Читать книгу Die schönsten Pferdegeschichten - Lise Gast - Страница 23

Eine Reitstunde. Heiner erzählt

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„Dagmar?“

„Nein!“

„Wo bist du?“

„Weg!“

„Kommst du?“

„Nein!“

Petra probierte an der Klinke der Wohnungstür. Verschlossen. Sie verstand die Welt nicht mehr.

Bis vor fünf Minuten hatten sie „Mensch ärgere dich nicht“ in der Küche gespielt, alle vier, und schrecklich dabei gelacht, wenn einer herausflog. Dann hatte Dagmar auf die Uhr gesehen, war aufgestanden und hinausgegangen und nicht wiedergekommen. Sie hatten anfangs eine Weile gewartet, dann war Petra losgegangen, und nun stand sie hier vor der verschlossenen Tür, und Dagmar antwortete derart idiotisch. Petra biß sich auf den Knöchel des Zeigefingers, während sie dastand und nachdachte. Dann ging sie langsam zur Küche zurück.

„Wir sollen weiterspielen, ohne sie“, sagte sie und setzte sich. Heiner ließ den Würfel fallen.

„Sechs“, schrie er. Anja hatte gesehen, daß es nur eine Vier war.

„Du mogelst!“ rief sie aufgebracht. Heiner riß den Würfel an sich.

„Es war aber eine Sechs!“

„Dann hättest du sie ja liegenlassen können. Petra, sag du mal –“

„Was recht ist, kommt wieder. Würfle noch mal, Heiner“, sagte Petra. Heiner würfelte. Eine Eins. „Siehst du! Das ist die Strafe!“

„Wofür denn Strafe, möcht’ ich wissen –“

„Weil du geschwindelt hast –“

„Es war aber eine Sechs –“

„Das kann man jetzt nicht mehr beweisen –“

Gerade ging die Tür.

„Was ist denn hier los? Warum habt ihr euch denn in den Haaren?“ fragte Dagmar. „Ich finde überhaupt, wir sollten raus, nicht hier in der Stube hocken. Das ist doch Blödsinn. Keine Lust zum Reiten?“

„Dumme Frage!“

„Natürlich haben wir Lust!“

„Aber leider nur drei Rösser –“

Sie hatten vorhin beim Nachbarn angefragt, ob sie sich dort eins seiner Pferde leihen könnten. Er war sehr freundlich, Dagmar hatte das schon manchmal tun dürfen, aber heute wäre sein eigener Sohn mit Freunden unterwegs, morgen könnten sie eins haben. Sie sollten aber noch mal nachfragen.

„Dann reitet eben ihr drei. Auf dem Platz“, sagte Dagmar. „Wir haben doch Gott sei Dank seit zwei Jahren einen Reitplatz. Ich mach’ den Lehrer. Bist du schon mal geritten, Heiner?“

„Ja, öfter. Ich hab’ einen Freund mit zwei Ponys.“

„Reitverein?“

„Noch nicht, aber –“

„Na, wir werden ja sehen. Los, vorwärts, umgezogen, angezogen. Wer hat ein Paar Stiefel für Heiner?“

Petra schrie: „Ich!“ Sie besaß ein Paar richtige Reitstiefel, geerbt von ihrer größeren Schwester, und ein Paar aus Gummi, auch Reitstiefelform, wie man sie vielfach bei schlechtem Wetter trägt. Er quälte sich hinein, seine Jeans in die engen Röhren stopfend, und Petra hänselte ihn mit seinen dicken Beinen. Nun ging es darum, wer welches Pferd bekam.

„Heiner sollte Lotte nehmen, für den Anfang“, sagte Dagmar. „Lotte ist das problemloseste Pferd. Anja, wie ist es, traust du dich auf Ströppchen?“ Anja sah sie zweifelnd an.

„Wir versuchen es. Ihr könnt ja immer noch tauschen.“

„Eins jedenfalls weiß ich“, dachte Anja, während sie etwas langsamer als sonst durch die Stallgasse zu Ströppchens Stand hinübertrottete, „beim Reiten wird immer mehr von einem verlangt, als man kann.“

„So ist es“, sagte Dagmar zu ihrer Verblüffung halblaut neben ihr. Es war, als hätte sie Anjas Gedanken erraten, „man muß immer zwanzig Zentimeter höher als das Hindernis springen, in Wirklichkeit und im übertragenen Sinne. Das ist die allererste Erkenntnis, die einem beim Reiten aufgeht. Bei dir kommt sie zeitig.“

„Und was für Erkenntnisse kommen noch?“ fragte Anja schüchtern und sah zu Dagmar auf.

„Daß man auf dem Pferd sehr allein ist. Daß es da auf einen selbst ankommt“, sagte Dagmar in ihrer ruhigen Art. „Jedenfalls, sobald man dem Führzügel und der Longe entwachsen ist. Das sind Hilfsmittel, die nur ganz zu Anfang angewendet werden. Später – sehr bald also, du reitest ja auch schon ohne Führzügel – kommt es auf dich an und auf sonst gar nichts.“

„Und das dritte? Meistens sind es doch drei Weisheiten, jedenfalls in den Märchen“, fragte Anja und hob Ströppchen den Hinterhuf auf, um ihn zu säubern. „Steh, steh. Na?“

„Du bist ein kluges Kind. Die dritte Weisheit stammt von einem Berliner Wachtmeister, einem alten Pferdemann, den nichts außer Pferden interessierte. Dem sie alles waren, Lebensinhalt und Glück und Aufgabe, und der sie kannte wie kaum ein anderer. Von dem stammt der Spruch: ‚Reiten lernt man bloß vons Reiten.‘ Grammatikalisch nicht einwandfrei, aber gut berlinerisch. Und wahr! Auf also, und wenn man mit einem Pferd klarkommt, sobald es geht, aufs nächste. Und wenn man achtzig wird, im Sattel lernt man doch immer was dazu.“

„Wirklich?“ fragte Anja leise.

„Wirklich. Es gibt natürlich auch Bücher, die einem weiterhelfen, gute Anleitungen, gewiß. Dadurch lernt man sicherlich was dazu, auch durch gute Lehrer, die einem die Fehler sagen, und durch das Beobachten von guten Reitern. Das alles aber bringt einen nur dazu, etwas besser zu reiten. Richtig reiten lernt man nur vom Reiten.“

Anja schwieg. Dann fragte sie: „Wie lange reitest du denn schon? Steh doch, Ströppchen. Ja, ist ja gut. Wann hast du angefangen?“

„Sehr zeitig. Weil wir schon immer Pferde hatten. Mein Vater hat mich mit zwei Jahren schon drauf gesetzt. Ja, aber Reiten hab’ ich natürlich erst später gelernt, als ich es wollte, richtig wollte. Daß jemand als Reiter geboren wird, das gibt es nicht. Davon träumen so viele, vor allem kleine Mädchen, aber auch größere. Sie hängen sich Pferdepostkarten übers Bett und lesen Pferdebücher und seufzen: Ich könnte reiten! Ich bin ein Pferdenarr. Mir fehlt nur das eigene Pferd, und mein Vater kauft mir keins. – Solche gibt’s massenhaft“, fuhr Dagmar nach einer kleinen Weile fort, „und wenn sie dann was tun sollen – ich meine, wir haben manchmal welche zu uns eingeladen, die sehr darum bettelten –, dann war ihnen schon beim zweitenmal der Eimer zu schwer und der Mist ekelhaft und die Karre zu groß. Das Pferd war ,so gemein‘, wenn es sie absetzte – nein, solche Pferdenarren, vielen Dank.“

„So bin ich aber nicht!“ rief Anja sofort. Dagmar lachte.

„Nein, du nicht. Nun komm, bring Ströppchen raus, es geht gleich los. Wollen mal sehen, wie dieser Heiner sitzt.“

Der Reitplatz war ein ziemlich großes, von Stangen eingefriedetes Rechteck, mit Sand gefüllt, den man jetzt nicht sah, weil alles verschneit war.

„Sand gefriert nicht, da kann man auch bei Frost reiten“, erklärte Dagmar, „und im Sommer auch bei Regen. Er wird nicht glatt und rutschig wie Grasnarbe. Nun los, ihr drei Hübschen, führt eure Rösser hinein und stellt euch mit ihnen auf, ihr wißt ja vom Reitverein her, wie.“

„Was bedeuten denn die Schilder?“ fragte Anja. In der Mitte der langen und kurzen Seiten des Rechtecks hingen weiße Schilder mit roten Buchstaben, an den langen Seiten auch noch an anderen Stellen.

„Das sind Abwendepunkte, die erklär’ ich euch später“, sagte Dagmar. „Jetzt ist die Hauptsache, daß ihr ‚ganze Bahn‘ reitet, also ringsherum, oder ‚auf dem Zirkel‘, das ist ein Kreis an einem Ende der ganzen Bahn. Petra nimmt die Tete, die kennt die Hufschlagfiguren ja hoffentlich!“

Sie stellten sich nebeneinander auf, die Pferde an ihrer rechten Seite, Petra mit Pußta, Heiner mit Lotte, Anja mit Ströppchen.

„So. Ehe ihr aufsitzt, kontrolliert noch einmal die Gurte“, sagte Dagmar. „Später wird vom Sattel aus noch mal nachgegurtet, die Pferde blasen sich ja auf, das wißt ihr. Und bei den ersten Schritten lassen sie dann die Luft ab. Nun – Abteilung aufgesessen!“

Für Anja war es das erste Mal, daß sie aufsitzen sollte, ohne daß jemand ihr das Pferd hielt. Sie angelte mit dem linken Fuß nach dem Bügel, der ihr himmelhoch hängend vorkam, bekam aber den Fuß nicht hinein. Petra saß schon oben, aber Heiner wollte es mit Lotte auch nicht recht gelingen. Dagmar trat zu ihm und gab ihm ein paar Anweisungen. In der Zeit hatte Anja endlich den Fuß im Bügel, zog sich am Sattel hoch – und war oben. Gottlob! Und Ströppchen hatte stillgehalten, der Gute!

„Im Schritt anreiten, auf die linke Hand gehen.“ Petra machte es vor, und die anderen folgten. Dagmar korrigierte einiges am Sitz des einen und anderen, und Anja hielt sich an den kleinen Trick, den Petra ihr einmal verraten hatte: Wenn der Lehrer an einem anderen Schüler etwas aussetzt, etwa, Hacken tiefer!‘ oder, Hände aufrecht!‘ sagt, dann denk, er meint dich, und richte dich danach aus. Daran hielt sie sich auch jetzt. Sie trabten dann an, alles ging glatt. Ströppchen, hinter Pußta, war etwas faul, und Dagmar rief ein paarmal: „Anja, treiben! Von selbst läuft er nicht!“ Und sie hatte Angst gehabt, er würde ihr unter der Hand weggehen!

Heiner hielt sich wacker. Lotte machte ihm keine Schwierigkeiten, aber neu war sie für ihn doch. Dagmar lobte ihn ein paarmal, und da wurde er rot vor Verlegenheit. Einmal, als sie auf dem Zirkel ritten, machte Ströppchen in der Ecke Terror, stemmte erst die Vorderbeine ein und fing dann an zu bockeln, und Anja hatte ihre liebe Not, oben zu bleiben. Aber sie schaffte es. Und dann ließ Dagmar noch kurz angaloppieren: „Eine runde ganze Bahn!“, und siehe da, alle drei Pferde taten es willig, sie kannten ja das Kommando, und alle drei Reiter blieben oben.

„Noch einmal – durch die ganze Bahn wechseln“, befahl Dagmar, als sie wieder im Schritt ritten, und dann durften sie noch mal auf der rechten Hand galoppieren. Auch das ging gut.

„So, und nun: Zügel lang, Pferde loben und im Schritt durcheinanderreiten, damit die Pferde abdampfen“, sagte Dagmar abschließend. Sie war selbst froh und erleichtert, daß alles gutgegangen war.

Als sie später in der Küche saßen und Zitronentee tranken – Reiten macht durstig –, lobte Dagmar noch einmal alle drei. „Manchmal geht es besser, als man denkt. Du bist schon oft geritten, Heiner, oder?“

„Ziemlich!“ Heiner strahlte. Sein Gesicht war ganz verändert, offen und glücklich. „Aber eine Reitstunde hatte ich noch nie.“

„Kinder, der Papagei. Habt ihr ihn schon gefüttert?“ rief Petra.

„Ich hol’ ihn“, erbot sich Heiner. „Er soll doch nicht den ganzen Tag unter dem Korb sitzen.“

„Aber paß auf!“ Petra und Anja rannten mit, als er hinaufging. Wirklich, es gelang Heiner, den Papagei aus dem Korb zu nehmen, ohne daß er wegflatterte. Er ging mit ihm in die Küche hinunter, und dort legten sie ihm Futter vor, das er aufpickte. Er schien sich in Heiners behutsamen Händen sehr wohl zu fühlen.

„Daß du so mit ihm umgehen kannst!“ bewunderte ihn Anja. „Mir wäre er unheimlich.“

„Weil er spricht?“ fragte Heiner und lachte. „Sag mal was, du!“

Der Papagei sah ihn an, dann ruckte er den Kopf wieder herum. Und dann schnarrte er ein paar Worte vor sich hin.

„Da! Habt ihr verstanden? Er sagte –“

„Was denn? Sag noch mal, Lora! Laß ihn noch mal sprechen!“ drängte Anja fasziniert.

Heiner schüttelte ihn ein wenig.

„Na? Komm schon, antworte.“

„Rararara“, verstanden die anderen.

„Schön! Spricht er nicht deutlich? Rabestraße acht“, sagte Heiner. Die anderen starrten ihn mit offenem Mund an.

„Noch mal!“

„Na, sag noch mal was! Wo wohnst du?“

Diesmal verstanden es auch die Mädchen. Oder bildeten sie es sich ein?

„Rabestraße acht, nun müßte man nur noch wissen, in welchem Ort es eine Rabestraße gibt“, sagte Dagmar. Sie überlegten und berieten. Ob man die Polizei anrief?

Dagmar sah, wie Heiner zusammenzuckte. Sie tat, als habe sie nichts gemerkt.

„Ich weiß nicht. Unsere Polizei hier im Dorf? Die sollte ich fragen: ‚Verzeihung, wo gibt es denn eine Rabestraße im Umkreis von fünfzig Kilometern?’ Die halten mich ja für verrückt. Nein, lassen wir lieber die Polizei. – Aber vielleicht steht was in der Zeitung.“

Sie suchten das Blatt von gestern. Aber sie fanden nichts.

„Um so besser. So können wir ihn noch eine Weile behalten“, sagte Heiner. Zessi stand, an sein Knie gelehnt, und sah zu ihm und dem Papagei auf, aber nicht so, als wollte sie den Papagei erbeuten, sondern voller Liebe und Hingabe.

„Ja, du bist ein guter Hund, Zessi. Zessi hat heute nacht bei mir geschlafen“, erzählte Heiner und rieb sein Knie ein wenig an ihrem Kopf, „sie mag mich.“ Er sah zärtlich auf die Hündin herab.

„Du hast es wohl überhaupt mit Tieren?“ fragte Anja und lachte. „Zu dir kommen sie, von dir lassen sie sich anfassen. Habt ihr zu Hause auch welche außer den Vögeln?“

„Wir hatten eine Hündin.“ Er schwieg.

„Hattet?“ fragte Petra scheu.

„Sie ist überfahren worden.“ Heiner gab den Papagei an Dagmar weiter, tätschelte Zessi und hielt dabei sein Gesicht so, daß die anderen es nicht sehen konnten. Sie taten, als merkten sie es nicht, und keine sagte etwas. Dann auf einmal rief Dagmar: „Übrigens – wir bekommen Besuch! Cornelia kommt! Vorhin rief sie an. Was sagt ihr?“

„Wunderbar!“ schrien Petra und Anja wie aus einem Mund. „Cornelia! Die muß mit uns reiten! Bringt sie Onkel Kurt mit?“

„Davon hat sie nichts gesagt. Nein, ich glaube, sie kommt allein. Aber da müssen wir mal was kochen.“ Dagmar sah nicht sonderlich glücklich aus, als sie das sagte. Die anderen lachten sie aus.

„Wegen Cornelia doch nicht!“

„Wer ist denn Cornelia?“ fragte jetzt Heiner.

„Eine aus dem Reitverein. Sehr nett. Reitet Klasse. Wir mögen sie alle schrecklich gern. – Übrigens, Heiner, gut, daß Zessi sich so an dich angeschlossen hat. Paß gut auf sie auf, ja? Ich fürchte, sie wird läufig – ihr wißt, was das ist? Dasselbe, wie wenn eine Stute roßt. Zweimal im Jahr werden Hündinnen läufig, sehnen sich nach der Liebe und gehen einem davon, wenn man nicht aufpaßt wie ein Heftelmacher. Und die Kavaliere kommen und belagern das Haus – was sage ich!“ rief Dagmar und lachte. „Da ist schon der erste!“

Sie wies auf das Fenster. Wirklich, da grinste ein Hundegesicht herein, zum Erschrecken. Ein Dalmatiner, weiß mit schwarzen Flecken, das Gesicht fast ganz weiß, so daß man es für ein Menschengesicht hätte halten können.

„Mach dich fort, du Kerl!“ schimpfte Dagmar und wedelte mit dem Küchentuch am Fenster hin und her. „Das gäbe eine Mischung! Außerdem ist Zessi noch viel zu jung zum Jungekriegen. Weg, du Ekel!“ Dann band sie das Küchentuch um die Reithose und krempelte die Ärmel hoch.

„So, nun wird gekocht! Anja schält Kartoffeln, Petra putzt Möhren – vorher beides gut waschen, denn die Schalen kriegen die Pferde, mit etwas Hafer vermischt –, und ich werde einen hervorragenden Braten aus der Kühltruhe herausholen und in den Ofen schieben. Das kann nur ich!“

Die anderen schrien Protest.

„Und Heiner? Der tut gar nichts?“

„Der füttert die Hunde. Zuerst machst du die Näpfe sauber.“

Heiner sah kurz auf. „Dachtest du, ich wasch‘ sie nicht aus?“ fragte er halblaut. Dagmar wurde ein bißchen rot.

„Verzeih. Ich hätte mir’s denken können. Dort steht das Futter, da die Haferflocken. Auf dem Herd heißes Wasser. Was brauchst du noch?“

„Eine rohe Mohrrübe – ich habe meiner Mia immer eine ins Futter gerieben wegen der Vitamine. Und Lebertran – habt ihr welchen?“

„Natürlich. Dort drüben. Und die Mohrrübe gibt dir Petra. So, und jetzt, wo wir so gemütlich beisammensitzen, erzählst du. Warum bist du ausgerückt von zu Hause? Ich hab’ heut früh ein bißchen Radio gehört, verstehst du. Nun erzähl mal, wir verraten dich nicht.“

„Hast du – haben meine Eltern –“ Heiner stand, die Mohrrübe in der einen Hand, die Reibe in der anderen, und sah zu ihr herüber. Seine Augen flackerten.

„Sie suchen dich. Sie ängstigen sich um dich“, sagte Dagmar leise. Die beiden anderen, Anja und Petra, sahen nicht auf, hielten aber den Atem an. Würde er jetzt etwas sagen?

Erst schwieg er. Dann aber, als auch Dagmar schwieg, fragte er, und es klang angstvoll, ja verzweifelt: „Wissen sie –“

„Sie wissen gar nichts, nur, daß du abgehauen bist. Und sie bitten um Bescheid, wenn jemand etwas weiß.“

„Ihr sagt nichts – oder hast du schon angerufen?“ Heiners Gesicht war dunkelrot geworden. „Bitte – bitte, bitte –“

„Wir verraten dich nicht, wenn du es nicht willst“, sagte Dagmar leise. Sie wußte nicht, ob es richtig war, dies zu versprechen, sie fühlte nur seine jagende Angst. „Großes Ehrenwort. Also?“

„Ihr beiden auch? Wirklich großes Ehrenwort?“ Er sah Anja und Petra an, sie nickten verstört. „Aber wenn ihr’s nicht haltet! Ich renn’ wieder weg, auch von euch! Ich renn’ über Land, solange ich kann, in den Wald – und wenn ich müde genug bin, leg’ich mich irgendwohin und erfriere. Das ist ganz einfach, es steht in allen Lesebüchern. Man merkt dann gar nichts. Und finden tut ihr mich nicht, das kann ich euch sagen. Außerdem hab’ ich noch ein paar Tabletten zum Einschlafen, die lagen bei meiner Mutter im Nachttisch. Ich wollte ja eigentlich schon vorher –“ Sein Gesicht sah jetzt so aus, daß sie ihm jedes Wort glaubten. Alt, verfallen, fast unkenntlich. Es schauderte sie. Er würde Ernst machen, das merkte man.

Dagmar sagte noch einmal: „Wir verraten dich nicht. Dann aber bleibst du bei uns und machst keinen Unfug, verstanden? Das wieder versprichst du uns. Tust du das? Gut, ein Mann, ein Wort. Und nun erzähl, was hast du ausgefressen?“

„Was Furchtbares. Also –“ Man merkte, wie es ihm wohltat, endlich sprechen zu können. Er begann dabei, die Mohrrübe zu raspeln, rieb sich in den Finger, leckte das Blut weg, rieb weiter, ohne es wahrzunehmen. „Also, wir sollten die Zeugnisse erst nach den Ferien bekommen, am ersten Schultag im Januar. Aber unser Klassenlehrer geht weg, und wir kriegen einen neuen, und da bekamen wir sie schon vorher. Und ich hatte einen Fünfer, von dem ich nichts wußte und meine Eltern auch nicht. Man rechnet sich ja immer die Noten aus, nach den Arbeiten. In einem Hauptfach, in Mathe. Da bin ich schlecht, aber so schlecht, das wußte ich nicht. Und da habe ich – ja, ich hab’ halt anstelle meines Vaters unterschrieben, weil ich so Angst davor hatte, was er sagen würde. Und dann bekam ich noch mehr Angst, denn Unterschriften fälschen, das ist ja schon kriminell. Meine Eltern ahnten nichts, die dachten ja, wir kriegten die Zeugnisse erst später. So stand es in der Zeitung.

Und dann – ja, meine Mutter hatte ein großes Feuer im Hof gemacht, das macht sie immer nach den Feiertagen. Es wird alles verbrannt, was weg soll, Einwickelpapier und Kartons und so was. Zufällig kam ich dazu. Und da dachte ich, wenn das Heft weg ist, ist auch die falsche Unterschrift weg, und wenn wir einen neuen Lehrer kriegen, dann stell’ich mich einfach dumm und sag’, ich hab’ kein Zeugnis bekommen. Irgendwie würde es dann schon klappen. Jedenfalls – ich hab’ also das Zeugnisheft mit ins Feuer geschmissen. Meine Mutter stand daneben. Sie dachte natürlich, es wäre irgendein altes. Sie sagte sogar, ich solle holen, was ich nicht mehr brauche, und mit verbrennen. Die Reste vom alten Jahr soll man ins Feuer werfen …

Ja, und später packte mich die Angst erst recht. Und da bin ich weg. Einfach losgerannt, so, wie ich war. Erst zu meinem Freund, aber der war nicht da, verreist – ich stand vor der verschlossenen Tür. Und nach Hause traute ich mich nicht zurück, ich dachte, sie sehen es mir an.

Einmal hat mich ein Auto ein Stück mitgenommen, dem Fahrer hab’ ich vorgeschwindelt, ich müßte zur Apotheke und was holen. Und dann bin ich halt weitergelaufen, bis hierher. Ich hab’ euch gesehen, wie ihr mit den Pferden losgegangen seid – und dann sah ich die kleine Leiter und die Luke. Da bin ich raufgeklettert – bloß mal, um nachzugucken – und drin war es schön, und Hunger hatte ich auch –“ Er schwieg.

„Und da hast du den Kühlschrank inspiziert“, sagte Petra vergnügt. „Stimmt’s? Und da stand Schlagsahne drin.“

„Ja“, sagte Heiner verlegen, „ich hatte solchen Hunger.“

„Und wir haben uns gegenseitig verdächtigt“, lachte Dagmar, „jemand mußte die Sahne ja getrunken und den Becher schön säuberlich in den Abfall getan haben. Ordentlich bist du, das muß man sagen!“

Die beiden anderen lachten ebenfalls.

„Ich hab’ aber niemanden verdächtigt“, verwahrte sich Anja. „Ihr wahrscheinlich mich!“

„Na, jemand mußte es ja gewesen sein“, sagte Dagmar, und Petra krähte: „Ich dachte, es wäre der Müller!“

„Quatsch, da wußten wir ja noch gar nichts vom Müller und seinem Erscheinen“, sagte Anja. „Gott sei Dank, daß du es warst, Heiner, und kein Gespenst! Wir dachten nämlich schon, es spukt.“

„Im Haus?“ fragte Heiner ungläubig. Und dann lachten sie alle vier und fanden es wunderbar, daß es Heiner und kein Spuk gewesen war.

Die schönsten Pferdegeschichten

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