gigantische Tasse da war, welche die ganze orientalische Welt zeigte: Kalifen und Sultane, Karawanen und Kamele, die Krümmung der Säbel und der schnabelartigen Pantoffeln, die Furchtbarkeit der Dschinnen, die aus Korbflaschen quollen und aus Flaschenhälsen rauchten, die Liebesstellungen von Schahriyar und Schahrasad.

Diese grazilen, zerbrechlichen Tassen, durch die man beinahe hindurchsah, erhielten einen schwarzen Farbton, wenn Kaffee darin war, und sie waren, man wusste nicht wie, alle ein bisschen anders. Man hielt auch jede ein bisschen anders. Eine nur leicht seitlich am Henkel, und sie kam leicht und mühelos zum Mund. Bei einer anderen ging man mit einem Finger in den Henkel und mit dem Daumen in die Tasse hinein, wie um Gegengewicht zu geben. Eine dritte fasste man nur oben am Tassenrand mit je zwei Fingern. Bei einer vierten machte man aus den Händen eine Schale, wie um die Wärme zwischen den hohlen Händen und der Tasse zu behalten, und mit dem Kinn streichelte man das Rund des Henkels. Wieder eine andere mit Spuren von Lippenstift am Rand von der Dame, die zuvor daraus getrunken hatte – denn je älter die Grossmutter wurde, desto schlechter wusch sie ab –, drehte man diskret, um am sauberen Rand zu nippen.

Und trotzdem, so mysteriös sie waren, die leeren Tassen erzählten nichts. Es musste Kaffee aus ihnen rauchen, damit sie erzählten. Der Rauch des Kaffees gab den Anfang der Geschichten. Da sah ich, dass man die Dinge dieser Welt nicht sauber voneinander trennen kann, ohne dumm zu werden. Alles geht ineinander und gehört zusammen: Tasse, Kaffee und Rauch.

Als die Amerikaner anfingen, gut und schlecht zu trennen und mit Tausenden von Bomben Bagdad und Basra bombardierten, die Orte von Tausendundeiner Nacht, waren Grossvater und Grossmutter tot. Ich glaube, sie haben sich im Grab umgedreht, die Tassen ihres Services begannen zu zittern und zerbrachen aus Protest. Die Geschichten sind geblieben. Weder Raketen noch Erdbeben können die Geschichten zerstören. Im Gegenteil: In der einen oder der anderen Form, ja sogar neu, kommen sie wieder hervor aus dem Rauch der zerbombten Städte.

Ja, die Geschichten steigen aus dem Rauch auf. Deshalb braucht es den Kaffee in den Tassen. Aus dem Feuerrauch der ersten Menschen sind die Geschichten entstanden: Die Geburt der Geschichten aus dem Geiste des Rauchs. Später haben andere Rauchschwaden Geschichten geboren: Der Dunst des Himmels und des Meeres, der Rauch von Kain, der Dunst des Weihrauchs, der Rauch von Scheiterhaufen und der aus Kaminen. Die «Nibelungen», die «Ilias», die Don Quichotterien kamen aus dem Nebel des Nordens, aus dem Staub des Sandes, aus dem Dunst Spaniens.

Im Anfang war der Rauch. Aus ihm sind die Geschichten gekommen. Der Rauch aber kommt bei uns aus den Tassen mit den Geschichten. Die Geschichten aber erwärmen das Gemüt des Menschen, sodass er früher einzig den Steinbock als Apotheke brauchte und heute, wie ich glaube, nur Tigerbalsam in seiner Apotheke bräuchte, eine Gemskugel in seinem Hosensack und Tausendundeine Ge­schichte im Rucksack, «sodass ihn keine Hinterlist mehr treffen kann».

Aus dem Rätoromanischen von Christina Tuor-Kurth

Auf der Suche nach dem verlorenen Schnee

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