Читать книгу Von geilen, aber nicht allzu aufdringlichen Vampiren, Ehemännern mit Sixpack und Schokolade, die nicht dick macht - Leon Skip - Страница 6
Der Grashüpfer - 1965
ОглавлениеAusgestattet mit kurzer Lederhose, Pfeil und Bogen und einem Vorrat an Schokobananen sitze ich in der sommerlichen Blumenwiese unseres Gartens. Arglos nuckle ich an meinem Arm, der durch die Sonneneinstrahlung so gut riecht.
Die kleinen Wölkchen, die in der warmen Brise wie Schriftzeichen über den Himmel ziehen, verraten kein Geheimnis über den Sinn des Lebens, aber noch frage ich auch nicht nach dem Sinn. Im Schneidersitz drücke ich einen kleinen Fleck Gras nieder wie ein Rehkitz. Das stört mich zwar ein bisschen, denn schließlich sollten Indianer keine verräterischen Spuren hinterlassen, aber auch das reflektiere ich nicht zu Ende. Es krabbelt hie und da auf meinen Schenkeln, es ist warm, aber noch nicht so warm wie in den Zeiten der globalen Erwärmung.
Von solchen Dingen weiß ich noch nichts.
Wie immer bin ich erstaunt über die Dichte des Lebens in der voll blühenden Wiese - am liebsten mag ich das Gezirpe der Grillen. Wie auch immer, tagsüber Gezirpe, abends Gequake, das ist für mich Sommer, auch heute noch.
So viel Leben in dieser Wiese. Und da ist auch dieser kleine Grashüpfer, der in perfekter Camouflage auf dem Sauerampfer-Blatt sitzt und sein kleines sanftes Lied vor sich hin raspelt, um eine noch kleinere Freundin zu finden. Hätte ich ewig zusehen können, wäre da nicht die Spinne mit dem fetten schwarzen Leib als Partycrasher dazwischengekommen, um sich auf meinen kleinen Freund zu stürzen. Ein kurzes Rütteln, der entlastete Grashalm federt nach oben, und beide verschwinden in der Grasnarbe.
Weg.
Sinnlos, den Grashüpfer zu suchen. Vergeblich meine Hoffnung, dass er im nächsten Moment in alter Frische in parabolischem Sprung aus der Grasnarbe flitzt, um auf anderem Halm weiter sein Lied zu verkünden. Überhaupt höre ich nichts mehr. Die Welt ist verstummt und keiner hat in diesem Moment Bock auf Liedchen, welcher Art auch immer.
Die Welt ist unheimlich schön.
Die Welt ist ganz schön unheimlich.
Diese Wahrnehmung lagert sich, völlig unbemerkt, in meinen Hirnwindungen ab, wie nach und nach die Schichten Kalk in einem Waschmaschinenschlauch. Da merkt man auch zuerst nichts, bis dann der Waschmaschinenmechaniker aus der Werbung in sauberem Blaumann mit bedauernder Miene den Schlauch in die Kamera hält, den Kopf schüttelt und einem eine teure Reparatur prophezeit. »Das hätten sie verhindern können«, sagt er besserwisserisch zum Fernsehpublikum. »Nun wird´s teuer.«
Ok, wenn´s um Waschmaschinen geht, gibt´s wenigstens Entkalker, aber wie kriege ich all den Schrecken aus meinem Hirn, der dort skurrile, harte Formen gebildet hat wie Stalaktiten in einer Tropfsteinhöhle. Noch dazu als Kind, das noch nichts davon ahnt, dass sich später an diesen rauen Formen die Lebensträume verfangen werden.
Mein Pech ist, dass ich nie in den Kindergarten geschickt werde. Mutter Hausfrau, Vater Geschäftsmann, wozu soll man da den Kleinen bei Fremden abliefern? Und so schleicht sich dieses süße und bittere Gift der Welt ungefiltert durch freundschaftliches Feedback in meine Wahrnehmungskanäle - ein Stoff, der noch nicht synthetisiert ist und auch nie synthetisiert werden wird. Wozu auch?
Und so kommt es, wie es kommen musste. Ich räuchere, wie alle anderen Bengel, Ameisenbauten aus und zwinge Meerschweinchen, mit Fallschirmen vom höchsten Baum des Gartens die Reise in die Tiefe anzutreten. Ich frage nicht, ob sie das wollen, so wie mich keiner fragt, ob es mir recht ist, dass Atommüllfässer für alle Zeiten unauffindbar am Meeresgrund versenkt werden. Der Lauf des Lebens beginnt - unkontrolliert, unreflektiert -, Innehalten kommt nicht in Frage. Der Indianer, früher im Einklang mit der Natur, fesselt jetzt Freunde an Bäume und vergisst sie dort, bis besorgte Mütter in der Abenddämmerung nach ihnen zu suchen beginnen. Schlechtes Gewissen kommt dann schon auf, zugegeben, aber der Weg zurück ist versperrt.
Fragt man mich, was ich anders machen wollte, könnte ich das Rad der Geschichte zurückdrehen, ich würde den Weg des sanften Indianers beschreiten und sämtliche Kreaturen verschonen. Heute ist es mir unverständlich, dass wir halbe Grillhähnchen aus Massenhaltung um drei Euro neunzig kaufen und sie bedenkenlos in unsere Münder stecken. Egal, ob Motte, Mücke oder Maus, alles gleich viel wert wie wir Menschen. Wenn ich von etwas überzeugt bin, dann davon.
Als Narzisst ohne Scheuklappen gerät man in die hoffnungslose Lage eines Partygastes, der feststellen muss, dass die Musik beschissen ist und schlecht gekleidete Menschen betrunken hinter dem Rücken ihrer Freunde schlecht über sie reden. Auf einer Party hat man sich zu amüsieren, Kritik will keiner hören. Und Wehe dem, der zu genau hinsieht. Versucht mal, euer Bettlaken unters Mikroskop zu legen und euch all die Krabbeltiere anzusehen. Na, noch Lust, euch da wieder draufzulegen? Nein, will keiner. Ich meine, keiner will sich´s unter dem Mikroskop ansehen.
So entfernt sich der Narzisst von der Welt.
Ein schleichender Prozess, der Träume frisst wie King Kong Jungfrauen.
Später, sehr viel später, im Knast, verordne ich mir eine Zen-Kur und übe mich darin, selbst der abgedrehtesten, ausweglosesten Situation ein Körnchen Positives abzutrotzen, was natürlich leichter fällt, wenn man an Gott, Karma oder Ähnliches glaubt. Ich nehme den harten Weg, ohne Glauben. Und so entwickelt sich meine große kriminelle Energie - Zitat der Staatsanwältin – die mich dazu trieb, die Dinge bis auf ihren Grund auszuleuchten. Schade, dass ich jetzt sicherheitshalber erwähnen muss, dass kriminell in diesem Zusammenhang nichts mit Gewalt oder Betrug zu tun hat, sondern mit Abgrenzung von der Norm und dem Heranreifen radikaler Ansätze, die in der Folge der Treibstoff für mein Leben werden. Wer bereit ist, die Dinge von einer erfrischend neuen Perspektive zu betrachten, sollte einmal folgendes Gedankenexperiment wagen:
Nehmt an, die Welt steht auf dem Kopf, ich meine damit: so gut wie alle Vorstellungen, die existieren, sind falsch und ich meine, so richtig falsch. O.K., das klingt jetzt nach Verallgemeinerung und reichlich unpräzise, zugegeben. Deshalb ein Beispiel, das ich später in meinen Ernährungs-beratungen Kunden gebe, die sich endlich gesund ernähren wollen. Der Rat ist klar wie ein lupenreiner Diamant, unmissverständlich und leicht auszuprobieren: Du willst gesund leben? Dann kaufe nichts, wofür Werbung gemacht wird! Da formt sich der Mund zu einem »O«, Stirnfalten künden von Skepsis, das Hirn arbeitet auf Hochtouren und man versucht sich an all die Plakate zu erinnern, die man in letzter Zeit irgendwo gesehen hat und die für Lebensmittel werben. Verzweifelt bemüht sich der an das Gute in der Welt Hoffende an eine Werbung zu erinnern, die frei von bösen Motiven nur Gutes verkündet und man ärgert sich auch ein bisschen darüber, weil einem nicht sofort was dazu einfällt – verblödet, wie man ist.
Ist das nicht schön?
Das ist Zen.
Dreißig Jahre, nachdem meinen Freund, den Grashüpfer, bei seiner Begegnung mit der Spinne ein düsteres Schicksal ereilt hat, frage ich Don Augustin, den Ayahuasca-Schamanen, was ich tun müsse, um Heiler zu werden. Ich denke: Warum nicht heilen, da kann man doch was Gutes tun, anstatt im Kreis zu denken bis einem schwindlig wird, und heilen kann ich, wenn ich will.
Die Antwort des Heilers ist erschreckend kurz und lautet: »Du musst glauben!« Und das ist echt hinterlistig, weil der gute Mann nicht blöd ist und mich in vollem Umfang durchschaut. Glauben? Damit kann ich nicht aufwarten. Jeder weitere Weg zum Schamanismus ist mir somit in seiner Welt verwehrt; beleidigt und beschämt verstaue ich meine diesbezüglichen Pläne über meine berufliche Entwicklung in diese Richtung in einer der unteren Schubladen meines - wie sagt man? - Geistes? Und doch retten mich wieder einmal die Kräfte genau dieses Geistes, weil ich nicht bereit bin, das Ganze zu verdrängen, sondern es unter mein Mikroskop packe und das Bild scharf stelle.
Glauben! Da kenn ich mich aus.
Es beginnt in der Schule. Als kleiner Hallodri wird man von alten Knilchen mit den nötigen Standards für genormte Weltsicht verseucht und wehe, du passt nicht auf, dann wirst du den Dreck nie mehr los. Also besser gleich alles anzweifeln.
Zuerst mal die Frage von Himmel und Hölle.
Warum sollte der Teufel böse Menschen drangsalieren? Der ist doch selbst böse und sollte sich mit Vergewaltigern, Bankern und demnächst auch mit George Bush prächtig verstehen. Ich meine, George Bush muss sich doch schon mächtig auf die Hölle freuen, denn da geht´s richtig ab mit feiern und da kann der doch Fliegen die Flügel ausreißen und alle lachen drüber. Bitte schickt mir ganz viele Leserbriefe zu dieser Frage und schreibt außen aufs Kuvert <Betr.: Hölle>. Ich verspreche, sie alle zu lesen, wenn originell, und wenn ich was verspreche, dann tu ich das auch.
Dann esoterische Vorstellungen im Allgemeinen:
Du häufst gutes Karma an und wirst dann nicht als Wurm wiedergeboren, sondern als geläuterter Mensch oder Engel oder sowas. Da kann doch was nicht stimmen! Würmer lockern die Erde auf und bescheren uns durch ihr segensreiches Wirken größere Tomaten, grüneren Salat und rundere Melonen. Wir Menschen rotten im Gegenzug die Bienen aus und da wird dann bald gar nichts mehr bestäubt, mal ganz abgesehen von den hundertachtundsiebzig Atombomben-Explosionen auf dem Bikiniatoll. Will gar nicht wissen, wie Godzilla wirklich aussieht, wenn´s so weit ist, dass er seine schleimigen Tentakel aus diesem verseuchten Dreckswasser erhebt und uns eins draufgibt.
Jetzt habe ich mich doch etwas verzettelt, aber man merkt schon, welche Fragen dem jungen Narzissten durch den Kopf gehen, als Seelenfrage und Co. aufs Tapet kommen. Fragen über Fragen, und würde man sich die Antworten einfacherweise ersparen, würde das ein schönes Zen-Koan ergeben. So bleibt aber vieles im Unklaren und halst uns allen so manche unnötige geistige Plackerei auf wie Sudoku oder das Lesen der Frankfurter Allgemeinen Zeitung.