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Ich bin da!«, rief Cate, und aus der Küche ertönte Lachen. Sie zog den Schlüssel heraus und schloss schnell die Tür, denn es war kalt draußen.

Das Wohnzimmer war dunkel, aber aus der Küche drangen Licht und Musik. Zu dieser Zeit des Abends würde Cates beste Freundin Gina Katsakis sich in der Küche um das schmutzige Geschirr kümmern und auf dem CD-Spieler Mozart laufen lassen. In diesem Haushalt war man gezwungen, nach einem strengen Zeitplan zu leben und viele Abende lang der Zauberflöte zu lauschen. Und Gina, die, als sie mit Cate zusammen Jura studiert hatte, der größte Disco-Fan gewesen war, hatte sich mit dieser neuen Wendung ihres Lebens abgefunden wie mit vielen anderen.

Cate legte ihre Handtasche und eine aromatisch duftende braune Papiertüte auf den Couchtisch, schlüpfte dann aus ihrem Schaffellmantel, schüttelte die winterliche Kälte ab und schaltete die Lampe ein. Der Boden des Wohnzimmers war mit Spielsachen übersät, aber es war kein gewöhnliches Spielzeug. Ein orangerotes Balancierbrett lehnte an der Wand, Schaumstoff-Bausteine, Stapelwürfel und farbige Einlegebrettchen lagen zwischen leeren Saftflaschen und Keksschachteln. Cate hob die Saftflasche auf, dann sammelte sie die farbigen Brettchen ein und verstaute sie in einem Schuhkarton im Regal.

»Räum nicht schon wieder auf, Fante!«, rief Gina aus der Küche.

»Nur ganz kurz!« Cate nahm ein großes Heft, das auf dem Boden lag. Die Seite DAS BIN ICH war aufgeschlagen, mit einem neueren Foto. Ein hübscher kleiner Junge mit runden braunen Augen und glänzendem, nachlässig geschnittenem dunkelbraunem Haar posierte vor einer prächtigen Landschaft, die offensichtlich aus dem Kaufhaus stammte. Bei genauerer Betrachtung bemerkte man, dass der Blick des Kindes nach rechts abirrte und mit seinem Lächeln irgendetwas nicht in Ordnung war. Cate klappte das Heft zu, nahm ein paar Kleidungsstücke und legte sie ordentlich auf die Couch.

»Hör endlich auf!«

»Lass mich doch!« Cate verschloss die Keksschachtel und stand auf. Das Zimmer sah jetzt ein wenig besser aus, aber nur, weil es so klein war – ganz anders als Ginas geräumiges Haus im Tudor-Stil, das sie vor ihrer Scheidung im Vorort Villanova bewohnt hatte.

»Langsam werde ich böse!«

Cate nahm den Papierkorb und die braune Tüte und ging in die Küche, wo Gina in einem überweiten pinkfarbenen Strickpulli und überweiten Jeans am Spülbecken stand. Gerade leerte sie einen Topf voll kochenden Wassers in das Becken. Dampf stieg auf und erfüllte den kleinen Raum, sodass das Fenster beschlug. Offenbar gab es wieder einmal Spaghetti; es war das Einzige, was Warren aß.

»Ich hasse es, wenn du aufräumst.« Gina drehte sich um und runzelte in gespielter Empörung die Stirn. Auch wenn das Gefühl nicht echt war – ihre großen dunklen Augen schienen aufzuglühen, ihre dunklen Brauen zogen sich wie straff gezogene Bogen in die Länge, und die vollen Lippen unter der gebogenen Nase, die sonst so gern lachten, schoben sich trotzig vor. Gina Katsakis war Maria Callas mit einem Abschluss in Jura.

»Hallo, Süße.« Cate leerte den Papierkorb und stellte die braune Tüte neben Warren auf den Küchentisch. Der Dreijährige saß in seinem blau gepolsterten Hochstuhl, ohne sie zu bemerken. Sein Blick konzentrierte sich ganz auf den Dampf an der beschlagenen Fensterscheibe. Cate wusste, dass er Zeit brauchte, um sich an ihre Anwesenheit zu gewöhnen, deshalb begrüßte sie ihn nicht. Stattdessen sagte sie: »Hier ist das Abendessen.«

Gina ging in ihren braunen Pantoffeln zum Tisch und spähte in die braune Tüte. »Was hast du da mitgebracht?«

»Was ich immer mitbringe. Koks natürlich.«

»Curryhühnchen!« Gina griff eifrig in die Tüte. »Und es ist noch heiß!« Sie zog eine weiße chinesische Styroporschachtel heraus und hielt sie mit einem breiten Lächeln in die Höhe. »Weißt du, was ich das Tollste finde?«

»Dass es nichts kostet?«

»Nein, die Schachtel.« Gina deutete auf die aufgedruckten roten Buchstaben. »Dieser Satz. Nur ein chinesisches Restaurant kann sich so etwas leisten. ›Wir lieben unsere Kunden.‹ Was sagt man dazu? Sie lieben uns!«

»Warum auch nicht?«, fragte Cate, aber eigentlich hatte sie keine Meinung dazu. Sie wusste, dass ihre Freundin einfach jemanden zum Reden brauchte, weil der Tag in ihren engen vier Wänden sie erschöpft hatte. Sie dachte an Das Bier für die schönsten Stunden des Tages. Dies waren nicht Ginas schönste Stunden.

»Es ist wie in meiner Reinigung.« Gina holte auch die andere Schachtel mit Hühnchen aus der Tüte, und dann die Schachteln mit Reis und Frühlingsrollen. »Da steht auf den Kleiderbügeln: ›Wir hören unseren Kunden zu.‹ Das finde ich super. Es sollte einfach mehr Liebe in unseren Geschäftsbeziehungen geben, finde ich. Du nicht?«

»Ich brauche nicht mal Liebe in meinen Liebesbeziehungen«, antwortete Cate. Dann erschrak sie über sich selbst, aber Gina hatte ihr ohnehin kaum zugehört.

»Du hast übrigens gerade unsere neue Frau Doktor verpasst.«

»Wer ist das?«

»Eine, die an allem etwas auszusetzen hat, wie Mike. Weißt du noch, wie er war? Alles hat ihm nicht gepasst. Flecken an der Wand, Sachen, die auf dem Boden lagen. Das ist eben das Problem, niemand ist mehr liebevoll.« Gina ging zur Schublade, holte Besteck und zwei gefaltete Servietten heraus. »Unsere neue Sprachtherapeutin. Sie ist wirklich schrecklich. Kein Vergleich mit Lisa. Sie hält Distanz. Setzt sich nicht ein. Sie ist kalt.«

»Das ist wirklich bedauerlich.« Cate öffnete den Schrank und holte mit automatischen Bewegungen zwei Essteller aus einem Fach. Immer, wenn sie montagabends zum Babysitten kam, deckten sie auf die gleiche Weise den Tisch, mit eingespielten Bewegungen wie ein betagtes Ehepaar. Ihre Freundschaft hatte nun schon fünfzehn Jahre gehalten, und in dieser Zeit hatte jede von ihnen eine Ehe und eine Scheidung hinter sich gebracht. Auf dem Standesamt hatten sie füreinander als Trauzeuginnen fungiert. Wenn sie einander geheiratet hätten, wäre sicher alles einfacher gewesen.

Gina sagte: »Es ist unmöglich, mit drei verschiedenen Sprachtherapeutinnen in einem halben Jahr zu arbeiten. Wie soll ein Kind wie er mit diesem ständigen Wechsel zurechtkommen?«

»Wahrscheinlich kriegen sie nicht genug bezahlt.« Cate stellte ihre Teller vor die beiden Stühle, zwischen denen Warren saß. Sie warf ihm einen raschen Blick zu, aber er starrte noch immer das beschlagene Fenster an. »Also hattest du heute alle Hände voll zu tun, oder?«

»Ach, es ging. Und wie geht’s dir?« Gina legte Gabel und Messer neben die Servietten, und eine verirrte schwarze Locke fiel auf ihre Wange. Zurzeit ließ sie ihr Haar wieder wachsen, was Cate als ein gutes Vorzeichen betrachtete. »Wie kommst du bei dem großen Prozess voran?«

»Gut.« Cate ging zum Kühlschrank und holte zwei kalte Büchsen Diät-Cola aus der Tür. In den Fächern lagen nur zwei grüne Paprikas, ein paar Eier, ein Salatkopf und einige Erdbeerjoghurts. »Du musst mal wieder einkaufen, Süße.«

»In der Zeitung liest man fast nichts davon, und in den Nachrichten erwähnen sie nicht mal deinen Namen. Du bist einfach nur ›die Richterin‹. Die meiste Aufmerksamkeit bekommen Simone und sein schneidiger Anwalt, dem ich am liebsten eine runterhauen würde. Jeden Tag hält er eine Pressekonferenz ab.«

Cate hielt die Colabüchsen noch in der Hand. »Ich hätte ihm einen Verweis geben sollen. Es wäre der erste Verweis meiner Laufbahn gewesen. Ist das nicht komisch?«

»Den Ersten vergisst eine Frau nie.« Gina setzte sich vor ihren Teller und öffnete eine der Styroporschachteln.

»Und wie geht’s unserem Kleinen?« Cate ging um den Tisch herum zu Warren, der noch immer zum Fenster starrte. Hinter dem Glas war außer kahlen Bäumen nichts zu sehen. Der Dampf löste sich langsam auf. Cate beugte sich vor, bis sie in seinem Gesichtsfeld war, bevor sie mit ihm sprach. So hatte sie es gelernt.

»Hallo, Warren.«

Warren reagierte nicht. Mit achtzehn Monaten hatte sich dieses fröhliche, intelligente und kommunikative Kind einfach in sich selbst zurückgezogen. Es war immer stiller geworden und hatte allmählich zu allen Menschen den Kontakt abgebrochen. Früher hatte er Cate immer stürmisch umarmt und sich von ihr herumtragen lassen, doch nach einer gewissen Zeit hatte er sich auch von ihr zurückgezogen, und dann hatte er zu sprechen aufgehört. Doch Cate glaubte, dass er sie immer noch wahrnahm, dass er hinter seinen starren Augen noch da war und aufnahm, was um ihn herum passierte. »Warren? Hallo, Warren.«

»Er hat immer noch Mittelohrentzündung. Es geht ihm nicht besonders.«

»Warren, hallo«, wiederholte Cate mit melodiöser Stimme, denn sie wusste, dass ihn ein weicher, singender Tonfall beruhigte. Er mochte auch klassische Musik – daher Mozart. Sie prüfte seinen Teller, auf dem die Spaghetti kalt wurden. »Er isst nicht gerade viel.«

»Das kommt schon noch.« Gina aß von ihrem saftigen Curryhühnchen. »Es war ein harter Tag für ihn. Erst diese blöde Sprachtherapeutin, und dann mussten wir auch noch zum Arzt, um uns neue Rezepte zu holen. Ich wünschte, sie würden sie einem schicken.«

»Hallo, Warren.« Cate wusste, dass er sie gehört hatte. Ihre Brust wurde eng, aber sie achtete nicht darauf. »Freut mich, dich zu sehen.«

»Lass es gut sein. Komm und iss.«

»Warren, nach dem Essen sind wir beide allein.« Cate ging zu ihrem Platz und holte sich die andere Styroporschachtel. Weißer Reis fiel heraus und erinnerte sie an die Sandburgen, die sie früher mit Warren am Strand gebaut hatte. Immer wieder hatten sie den dunklen, nassen Sand in ihren Eimern geholt und ihn nach und nach aufgeschüttet. Er war zu Tode erschrocken, wenn er Sandkrebse aufgestöbert hatte, die sich dann emsig wieder in den Boden eingruben, und Cate selbst hatte einen leisen Schreck nicht verbergen können. Es schien so lange her zu sein, und doch war es erst letztes Jahr gewesen.

»Ich frage mich, ob ich heute Abend wirklich weggehen soll.« Gina schob Reis in die Currysauce. Sie betrachtete Warren.

»Geh einkaufen. Mein Patenkind braucht etwas zu essen. Soll ich mit ihm arbeiten oder lieber nicht?«

»Die Arbeit mit dem Spiegel wird ihm guttun. Nur nicht zu lange.« Gina schüttelte den Kopf. »Ich will es keinen einzigen Tag schleifen lassen, damit er nicht wieder zurückfällt.«

»Geh und mach dir keine Sorgen.«

»Danke.« Gina lächelte und schob sich Reis auf die Gabel. »Ich könnte noch unter die Dusche, bevor ich gehe. In letzter Zeit sehen mich sogar die Lebensmittel so merkwürdig an. Vielleicht stoße ich beim Einkaufen ja auch mit jemandem zusammen. Einem Single.«

Cate lächelte. »Was ist denn heute überhaupt passiert? Warum hat er wieder einen Anfall gehabt?«

»Als wir vom Arzt kamen, habe ich versucht, ein wenig mit ihm zu arbeiten.« Gina öffnete ihr Diät-Cola und goss sie sich ins Glas. Die Eiswürfel darin knackten. »Wir haben angefangen mit DAS BIN ICH, ich wollte, dass er das Foto erkennt.«

»Das war der Fehler.« Cate übergoss ihren Reis mit gelber Sauce. »Du hättest mit der sensorischen Integration weitermachen sollen.«

»Ich muss es schließlich am besten wissen, oder?«

»DAS BIN ICH ist Schwachsinn.«

»Noch schlimmer ist nur DU UND ICH.«

»DU UND ICH ist tödlich.«

Gina lachte laut. »Wenn ich mit DU UND ICH besser zurechtkäme, wäre ich jetzt nicht geschieden.«

Sie lachten beide, obwohl es nicht stimmte. Nicht jede Ehe überlebt ein autistisches Kind. Als die Ärzte schließlich die Diagnose für Warren gestellt hatten, hatte Gina ihre Arbeit als Anwältin, spezialisiert auf Versicherungsrecht, aufgegeben und sich der Suche nach den besten Frühförderungsprogrammen gewidmet. Mike, ihr Ehemann, hatte sich zurückgezogen und sich am Ende von ihr getrennt; dennoch ließ er ihr Monat für Monat einen beträchtlichen Scheck zukommen, der die meisten Kosten abdeckte. Cate hatte ein Sparkonto für Warren eingerichtet, auf das sie jährlich einzahlte. Sie würde Gina eines Tages davon erzählen, wenn diese Frau endlich einmal zu reden aufhörte.

»Und was geht in der Außenwelt vor sich, Cate? Wie war dein Wochenende? Hast du irgendwas gemacht?«

»Nein. Nur gearbeitet.«

»Hast du mal von der alten Kanzlei gehört?«

»Nein, sie melden sich nicht. So etwas fänden sie unpassend.«

»Mit wem verbringst du also deine Freizeit?«

»Mit dir.«

Gina lächelte nicht. »Was ist mit diesem Börsenmakler, Graham Soundso? Ruft er dich immer noch an?«

»Morgen Abend treffe ich mich mit ihm.«

»Juchhu!« Gina klatschte, dann hielt sie mit aufgerissenen Augen inne. »Warte mal, ist das der dritte Abend? Zeit fürs Bett!«

»Reg dich ab, Süße.« Cate verbarg ihr Unbehagen. Sie würde Gina gegenüber nie zugeben, was sie sich von Zeit zu Zeit in ihrer Freizeit erlaubte. Sie konnte es kaum sich selbst gegenüber eingestehen.

»Du kennst die Regeln. Es muss sein.« Gina beugte sich über ihren Teller. Das Essen hatte sie offenbar vergessen. »Wie soll ich das alles mitempfinden, wenn du so ein langweiliges Leben hast? Du bist eine Richterin, keine Nonne. Vielleicht hast du das vergessen. Die schwarze Robe sieht aber auch zu ähnlich aus.«

Cate lächelte. Jeder Mensch sollte mindestens eine Freundin haben, die ihn zum Lachen bringt. »Jetzt reicht’s aber mit mir. Erzähl mir lieber von der doofen Sprachtherapeutin«, sagte sie, weil sie wusste, dass Gina reden musste. Und sie musste sie nicht zweimal bitten.

Später, als Gina oben war und sich fertigmachte, saß Cate neben Warren und einer wässrigen Diät-Cola mit langsam vor sich hinschmelzendem Eis am Küchentisch. Das Licht war heruntergedimmt, und im Hintergrund spielte Mozart. Warren sah noch immer starr zum Fenster, und Cate folgte verwirrt seinem Blick.

Draußen bewegten sich die Äste des kahlen Baums im Licht einer Außenlampe. Ihre Bewegungen waren steif und leicht bebend. Autistische Kinder sahen Einzelheiten und Muster, die anderen verborgen blieben. Cate kniff die Augen zusammen und versuchte, wie Warren zu sehen. Ein Geflecht dünner schwarzer, mit gelbem Licht hinterlegter Linien schwankte hin und her, und kurz darauf lösten sich die Linien in der Dunkelheit auf. Autistische Gehirne sahen alles, normale Gehirne sahen nur das, was sie zu sehen erwarteten. Durch Unaufmerksamkeit entstand Blindheit. Es hatte sogar ein Experiment gegeben, bei dem Piloten ein Flugzeug auf der Startbahn entgangen war, weil sie nicht erwartet hatten, an dieser Stelle ein Flugzeug zu sehen.

Er muss zu uns zurückkommen. Zu seiner Mutter. Zu mir.

Cate nahm einen mittelgroßen, mit fröhlichem roten Filz eingefassten Spiegel in die Hand und neigte ihn, sodass Warren sein Gesicht sehen konnte. »Warren. Du bist Warren«, sagte sie. Im Spiegel war der Mundwinkel des Kindes leicht verzerrt, doch sein Blick blieb starr auf das Fenster gerichtet. Sie deutete auf sein Spiegelbild. »Warren.« Dann drehte sie den Spiegel ein wenig, so dass sie ihr eigenes Spiegelbild sehen konnte. Sie zeigte darauf. »Karen.«

Wie bitte?

»Cate.« Cate zog die Brauen zusammen und deutete erneut auf den Spiegel. Es musste die Müdigkeit sein. Carol. Sandra. Emily. Halley. »Cate.« Dann drehte sie den Spiegel zu dem Kind und deutete wieder darauf: »Warren.«

Warren rührte sich in seinem Stühlchen und begann, den Kopf von einer Seite zur anderen zu wenden.

»Alles okay«, sagte Cate mit ruhiger Stimme. Was beunruhigte ihn? Vielleicht das viele Deuten. Autistische Kinder deuten nicht mit dem Finger, und er lernte gerade erst, wie man so etwas machte. Behutsam legte sie den Spiegel wieder hin. Unvermittelte Geräusche konnten ihn verstören. »Wir hören auf damit, wenn du nicht mehr willst.«

Warren schüttelte den Kopf, immer wieder.

»Warren, es ist alles in Ordnung, wir hören auf, schon gut«, sagte Cate in beruhigendem Singsang, aber diesmal funktionierte es nicht. Sie ärgerte sich über sich selbst. »Alles ist okay, Warren«, sagte sie, doch er begann, seinen Kopf immer schneller hin und her zu werfen, und dann auch seine kleinen Arme, sodass er den Stuhl zum Kippen brachte, der mit einem lauten Knall gegen den Küchentisch prallte und dabei Cates Glas umstieß. Der ganze Tisch war voller Diät-Cola und schmelzender Eiswürfel.

»Äääh!« Warren begann zu schreien und warf seinen Kopf so heftig nach hinten und nach vorn, dass der Stuhl wieder zu schwanken begann und fast umfiel. Cate sprang auf und fasste ihn unter den Achseln, damit er nicht herausfiel, doch er war auf seinem Sitz angebunden und strampelte nun wie ein Wilder, um sich von Cate loszumachen. Cate schaffte es trotz seiner wütend schlagenden Füße, ihn loszubinden und hochzuheben. Sie rief sich in Erinnerung, was sie gelernt hatte. Autistische Kinder können durch festes Umarmen beruhigt werden. Sie nahm ihn in die Arme. Er schlug sie mit seinen kleinen Schuhen in den Magen, aber sie ließ ihn nicht los.

»Cate!« Gina stürmte mit einem Handtuch in die Küche. Ihr Gesichtsausdruck verriet Entsetzen. Ihr nasses Haar klebte an ihren Schultern. »Brauchst du –«

»Nein, schon gut, alles okay, Warren, alles okay, ich bin Cate, und alles ist in Ordnung«, sagte Cate immer wieder, während sie ihn in festem Griff behielt. Gina stand neben ihr, die Hand auf den Mund gepresst und mit Tränen in den Augen. Ganz allmählich hörte das Kind auf zu schreien und zu strampeln, dann entspannte sich sein kleiner Körper in Cates Armen. »Alles in Ordnung, Warren, es ist schon vorbei, ich liebe dich, Warren«, wiederholte Cate unablässig, bis Warren endlich weich wurde.

Nach einer Weile signalisierte ihr Gina, dass er eingeschlafen war, aber Cate ließ ihn nicht los. Er fühlte sich so gut in ihren Armen an. Nur im Schlaf erlaubte er ihr, ihn zu streicheln. Gina begriff und zeigte mit dem Kinn nach oben, damit Cate ihn in sein Bett brachte. Als sie wieder herunterkam, nahm Cate ihre Handtasche, zog sich den Schaffellmantel wieder an und zog die Tür hinter sich zu.

Gut, dass sie jetzt gehen konnte – aber es brach ihr beinahe das Herz.

Danach nahm Cate den langen Weg nach Hause. In einem merkwürdigen Zustand der Entfremdung von sich selbst steuerte sie ihren weißen Mercedes durch Roxborough, ein Arbeiterviertel, das auf ihrem Weg lag und aus einem Labyrinth von schmalen Backsteinhäusern mit grünen Plastikmarkisen bestand. Der Schnee war zu großen, schwärzlichen, eisüberkrusteten Haufen zusammengefegt worden. Sie fühlte sich auf eine eigenartige Weise wohl in diesen Straßen; es sah fast wie in ihrem Heimatstädtchen aus, und immer wieder stieg blitzartig die eigene Vergangenheit in ihr auf.

Sie fuhr an einer alten katholischen Grundschule vorbei. An den Wänden klebten Schneeflocken aus Buntpapier. Sie war selbst als Kind in einer solchen Schule gewesen, St. Ignatius, und erinnerte sich, wie sie Papier gefaltet und Muster hineingeschnitten hatte, und wie sie dann das Papier erwartungsvoll auseinandergezogen hatte, um zu sehen, ob die Schneeflocke geglückt war. Manchmal waren die Löcher zu groß gewesen; aber manchmal hatte sie sich auch freuen können, wenn in der Mitte ein schöner großer Stern entstanden war. Sie wusste nicht, warum sie sich gerade jetzt daran erinnerte.

Eine kleine Kirche mit angeschlossenem Pfarrhaus glitt vorbei, dann ein großes steinernes Bestattungsinstitut, das ironischerweise das schönste Gebäude der ganzen Gegend war. So war es immer in diesen Vierteln; es war auch in ihrer Kindheit so gewesen. Sie fuhr weiter, lauschte dem beruhigenden Schnurren des Motors und ließ die vielen klapprigen und mit Ruß und Streusalz überzogenen Autos, die am Straßenrand parkten, hinter sich. Erst als eine Kneipe vor ihr auftauchte, trat sie auf die Bremse.

PADDY’S stand in trübem Grün auf dem Neonschild. Daneben ein grünes irisches Kleeblatt.

Cate betrachtete das Gebäude, als sie vor einer roten Ampel zum Halten kam. Die Backsteinfassade musste dringend repariert werden, und eines der Fenster an der Seite bestand aus altmodischen Glasbausteinen. Es war fast ein Déjà-vu-Erlebnis. Eine bröckelnde Zementtreppe führte zu der hölzernen Eingangstür, aus der Gelächter bis auf die Straße hinausdrang. Cate spürte das vertraute Gefühl beginnender Erregung, gemischt mit Angst.

Ein Pick-up fuhr hupend an ihr vorbei, die Scheinwerfer streiften sie, und sie trat aufs Gaspedal. Halb suchte sie nach einer Parklücke, halb zog es sie nach Hause. Sie sah auf die digitale Uhr auf dem Armaturenbrett. In geisterhaften weißen Zahlen stand da: 23:13. Darunter die Außentemperatur: -8 Grad.

Cate umfuhr den Block ein Mal, dann noch einmal. Sie dachte nach, und gleichzeitig fühlte sie eine schreckliche Leere im Kopf. Immer wieder kam ihr Warren in den Sinn, wie er in ihren Armen eingeschlafen war. Dann, aus irgendeinem Grund, Marz, was sie daran erinnerte, dass sie noch zu arbeiten hatte. Morgen war ein wichtiger Tag. Der Antrag, über den sie zu befinden hatte, sollte verhindern, dass die Geschworenen ihr Votum abgaben. Wenn sie nicht darüber entscheiden konnten, wer in diesem Fall die Wahrheit sagte, würde Marz den Prozess verlieren.

An der Ridge Avenue bog sie links ab und fuhr nach Hause.

Die Richterin

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