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Kapitel 2 – Phil

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Ich rannte so schnell und weit ich konnte. Am Rande bemerkte ich, dass ich irgendwann das French Quarter verließ und im Garden District war. Aber da ich meine drei Meilen noch nicht vollständig ausgeschöpft hatte, rannte ich weiter. Plötzlich fühlte ich etwas wie eine innere Mahnung, dass ich nicht weitergehen sollte. Widerwillig folgte ich meinem Gefühl. Ich wollte nicht, dass meine Mom sich Sorgen machte, wenn ich meine erlaubten drei Meilen überschritt. Suchend sah ich mich um. Wo war ich?

Es schien so, als ob ich mitten im Nirgendwo war, in einer Wohnsiedlung oder so. Trotzdem waren hier noch erstaunlich viele Touristen und so beschloss ich, ihnen einfach zu folgen. Glücklicherweise bewegten sie sich in die Richtung, aus der ich gekommen war und so war es kein Problem für mich, ihnen zu folgen. Als wir anscheinend an unserem Zielort ankamen, sah ich mich verwundert um. Was wollten die Menschen alle hier?

Wir waren auf einem Friedhof. Dem Lafayette Cemetery, um genau zu sein. Den Namen wusste ich, da er groß auf dem eisernen Torbogen stand, der den Eingang zum Friedhof bildete. Da ich gerade eh nichts Besseres zu tun hatte, betrat ich ihn und schlenderte durch die verschlungenen Wege.

Die meisten der Gruften waren aus weißem Stein und hatten eine ebenso weiße Steintafel auf ihrer Vorderseite, auf der die Namen der Verstorbenen und verschiedene Sprüche eingraviert waren. Vor ihnen standen zumeist frische, teilweise aber auch vertrocknete Blumen, woran man erkannte, ob und wie viele Hinterbliebene ein Verstorbener hatte.

Langsam ging ich zwischen den Gräbern hindurch und genoss die ruhige Stimmung. Mir machten Friedhöfe generell keine Angst, was vielleicht daran lag, dass ich ja selbst irgendwie tot war. Auch wenn ich noch nie gestorben war, wusste ich, dass ich unsterblich war. Ich würde aufhören zu altern, sobald ich so alt wie meine Mutter zu ihrer Verwandlung, also 17, war.

Ich las die Namen auf den Tafeln und überlegte, welche Geschichten wohl hinter ihnen stecken könnten. Einige kamen mir sogar bekannt vor, aber ich konnte sie nicht zuordnen. Wahrscheinlich hatte ich sie mal in einem Buch über New Orleans gelesen, da ich mich schon immer sehr für diese Stadt interessiert hatte. Mom meinte immer, dass ich für mein Alter viel zu erwachsen sei, aber die Geschichte von alten Städten, insbesondere meiner Geburtsstadt, interessierte mich nun einmal mehr als irgendwelche Kinderspiele. Vielleicht lag das aber auch daran, dass ich ja genau genommen auch nicht so war wie andere Kinder meines Alters. Nicht mal ansatzweise, ich war ja noch nicht einmal ein Mensch.

Plötzlich wurde ich aus meinen Gedanken gerissen, als ich einen Namen auf einer Gruft neben mir erkannte. Überrascht drehte ich mich um und ging ein Stück zurück, um den Namen noch einmal zu lesen. Nein, ich hatte mich nicht vertan. Dort, auf einer imposanten, strahlend weißen Gruft, neben halb vertrockneten Rosen, stand in schwungvoller Schrift „Johnson“. Das war der Name meiner Mutter. Genau genommen auch mein Name, aber ich hatte mich noch nie so vorgestellt, da wir unsere Nachnamen in jeder neuen Stadt änderten. Dennoch war mir der Name so vertraut wie mein eigener. Wie viele Johnsons es wohl in einer so großen Stadt wie New Orleans gab? Könnte es sein, dass dies die Gruft von der Familie meiner Mutter war? Von meiner Familie? Mir fielen zwei kleine Gedenktafeln auf, die sorgfältig neben die Rosen gestellt worden waren. Ich betrachtete die erste. Sie zeigte einen kleinen Engel und auf ihr stand „In Gedenken an Baby Johnson“.

Baby Johnson? War ich damit gemeint? Vermutlich, sonst gab es in der Familie Johnson wohl keine Babys.

Ich betrachtete die andere Gedenktafel. Auf ihr war eine Abbildung von dem Gesicht der Toten zu sehen. Zuerst war ich ein wenig geschockt, doch dann wurde mir die Bedeutung klar. Diese Gruft musste wirklich meiner Familie gehören, denn ich blickte direkt in das Gesicht meiner Mutter. Auf ihrer Tafel stand „In Gedenken an Marianne Johnson, geliebte Schwester und Freundin, und an ihren Sohn, der nie das Licht der Welt erblicken durfte“. Moment, mit ihrem Sohn war ganz eindeutig ich gemeint. Aber wem galt dann die andere Tafel? Wer war Baby Johnson?

„Hallo“, sprach mich plötzlich eine Frau an und ich drehte mich um. Ich musterte sie genau und mir fiel sofort ein, wo ich sie schon mal gesehen hatte. Ich erkannte ihre blonden Haare und das Gesicht, das so ähnlich wie das meiner Mutter war, von einem Foto, von dem Mom sich nie trennen konnte. Es zeigte ihre Familie und das vor mir war ganz eindeutig Ariana Johnson, die Schwester meiner Mutter und somit meine Tante. Innerlich schrie ich und verfluchte mich selbst. Mom hatte recht gehabt, die Wahrscheinlichkeit, meinen Verwandten zu begegnen, war enorm groß.

„Bist du ganz alleine hier?“, fragte sie.

Zögernd nickte ich. Es wäre wohl nicht sehr klug, sie zu ignorieren und sie so nur noch mehr auf mich aufmerksam zu machen. Ich war froh, dass ich wenigstens nicht mehr so aussah wie ich selbst, sonst hätte sie mich nachher auch noch erkannt, da ich meinem Vater sehr ähnlich sah.

„Und wieso, wenn ich fragen darf?“

„Ich… ich wollte meine Eltern suchen.“

„Oh, das tut mir leid.“

„Danke. Ich gehe dann mal besser weiter. Hat mich gefreut, Ihre Bekanntschaft zu machen.“ Ich wollte gerade gehen, als sie mich aufhielt.

„Warte! Vielleicht kann ich dir ja helfen, ich bin sehr oft hier“, bot sie an. „Wie hießen denn deine Eltern?“

Kurz überlegte ich, ob ich sie mit einem Zauber außer Gefecht setzen konnte, um zu verschwinden, aber dann konnte ich ein Leben in New Orleans endgültig vergessen. Außerdem wusste ich nicht, wie stark meine Zauber bei einer der Ersten wirken würden, also versuchte ich, einfach etwas Glaubhaftes zu antworten: „Ähm… sie hießen Clayton.“

„Du lügst“, stellte sie fest. „Du bist ein Vampir, oder? Einer von denen.“

Sie verengte die Augen zu Schlitzen und ich wich zurück, doch sie kam nach und zischte: „Wage es ja nicht, auch nur ein einziges Mal wieder hierher zu kommen! Wenn ich dich noch einmal am Grab meiner Schwester sehe, töte ich dich, egal, wie alt du bist oder was sie dir von mir erzählt haben. Ist das klar?“

Eingeschüchtert nickte ich, auch wenn ich nicht alles von dem verstand, was sie sagte. Was meinte sie damit, dass ich „einer von denen“ war? Und wer hätte mir etwas von ihr erzählen sollen?

„Ich habe gefragt, ob das klar ist!“

„J… ja“, stotterte ich. Diese Ariana machte mir Angst, ich hatte das Gefühl, dass sie fähig war, mir in einer Sekunde den Kopf abzureißen. Was wahrscheinlich ja auch der Fall war.

„Gut. Das kannst du deinen anderen kleinen Vampirfreunden übrigens auch ausrichten.“

Eine Antwort blieb mir jedoch zum Glück erspart, als plötzlich Mom vor mir stand und mich so mit ihrem Körper vor der gefährlichen Vampirin verdeckte.

„Wer bist du?“, fragte meine Mutter, vermutlich, um den Schein zu wahren. Dann wandte sie sich an mich: „Geht es dir gut?“

Als ich nickte, drehte sie sich wieder zu ihrer Schwester, die sich gerade mit einem feindseligen Blick vorstellte. „Ariana Johnson. Vielleicht habt ihr schon von mir gehört.“

„Allerdings“, murmelte Mom leise.

„Dann wisst ihr ja auch sicher, dass man sich nicht mit mir und meiner Familie anlegt.“

„Ja. Hatten wir auch nicht vor.“

„Na, dann ist ja gut.“

„Komm, Phil. Wir gehen.“

Beschützend legte sie mir eine Hand auf die Schulter und führte mich vom Friedhof weg. Sobald wir außer Hörweite waren, meinte sie ohne Emotionen in ihrer Stimme: „Das war’s, wir verschwinden von hier. Wir hätten niemals herkommen sollen.“

„Was? Nein! Ich habe doch noch gar nichts gesehen!“, beschwerte ich mich sofort.

„Doch, das hast du. Du hast den Friedhof gesehen und außerdem auch noch deine Ta… Ariana kennengelernt. Hat dich das nicht überzeugt, dass es hier einfach zu gefährlich ist?“

„Nein! Bitte, Mom! Bitte lass uns noch hierbleiben! Ariana hat uns doch gar nicht erkannt! Sie meinte doch selbst, dass sie uns in Ruhe lässt, wenn wir von ihr fern bleiben!“

„Phelipe… es ist einfach zu gefährlich.“

„Nein, das ist es nicht. Du hast Angst, dass uns etwas passiert, aber das wird es nicht. Wenn wir jetzt aber einfach fliehen,…“

„…wird sie sofort auf uns aufmerksam werden“, beendete sie meinen Satz. „Verdammt, wir hätten nie herkommen sollen!“

Traurig und ein wenig schuldig sah ich auf den Boden und sie fügte hinzu: „Aber so sehr ich das auch ändern will, kann ich es nicht. Wir sind nun mal jetzt hier und wir können nicht fort, solange Ariana uns vor Kurzem gesehen hat. Das würde sie nur misstrauisch machen.“

„Das heißt, wir bleiben?“, fragte ich hoffnungsvoll und sie musste schmunzeln.

„Ja, wir bleiben. Bis wir sicher sein können, dass es nicht mehr auffällt, wenn wir gehen.“

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