Читать книгу Die schönsten Pferdegeschichten - Lise Gast - Страница 24

Cornelia

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Es gibt Menschen, die kommen ins Zimmer, und man hat das Gefühl, ein Fenster voller Sonne geht auf. So war es bei Cornelia. Anja wußte das, sie empfand es aber wieder neu, als Cornelia plötzlich da war – sie stand auf einmal in der Küche, in flaschengrünen Hosen und einer karierten Jacke, das kurze Haar mit Schneeflocken besternt, und alles war anders, alles war neu.

„Cornelia!“ schrien Anja, Dagmar und Petra wie aus einem Mund, und alle drei sprangen auf sie zu, so daß sie umgeflogen wäre, wenn der Ansprung nicht von drei Seiten stattgefunden hätte.

„Himmel, laßt mich leben!“ sagte sie und drückte alle drei auf einmal an sich. „Die Haustür war auf, da hab’ ich mich reingeschlichen. Ist das hier immer so?“

„Auf? Ich meine: offen?“ fragte Dagmar sofort erschrocken. Cornelia lachte.

„Nein. Nicht sperrangelweit, sondern nur nicht verschlossen. Warum erschrickst du denn so?“

„Nur wegen Zessi. Zessi darf nicht allein raus, aber sie ist ja da.“ Sie deutete zu Heiner hinüber, der sich gerade erhob, um Cornelia zu begrüßen, Zessi an seiner Seite.

„Das ist Heiner, unser männlicher Schutz. Er ist extra zu uns gekommen, damit wir uns nicht fürchten, wir drei Weiber allein. Aber jetzt sind Sie ja da. Wunderbar!“

„Ja, ich find’s auch wunderbar. Ich wollte unbedingt mal nach euch sehen. Ich war bei deiner Mutter, Anja. Ihr wohnt ja so nahe am Reitverein. Sie läßt grüßen – und dein Vater auch. Und die Zwillinge – nein, sind die niedlich!“

Cornelia hatte sich gesetzt, ihr Gesicht glühte in der Wärme der Küche nach der Kälte draußen. „Meine Heizung im Wagen tut’s nicht, weiß der Teufel, was da nicht stimmt. Ich bin halb erfroren auf der Fahrt“, erzählte sie.

Dagmar brachte ihr einen heißen Tee und verkündete: „Gleich gibt’s Mittagessen.“

Cornelia lachte. „Jetzt? Am Abend?“

„Ja, wir wußten doch nicht, wann Sie kommen und für wie lange. Bis morgen bleiben Sie doch auf jeden Fall?“ Sie sahen sie alle drei bittend an.

„Klar bleib’ ich“, sagte sie vergnügt, „ich hab’ mir den ganzen morgigen Tag für euch reserviert. Wollen wir reiten?“

Ob sie wollten! Es sollte jedoch ganz anders kommen …

Nachdem sie gegessen hatten, setzten sie sich, Cornelia zu Ehren, ins Wohnzimmer an den Kamin. Sonst waren sie immer in der Küche geblieben, aus Faulheit und weil man dort am Tisch schön spielen konnte. Mit Cornelia wollten sie erst einmal richtig schwätzen, und das Kaminfeuer war natürlich eine feine Sache. Heiner baute die Scheite auf, wie Dagmar es ihm vormachte, und Petra fuchtelte mit den langen Kaminstreichhölzern herum und machte mehr Schaden als Nutzen, wie Dagmar behauptete. Cornelia hatte eine Flasche Wein mitgebracht und zauberte daraus einen Punsch, der sogar Anja schmeckte. Und nun mußte Cornelia erzählen.

Es war ihnen, als wären sie schon viele Wochen nicht mehr im Reitverein Eulengut gewesen, und sie fragten und fragten: wie es Herrn Anders ginge, dem Pferdepfleger, und ob der Reitlehrer grimmig wäre oder gnädig, und wie oft Othello, der kleine Ziegenbock, sich unnütz gemacht habe. Der ging in jeden Stand, fraß, wo er konnte, den Pferden den Hafer weg, boxte die Reitvereinsleute und legte sich manchmal mitten in der Stallgasse zur Ruhe, so daß alle, Menschen und Pferde, vorsichtig um ihn herumgehen mußten, um ihn nicht zu wecken. Bei Othello tat das sogar der Reitlehrer.

„Alles noch, wie es war, nur ihr fehlt“, sagte Cornelia. „Wenn ihr nicht da seid, ist der ganze Reitverein wie eine Suppe ohne Salz. Niemand bricht sich das Schlüsselbein“, sie versuchte, ein sehr betrübtes Gesicht zu machen –, „und niemand wird angeschnauzt, weil er –“

In diesem Augenblick läutete das Telefon. Cornelia strahlte und sprang hinüber, als Dagmar, die abgehoben hatte, sie herbeiwinkte.

„Das ist Onkel Kurt“, flüsterte Anja Petra so laut ins Ohr, daß es jeder gehört hatte, nur Cornelia nicht. Sie saß und lauschte in die Muschel, und ihr Gesicht wurde immer verklärter.

„Kommt, wir wollten doch noch –“ murmelte Dagmar und machte den anderen ein Zeichen. Sie verließen das Zimmer.

„Die turteln ja nach Noten. Natürlich, weil es Onkel Kurt ist. Sind sie nun verlobt oder noch nicht ganz?“ fragte Dagmar. Anja lachte.

„Wenn ja, sind wir schuld, Petra und ich. Wir haben die zwei zusammengebracht, nicht wahr, Petra? Wir haben Onkel Kurt in den Reitverein geschleppt, und dort fand er, daß ‚der Junge‘ bei der Quadrille der Beste war, und das war Cornelia …“ Sie lachten, und Petra sang:

„Gut läßt sich’s turteln

mit Onkel Kurteln –“

Sie hatte das Wort „turteln“ erstmals in diesem Sinne angewandt gehört und fand es wunderbar.

Nach einer langen Weile, als sie aus dem Wohnzimmer nichts mehr hörten, gingen sie wieder hinein, einzeln und wie von ungefähr. Eine brachte ein Tablett mit Gläsern, die andere eine Büchse Keks – für Heiner hatten sie keine Aufgabe gefunden. Er hielt Zessi am Halsband.

„Da hätte er sowieso nur eine Hand frei“, sagte Dagmar, hielt das Tablett schief, und: klirr, klirr, lagen die Gläser am Boden.

„Nein, so was Dummes, schneidet euch nur nicht!“ rief sie. Sie sammelten alle miteinander die Scherben auf. Es waren nur zwei Gläser kaputt, die anderen hatten den Unfall heil überstanden.

„Scherben bringen Glück“, sagte Heiner.

„Na, Glasscherben auch?“ zweifelte Cornelia. „Überhaupt – das ist doch nur eine dummer Aberglaube.“

Stichwort Aberglaube! Jetzt mußten sie erzählen, nachdem sie Cornelia ausgefragt hatten, und sie taten es, alle drei auf einmal. Vom Müller, vom Papagei – „Den holen wir! Heiner, du kannst das doch am besten.“ – und von all den seltsamen Dingen, die sie erlebt hatten. Cornelia hörte aufmerksam zu. Als Heiner ging, um den Papagei zu holen, fragte sie halblaut: „Wer ist denn das? Gehört der zu dir, Dagmar?“

„Nein, ich kenne ihn auch erst seit kurzem. Genauso lange wie die anderen. Er ist uns – nein, das dürfen wir nicht erzählen, das heißt, eigentlich könnten wir schon, den Anfang jedenfalls.“

Aber da war Heiner schon wieder da. Er hielt Cornelia den Papagei hin, und sie bewunderte ihn gebührend.

„Kann er auch sprechen?“ fragte sie, wie jeder fragt, dem ein Papagei vorgeführt wird.

„Nein, du Schwein!“ schnarrte der Papagei prompt – und so deutlich, daß alle es verstanden. Alle und ganz genau. Sie lachten, daß ihnen die Tränen kamen.

Ja, und Cornelia wußte tatsächlich eine kleine Stadt, nicht allzuweit entfernt, mehr einen Marktflecken, wo es eine Rabestraße gab.

„Ich weiß es so genau, denn dort wohnt eine Bekannte von mir. Soll ich mal anrufen?“

Sie drängten sich aufgeregt ums Telefon, während Cornelia sprach, und versuchten mitzuhören, atmeten auf, als sie dann berichtete.

„Es gibt dort natürlich eine Nummer acht, aber meine Bekannte kennt niemanden, der darin wohnt. Morgen früh will sie hingehen und sich erkundigen. Mehr ist eigentlich erst mal nicht zu machen.“

„Dann gehört er uns wenigstens noch bis morgen“, sagte Heiner und drückte den Papagei an sich. „Aber wenn niemand, nie–nie–niemand sich findet, dem er gehört?“

„Dann kannst du ihn bestimmt behalten“, sagte Cornelia, die dem Jungen wohl ansah, was er dachte. „Papageien werden sehr alt. Du kannst ihn vielleicht dein ganzes Leben lang haben, in der Schule und später während des Studiums, und wenn du heiratest, bringst du ihn als Mitgift mit in die Ehe. Und deine Kinder lernen von ihm sprechen.“

„Und wenn du ein Opa bist, sitzt du hinter dem Ofen, und der Papagei fliegt dir auf den Griff von deinem Krückstock und singt: Schlaf, Alter, schlaf“, fiel Petra ein. Heiner lachte, dann wurde er wieder ernst.

„Ich würde ihn gern behalten. Aber dazu möchte ich noch einen Hund haben. So einen wie Zessi“, sagte er leise. „Mit einem Hund kann man rennen und sich jagen und spielen und ihm was beibringen, und abends schläft er neben dem Bett –“

„Und ich möchte ein Pferd. Eins für mich ganz allein“, sagte Anja, „ein eigenes Pferd!“

„Na, ihr seid ja alle sehr bescheiden“, sagte Cornelia, „das muß ich wirklich feststellen. Nur einen Hund aus bester Rasse, nur ein eigenes Pferd … Wißt ihr, was ich mir wünschte, als ich so alt war wie ihr? Einmal, ein einziges Mal nur ein Pferd streicheln zu dürfen. Wir wohnten in der Stadt, in einer Etage, niemals in hundert Jahren sah man ein Pferd. Es gab so gut wie keine mehr. Auch in der Landwirtschaft nicht mehr. Und reiten, oh, das war so unmöglich wie auf den Mond fahren. Pferde gab es kaum mehr im Zoo.“

Das konnten sich die Mädchen nicht vorstellen.

„Erzählen Sie doch noch mehr von damals“, baten sie, „zum Kaminfeuer gehört, daß einer erzählt. Bitte, bitte! Wie kamen Sie denn überhaupt auf den Gedanken, reiten zu wollen?“

„Ja, das ist so eine Sache. Aus Mode reite ich wirklich nicht“, sagte Cornelia, „so, wie es jetzt viele machen. Weil es schick ist und weil man auch mitreden will und weil der Reitanzug einem so gut steht. Na, bei euch ist das ja auch nicht so. Ich habe mich in ein Pferd verliebt, als ich noch sehr klein war. Mein Vater war Arzt, wir wohnten in Schlesien. Damals war Krieg, und es gab kein Auto und kein Benzin und nichts, und er mußte doch zu seinen Patienten. Da hat er sich ein Pferd gekauft, ein Beutepferd, es war wohl ein polnisches Pony. Mit dem fuhr er auf Krankenbesuch übers Land. Ich durfte oft mit, um das Pferd zu halten, während er bei den Patienten war. Das war manchmal nicht leicht, so klein wie ich war, aber er behauptete, es käme nicht drauf an, wie groß man ist, sondern nur auf den Willen. Ich habe meinen Vater sehr geliebt und ihm alles geglaubt, er hat mich auch nie beschwindelt.“

Sie schwieg. Die Mädchen wagten nicht weiterzufragen.

„Er ging auch nicht weg, als die Russen kamen. Uns schickte er weg, Mutter und uns Kinder, zu Verwandten in den Westen. Er sagte, er könnte nicht von seinen Patienten weg. Wir haben nie wieder von ihm gehört.“

„Auch nichts von dem Pony?“ flüsterte Anja.

„Auch nicht. Sie werden wohl miteinander umgekommen sein. Es war ein fürchterlicher Winter damals, der letzte Kriegswinter, bitterkalt. – Doch, ich weiß, wie es war“, sagte Cornelia nach einem Augenblick Schweigen, und ihre Stimme klang jetzt anders als vorhin, behutsam, zart. „Ich muß es geträumt haben, aber es war bestimmt so. Mein Vater ist gar nicht gestorben. Als alle Deutschen fort waren, ist er über Land gefahren, durch den Schnee; er hatte Glocken vorn am Geschirr des Ponys, die klangen im Dreiklang, wunderschön abgestimmt. Und dann fing das Pferd ganz sachte an, sich in die Luft zu heben. Es war ein braunes Pony, mit heller Mähne, und er hat gesehen, daß es auf einmal Flügel hatte, schöne, starke Flügel, die rechts und links aus dem Rücken herauswuchsen. Mit denen hat es geschlagen, und da hob sich auch der Schlitten sanft in die Luft und schwebte – er schwebte immer höher und höher und landete auf einer Wolke. Und da kam ihm Petrus entgegen und sagte: ‚Ach, der Herr Doktor Nolde! Ja, schön, daß Sie da sind, der liebe Gott wartet schon, und für das Pony hab’ ich soviel goldenen Hafer hier, wie es nur mag.‘“

Sie schwiegen. Anja fühlte, wie ihr etwas über die Backe lief. Sie wischte es weg.

Man durfte nicht weinen. Cornelia weinte ja auch nicht, sie hatte auch damals bestimmt nicht geweint. Cornelia war tapfer – sie, Anja, wollte auch tapfer werden, so tapfer wie diese junge Ärztin. Sie nahm es sich fest, ganz fest vor.

„Bestimmt, so war es!“ sagte sie und lächelte Cornelia zu, und diese erwiderte das Lächeln.

Es wurde dann noch ein lustiger Abend. Cornelia wußte viele Spiele, die man ohne Tisch spielen kann, Rate- und Gesellschaftsspiele. Erst als sie todmüde waren, gingen sie schlafen. Dagmar hatte für Cornelia in Mutters Zimmer ein schönes Bett auf der Couch vorbereitet.

„Wir drei schlafen wieder so wie gestern, diesmal komm’ ich auf das Fell!“ bestimmte sie. „Heiner mit seinem Papagei geht nach oben. Nimm ihn mit, Heiner, und setz ihn auf Nummer Sicher!“

„Klar, mach’ ich“, versprach Heiner und nahm ihn aus Dagmars Hand. Bisher hatte immer einer von ihnen den Vogel gehalten, gestreichelt, an sich gedrückt. Er schien das gern zu haben.

„Aber Zessi nehme ich auch mit. Nicht wahr, Zessi, du kommst mit mir.“

Die schönsten Pferdegeschichten

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