Читать книгу Die Richterin - Lisa Scott - Страница 6
Prolog
ОглавлениеCate Fante war der Ehrengast dieser Feier, die gerade ihrem feuchtfröhlichen Ende entgegenging. Zum letzten Mal erhob sie ihren Kognakschwenker, um mit den anderen Richtern auf ihre Berufung an das Bundesbezirksgericht zu trinken. Morgen würde alles etwas langsamer funktionieren als sonst. Die Räder der Justiz wurden nicht mit Remy Martin geschmiert.
»Auf Richterin Cate Fante, unsere neue Kollegin!«, rief Sherman, der Gerichtspräsident, und als sie alle miteinander anstießen, klirrte es laut und kostbar. Runzlige Wangen legten sich beschwipst lächelnd in dekorative Falten, und dicke Brillengläser reflektierten das flackernde Kerzenlicht. Das Durchschnittsalter hier war zweiundsechzig, und wenn man an ein Bundesgericht berufen wurde, war es auf Lebenszeit. Mit neununddreißig Jahren fühlte sich Cate, als sei sie in das exklusivste Altersheim der Welt versetzt worden.
»Eine Rede! Eine Rede!«, hieß es nun, und die anfeuernden Rufe der Richter hallten in dem abgetrennten Raum wider. Goldenes Licht glühte in bronzenen Wandleuchtern, und neben halbmondförmigen Schüsselchen mit Creme brûlée und Rosinenschnecken wurde der Kaffee kalt. »Eine Rede, Frau Richterin!«
»Ruhe im Gerichtssaal, ihr Kindsköpfe!«, antwortete Cate, während sie, ihr Glas in der Hand und mit zur Schau getragenem Gleichmut, aufstand. Sie brachte ein Lächeln zustande, das ihre Panik maskierte. Sie hatte keine Ahnung, was sie sagen sollte. Die Wahrheit konnte sie nicht sagen: dass sie nämlich insgeheim Angst verspürte vor ihrem neuen Job, dessen Aufgaben in der Verfassung der Vereinigten Staaten beschrieben waren. Und dass sie sich diesem Job nur äußerlich gewachsen fühlte, in einem Chanelkostüm aus karamelfarbenem Tweed, das ihr vorkam wie die überteuerte Rüstung eines in die Schlacht ziehenden Ritters.
»Aber machen Sie’s kurz, Cate.« William Sasso formte ein Megafon mit seinen Händen. »Ich sollte nämlich schon längst im Bett sein.«
Gloria Sullivan kicherte. »Lass sie in Ruhe, Bill. Wir haben Ihnen zugehört, und Gott weiß, was das für eine Prüfung sein kann.«
»Nein, er hat recht.« Cate sammelte sich. »Ich danke Ihnen allen für das wunderbare Essen. Sie haben heute Abend sehr viele freundliche Dinge über mich gesagt, und ich will Ihnen nur antworten – dass ich jedes Lob verdiene.«
»Endlich einmal ein ehrliches Wort aus Richtermund!«, rief Sherman und brach wie die anderen in lautes Lachen aus. Der junge Kellner, der zögernd an der Wand stand, lächelte. Die Richter applaudierten und schrien: »Richtig so!« und »Gut gemacht!«
»Danke und gute Nacht.« Cate deutete eine Verbeugung an und fing den Blick des Kellners auf. Noch einmal wurde ihr gratuliert, dann standen alle auf, verabschiedeten sich und suchten nach Aktenkoffern und Taschen. Cate nahm ihre Handtasche und ging mit ihnen zusammen zur Tür des Restaurants Four Seasons. Auf dem Weg nach draußen spürte sie, dass jemand leicht ihren Arm berührte, und als sie sich umdrehte, stand Sherman, hochgewachsen und gebeugt, neben ihr. Sein silbergraues Haar war ein wenig zerzaust.
»Sie sollten nicht gar so glücklich aussehen, mein Kind. Schließlich werden Sie wesentlich weniger verdienen als früher.«
Cate lachte. »Stimmt, Chief. Mit dem schönen Freiberuflerdasein ist es jetzt vorbei.«
Sherman lachte ebenfalls, und Jonathan Meriden, der mit ihnen zum Ausgang strebte, fiel in sein Lachen ein. Meriden war zwischen fünfzig und sechzig; er sah nicht übel aus mit seinem dunkelblonden, an den Schläfen ergrauenden Haar, seinem nicht sehr großen, doch gut trainierten Körper. Cate kannte ihn von früher. Als sie beide noch als Anwälte praktizierten, waren sie in einem Zivilrechtsfall gegeneinander angetreten, und Meriden hatte sowohl den Fall wie seinen Mandanten verloren. Heute Abend hatte er so getan, als betreffe ihn das alles nicht mehr, also hatte er sich entweder mit der Niederlage damals abgefunden, oder er hatte beschlossen, sich mit Hilfe des reichlich genossenen Alkohols für sie zu erwärmen. Sie durchquerten die Lobby und traten in die feuchte Sommernacht hinaus, und Cate spielte die gute Gastgeberin und wartete, bis alle weg waren, bevor sie sich in das letzte Taxi setzte.
Als der Wagen losfuhr und sich in den ruhig fließenden Verkehr einfädelte, lehnte sie sich gegen das schwarze Kunststoffpolster. Sie hörte das Geräusch der Reifen auf den rissigen Straßen, die noch nass waren von einem eben niedergegangenen Gewitter. Die Klimaanlage arbeitete nur mit halber Leistung, und Cate blickte auf die regenfeuchten Gebäude, als sei sie fremd in dieser Stadt. Sie war schon als Studentin nach Philadelphia gekommen, aber sie hatte nie sehr gern hier gelebt. Aufgewachsen war sie in den Bergen, in einer kleinen Stadt, die es längst nicht mehr gab. Wenn sie an ihre Heimat dachte, verspürte Cate immer noch einen Stich, obwohl sie wusste, dass sie das alles längst hinter sich gelassen haben sollte. Spätestens in der vierten Klasse, dessen war sie sich ziemlich sicher, musste man sich mit dem Verlust abgefunden haben.
Sie bekam Kopfweh. Heute hatte sie ihr erstes wichtiges Verfahren eröffnet, eine Vertragsklage gegen einen Bauunternehmer mit einer Schadenssumme von fünfzig Millionen Dollar. Dutzende kostspieliger Anwälte aus New York hatten Schriftsätze eingereicht, und unter den Zeugen befanden sich mehr Leute mit Doktortiteln als in den meisten Colleges des Landes. Es war ein Prozess ohne Geschworene, wodurch der Richter mehr Gewicht erhielt, aber wenigstens war es eine Zivilklage. Cate hatte bereits vier Männer zu einer Haftstrafe in Bundesgefängnissen verurteilt, was ihr furchtbar schwergefallen war.
Das Auto fuhr langsamer, und sie öffnete das Fenster. Ein Windhauch blies herein; doch die Luft war zu feucht, als dass sie ihr Erleichterung verschafft hätte. Sie knöpfte ihre Seidenbluse auf und spürte das Gewicht ihrer Perlenkette wie eine Schlinge um den Hals. Der Nachthimmel war schwarz und sternenlos, und der Vollmond leuchtete hoch oben wie ein Scheinwerfer. Sie lehnte sich wieder gegen den Sitz, doch ihr im Nacken zusammengebundenes Haar störte sie; mit den Fingern löste sie es, und es fiel auf ihre Schultern.
Ziellos sah sie aus dem Fenster. Paare gingen Arm in Arm, Hüfte an Hüfte vorbei. Ein gut aussehender Mann in einem weißen Hemd rannte mit flatternder Krawatte einen Gehsteig entlang. Das Taxi bog in eine der schmalen Verbindungsstraßen ein, die die Innenstadt durchzogen, nicht mehr als eine Gasse mit rostigen blauen Abfallcontainern vor den Häusern. Cate stieg der faulige Geruch in die Nase. »Soll das die Stadtrundfahrt mit authentischem Flair sein?«
»Es geht schneller, als wenn ich die südliche Route nehme«, sagte der Fahrer, während er an einer Ampel hielt.
An der Ecke sah Cate eine heruntergekommene Kneipe. DEL & ROY’S flimmerte ein schadhaftes Neonschild an einer mit Graffiti übersäten Ziegelwand. Das Fenster an der Seite war mit Latten vernagelt, doch aus der Plexiglastür an der Vorderfront fiel warmes, gelbliches Licht, was bewies, dass es im Innern der Bar Leben gab.
Das Bier für die schönsten Stunden des Tages, dachte Cate in Erinnerung an eine alte Fernsehwerbung.
»Ich steige hier aus«, sagte sie unvermittelt und kramte in ihrer Handtasche nach Kleingeld.
»Hier?« Der Fahrer auf der anderen Seite der verschmierten Plastikscheibe drehte sich zu ihr herum. »Das ist kein sehr schönes Viertel, Lady. Ich dachte, wir fahren nach Society Hill.«
»Ich hab’s mir anders überlegt.« Cate nahm einen Zwanzigdollarschein aus ihrem Geldbeutel und reichte ihn durch die Öffnung in der Scheibe. Zehn Minuten später saß sie auf einem wackligen Barhocker, vor sich ein Glas Bier für die schönsten Stunden des Tages. Am Rand des Glases war der Abdruck von Lippenstift zu sehen, ein klebriger, ausgefranster roter Kuss wie der Fingerabdruck der menschlichen Eitelkeit. Es war nicht ihre Farbe, aber sie trank trotzdem.
Die Kneipe stank nach schalem Bier und Zigarettenqualm, und an der Rückwand der Bar waren staubige Schnapsflaschen aufgereiht, unter einem schief hängenden Pappbild von Donovan McNabb. Die Bar diente als Durchgang zu einem geschlossenen Restaurantbereich, über dessen Eingang ein altmodisches Schild mit der Aufschrift DAMEN hing. Cate wandte den Blick ab.
Der Raum war halbleer. Zwei Sitze von ihr entfernt saß ein dunkelhaariger Mann mit einer Zigarette in der Hand über ein Bier gebeugt. Er trug ein weißes T-Shirt mit der Aufschrift ABSCHLEPPDIENST C & C, die sich in großen Lettern über seinen muskulösen Rücken zog. Auf den Barhockern hinter ihm saßen drei Männer, die schweigend das Basketballspiel auf dem Fernsehbildschirm über ihnen verfolgten. Ihre Köpfe waren nach hinten geneigt, und man sah die Ovale ihrer beginnenden Glatzen.
Cate schlug die Beine mit den braunen Pumps übereinander. Sie trug keine Strümpfe. Sie trank einen weiteren Schluck des warmen Biers und hasste sich dafür, hier zu sein, während sie sich gleichzeitig fragte, wie lange es wohl dauern würde. Nicht dass sie das Bedürfnis hätte, bald nach Hause zu kommen, um schlafen zu gehen. Seit ihrer Kindheit, als sie nachts ständig vom Geheul der Alarmsirenen wach geworden war, konnte sie fast ohne Schlaf funktionieren. Damals war sie in ihrem dünnen Nachthemd aus dem Bett geholt und in einen Wintermantel mit aufgesticktem Pinguin gehüllt worden. Der Mantel war türkisfarben gewesen, und die Flügel des Pinguins waren aus flaumigem schwarzem Stoff gewesen, wie sie sich jetzt aus irgendeinem Grund erinnerte. Sie hatte diesen Mantel geliebt.
»Hallo, schöne Frau«, sagte eine Stimme neben ihr, und Cate sah auf. Es war der Mann in dem T-Shirt, mit seinem Bier und seinen Zigaretten. Aus der Nähe betrachtet, hatte er mit rötlichen Adern durchzogene blaue Augen, dichte Bartstoppeln und fettig glänzendes Haar. Er lächelte betrunken und fragte: »Wie fühlt man sich an einem so romantischen Abend?«
Cate wandte sich ihm zu und lächelte ebenfalls. »Wie ich mich fühle? Romantisch.«
Der Mann lachte leise und stellte sein Glas auf der Theke ab. Von seiner Zigarette stieg gekräuselter Rauch auf. »Ich glaube, ich kenne dich von irgendwoher«, sagte er, während er seine Hand auf Cates nacktes Knie legte. »Wie heißt du noch mal?«
»Karen«, sagte Cate. Dann nahm sie seine Hand und schob sie weiter ihren Oberschenkel hinauf.
Es war ein aufregendes und ein erbärmliches Gefühl, alles auf einmal.