Читать книгу Th'Ragon - Lorne King-Archer - Страница 13
Die Brücke von Corning
ОглавлениеDer Duft von frisch aufgebrühtem Kräutertee stieg Padley am nächsten Morgen in die Nase und ließ ihn aufwachen. Ächzend richtete er sich auf und knetete seine schmerzenden Glieder. Er fühlte sich nicht wirklich ausgeruht, war dreckig und sein Kopf brummte. Flad und Hadley saßen dicht am neu entfachten Feuer und frühstückten bereits. Es war Flad, der als erster bemerkte, dass Padley nicht mehr schlief.
„Guten Morgen Padley. Komm her und iss etwas“, lud er ihn ein.
Nach den erschütternden Ereignissen des Vortages war die Stimmung der drei Ragwin verständlicherweise noch immer mehr als getrübt und verhüllte ihre Gemüter wie schwarzer, schwerer Rauch. Trotzdem gelang es Padley die Appetitlosigkeit zu überwinden und etwas zu essen. Anschließend saßen sie sogar an der Glut des Lagerfeuers zusammen und rauchten eine Pfeife mit dem guten Kraut vom alten Guntrall Earthland.
Als die Asche Irgendwann später kalt geworden war, klopfte Pad sie aus seiner Pfeife und stemmte sich ächzend auf die Beine. Er schaute seine beiden Kameraden an und straffte, in dem Versuch Zuversicht und Entschlossenheit auszustrahlen, die Schultern.
„Kommt, lasst uns aufbrechen. Trotz allem, was gestern geschehen ist, haben wir noch immer eine Aufgabe zu erfüllen!“
„Welchen Sinn hat das jetzt noch?“
„Es geht hier nicht um uns Flad, sondern um das Wohl unseres ganzen Volkes. Wir müssen für die Ragwin Hilfe holen und damit auch uns selber vor Kh’Rhybok retten. Auf unseren Schultern – und es sind jetzt nur noch drei – lastet die gesamte Verantwortung für das Gelingen dieser Mission. Es ist eine schwere Bürde, aber wir müssen sie tragen … und ertragen!“
Er bemerkte nicht, dass er beim sprechen immer lauter wurde und die Hände zu Fäusten ballte. Ganz aufgewühlt atmete er tief durch und spreizte vorsichtig wieder seine Finger.
„Du hast ja Recht Pad.“, stimmte Flad zu. „Ich könnte es jetzt auch nicht ertragen zurückzugehen und Saltneys Eltern unter die Augen zu treten.“
Hadley nickte und klopfte ihm sanft auf die Schulter.
Erfüllt von aufkeimender, neuer Entschlossenheit, begannen sie all ihre Sachen in den Rucksäcken und Packtaschen zu verstauen. Auch die nützlichen Dinge aus Saltneys und Boggys Habe nahmen sie an sich; vor allem den Proviant. Was übrig blieb trugen sie zusammen und verbargen es unter einem rasch aufgeschichteten Steinhaufen. Vielleicht konnten sie es auf ihrem Heimweg wieder mitnehmen, sofern sie ihr Weg wieder hier vorbei führen sollte.
Als sie am späten Morgen dann endlich aufbrachen, fiel Padleys Blick noch einmal auf die Gräber seiner verstorbenen Begleiter.
„Auf bald Freunde“, flüsterte er und das Sonnenlicht brach sich dabei in der Träne, die über seine Wange lief.
„Hast Du etwas gesagt?“ fragte Flad.
„Nein, nicht wirklich…“
„Dann hab ich mich wohl geirrt. Wie geht es denn jetzt weiter? Wohin gehen wir von hier aus?“
Hadley schob sich zwischen sie und kramte die Karten und Aufzeichnungen aus seinem Rucksack hervor. Er entrollte die Papiere und breitete sie kurzerhand auf einem flachen Fels aus.
„Kommt und schaut es euch an!“, forderte er seine Begleiter auf, während sein Zeigefinger bereits über die Seiten huschte.
„In dem Buch hatte ja gestanden: … waren wir schon tagelang durch Eldenvarad gezogen. Hauptmann Grenald, der mich mittlerweile zu seinem Stiefelknecht gemacht hatte, sagte der Winter wäre ungewöhnlich streng in diesem Jahr. Und er hatte Recht; wir froren alle erbärmlich und unsere Vorräte waren beträchtlich geschrumpft. Es gelang uns auch nicht bei dem anhaltenden Schneegestöber zu Jagen oder gar einen Fisch aus dem Fahrodank zu ziehen. Trotzdem setzten wir unseren Weg – immer an seinem Ufer entlang – unbeirrt fort.
Hauptmann Grenald sagte, wir müssten uns immer in Richtung Grenzwall – Gebirge halten. Er rechne damit, dass wir in ein oder zwei Tagen – je nach Wetter – die weite Tiefebene von Langrothahn erreichen sollten …
Sofern wir das also richtig gedeutet haben, heißt das für uns, dass wir weiterhin dem Ph´Dang folgen müssen. Wenn ich mich nicht irre, sollten wir morgen oder übermorgen schon Corning am jenseitigen Ufer sehen können. Danach endet für mich sozusagen die bekannte Welt. Weiter, als bis nach Corning bin ich in meinem ganzen Leben noch nie gekommen. Wir sollten dort versuchen unsere Vorräte aufzufrischen und dann weiter ziehen, den Fluss hinauf.“
„So hatten wir es ja vorgesehen.“
„Genau. Nach meiner Erinnerung müssten wir hinter dem kleinen Wäldchen das Ufer des Ph´Dang erreichen.“
Bei dem Gedanken sich den Bäumen wieder nähern zu müssen, verzog Flad das Gesicht.
Padley schien seine Gedanken erraten zu haben, fühlte sich letztlich genau so unbehaglich dabei, aber er sah auch die Notwendigkeit.
„Flad, wir könnten den Wald auch umgehen, aber wir wissen nicht so genau wie weit er sich erstreckt und wie viel Zeit wir damit dann verlieren. Und ehrlich gesagt … möchte ich so schnell wie möglich Corning erreichen und wenigstens ein oder zwei Nächte in einem Bett schlafen und vielleicht auch ein gutes Bier in einer Wirtschaft trinken.“
„Das ist mir schon klar. Also dann …“
Sie setzten sich in Bewegung und kamen den ersten Bäumen rasch näher. Padley war verwundert und schaute sich um. Er war sich nicht ganz sicher, ob sie den richtigen Weg eingeschlagen hatten. Seiner Meinung nach müssten sie den Wald genau dort erreicht haben, wo sie gestern ihre Freunde verloren hatten. Er fuhr sich durch das dunkle Haar, bevor er seine Hand nach Hadleys Arm ausstreckte.
„Sind wir in die falsche Richtung gelaufen?“
„Wie kommst du darauf, Pad?“
„Hmm… eigentlich hätten wir genau dort in den Wald gelangt sein müssen, wo gestern der Kampf stattgefunden hat, aber ich kann den Th´Aarn nirgendwo sehen.“
Flad schaute sich jetzt ebenfalls suchend um. Seiner Miene nach zu urteilen, zweifelte er an seinem Verstand. Er schüttelte den Kopf, als würde er sich in einem inneren Zwiegespräch befinden.
„Ich bin mir ganz sicher, dass wir genau auf dem richtigen Weg sind! Der Kadaver müsste eigentlich genau dort vorne liegen …“, sagte er und deutete mit der ausgestreckten Hand zu den Bäumen. Er hatte zweifellos Recht. Die abgebrochenen Äste und der aufgewühlte Boden waren selbst aus dieser Entfernung schon deutlich zu erkennen.
„Das sehen wir uns an!“
Was sie kurze Zeit später vorfanden, trug nicht unbedingt zu ihrer Beruhigung bei. Das war ganz eindeutig die Stelle, an der am Vortag der Kampf um Leben und Tod mit dem Th´Aarn getobt hatte. Äste und Unterholz waren hier verwüstet und niedergewalzt. Und noch immer lag der schwere und Übelkeit erregende Geruch von Blut in der kühlen Morgenluft. Das Erdreich schien Stellenweise regelrecht umgepflügt worden zu sein, aber … der Kadaver der Bestie war fort. Um so beunruhigender war die Tatsache, dass sie nach kurzer Suche die Klauenabdrücke eines anderen, offensichtlich noch viel größeren und schwereren Th´Aarns fanden. Er musste in der Nacht seinen Artgenossen – oder Revierrivalen – fortgeschleppt haben. Den Spuren führten aber glücklicherweise nicht in die Richtung, die sie einzuschlagen gedachten.
Padley jagte der Gedanke, dass dieses Monstrum in der Nacht in ihrer unmittelbaren Nähe gewesen war und sie vermutlich ohne Probleme im Schlaf hätte überraschen können, einen eiskalten Schauer über den Rücken. Unwillkürlich glitt seine Hand zum Schwertgriff. Er zog die Waffe allerdings nicht aus der Scheide, krampfte aber seine Finger ganz fest darum. Es schien ihr Glück gewesen zu sein, dass sich der Th´Aarn mehr für die größere Mahlzeit, als für drei kleine Ragwin interessiert hatte.
Nach dem Getöse, das die Bestie im Kampf verursacht hatte, war es kaum zu glauben, dass solch ein Koloss wiederum so leise sein konnte, dass man seine Nähe im Schlaf gar nicht bemerkte. Diese Tatsache flößte Padley noch gehörig mehr Respekt vor diesen Raubtieren ein. Er wand sich aus diesen Gedanken heraus und winkte die anderen beiden zu sich heran.
„Lasst uns bloß schnell hier verschwinden! Ich möchte in meinem Leben keinem Th´Aarn mehr begegnen. Und wenn ich es recht überlege auch nicht im nächsten oder übernächsten Leben…“
Er erntete keinerlei Widerspruch von seinen Freunden. Sie sahen zu, sich flugs wieder aufzumachen und schlugen sich zwischen den Bäumen einen kleinen Wildpfad entlang, der in die angedachte Richtung führte. Sie schritten schnell aus und hatten ein waches Ohr für jedes verdächtige Geräusch, das aus den Tiefen des Waldes drang. Aber ihr Marsch verlief ereignislos. Es dauerte an die drei Stunden, bis sich die Bäume lichteten und den Blick auf freies, leicht hügeliges Gelände freigaben.
Sie atmeten erleichtert auf. Es fühlte sich doch wesentlich besser an über offenes Terrain zu laufen. Der Eindruck beobachtet und belauert zu werden fiel wie eine unsichtbare Last von ihnen ab.
Links vor ihnen, in nordwestlicher Richtung, waren bereits Schilf und Binsen zu erkennen. Das beständig lauter werdende Rauschen eines großen Flusses drang an ihre Ohren. Der Ph´Dang lag also in unmittelbarer Nähe und sie würden es dann noch leichter haben; konnten seinem Ufer folgen, bis sie die Brücke von Corning erreichen würden.
Ihre Stimmung hob sich deutlich in Anbetracht der Tatsache, dass sie nun wohl nur noch eine Nacht unter freiem Himmel verbringen mussten. Morgen sollten sie dann ohne Probleme die Siedlung ihrer Ragwin - Brüder erreichen können.
An diesem Abend lagerten sie aber noch einmal unter freiem Himmel, unmittelbar am Ufer des Flusses. Sie legten sich schon bald, nachdem sie noch kurze Zeit am Feuer gesessen und gemeinsam gegessen hatten, schlafen. Nach den Strapazen des letzten Tages und der unruhigen Nacht kam der Schlaf sehr, sehr schnell.
~
Das am Flussufer ebene Gelände ließ sie gut vorankommen. Sie waren an diesem Tag früh aufgestanden und dann nach einem kurzen Frühstück gleich aufgebrochen. Nun schwatzten sie während des Marsches und rauchten die eine oder andere Pfeife. Wenn einer von ihnen seine Notdurft verrichten musste legten sie eine kurze Pause ein, sonst nicht. So war es erst früher Nachmittag, als sie die weite Flussbiegung erreichten, hinter der die Brücke und Corning liegen mussten. Hadley pfiff ausgelassen den Refrain von Pimbleys Ernte vor sich hin und auch Flad und Padley waren sichtbar gut gelaunt.
Flad wäre Hadley beinahe in die Hacken getreten, als dieser hinter der Biegung abrupt stehen blieb.
Er wollte ihn gerade anfahren, als sein Blick Hadleys ausgestrecktem Arm folgte.
„Was, bei allen Göttern …?“
Am anderen Ufer waren die Häuser von Corning zu sehen, die sich eng aneinandergeschmiegt in einer kleinen Senke hinter dem jenseitigen Uferstreifen befanden.
Allerdings war die Brücke fort und der reißende Strom des Ph´Dang gab nur eine Handvoll rußgeschwärzter Stümpfe frei, die mit viel Fantasie einmal die rumpfdicken, hölzernen Brückenpfeiler gewesen sein konnten. Padley schob sich an seinen Begleitern vorbei und rannte zu der Stelle des Ufers, wo die Brücke einmal begonnen hatte. Er ließ sich auf ein Knie herabsinken und betrachtete, was von der sicherlich ehemals gewaltigen Konstruktion übrig geblieben war. Das Holz war schwarz und verbrannt. Als er seine Finger nach einigen Bruchstücken ausstreckte, zerfielen sie unter seiner Berührung sofort zu Asche. Das konnte niemals ein gewöhnliches Feuer angerichtet haben. Er spürte, dass seine Freunde mittlerweile hinter ihn getreten waren. Als er sich umdrehte sah er Hadley aufgeregt zum jenseitigen Ufer hinüberwinken. Dort war ein Ragwin zu sehen, der Schilfrohr schnitt – so hatte es zumindest den Anschein. Er schaute nur leider nicht zu ihnen herüber. Padley erhob sich und begann, zusammen mit Flad, ebenfalls zu winken und zu rufen.
Es dauerte einen Moment, bis sie die Aufmerksamkeit des Mannes erregten.
„Ich bin Hadley Cornpie…“, rief Hadley. „…und wir sind aus Fildrem!“
Doch der Mann zuckte nur die Schultern. Er schien sie über das Tosen des Flusses hinweg nicht verstehen zu können. Sie riefen jetzt alle zusammen und noch viel lauter, was aber nicht half. Der Mann hielt sich auf der anderen Seite des Ph´Dang die Hände an die Ohren, winkte aber nach einiger Zeit ab. Er bedeutete ihnen mit Gesten abzuwarten. Sie hielten inne und beobachteten, wie er aus seinem Korb das lange Messer zog, mit dem er zuvor das Schilfrohr geschnitten hatte. Er verschwand kurz darauf im hohen Schilf an der Böschung. Kurz darauf kam er schon wieder zum Vorschein und hielt ein großes, sehr breites Blatt in der Hand. Er hob es hoch, um es ihnen zu zeigen, kniete sich danach hin und machte sich daran zu schaffen. Was auch immer er tat, dauerte nicht all zu lange. Er stand wieder auf und hielt sich sein Werk vor den Mund.
„Ich bin Inslad Goodrye. Sucht euch ein Lhimda-Blatt und rollt es zu einem Trichter, wie ich es getan habe und haltet es vor den Mund, dann werde ich euch hoffentlich verstehen!“
„Ein kluger Mann“, murmelte Hadley und gab Inslad mit Gesten zu verstehen, dass er ihn gehört hatte.
Flad und Padley waren bereits dabei auf ihrer Seite der Flussböschung nach einem Lhimda–Busch zu suchen. Einige Meter abseits fanden sie schnell ein paar geeignete Blätter, die sie sofort zu einem eben solchen Trichter aufrollten.
„Ich bin Hadley Cornpie und das sind meine Begleiter Padley Barleycorn und Flad Pepper.“, rief er durch den improvisierten Stimmverstärker. „Wir kommen aus Fildrem und haben uns auf die Suche nach dem großen, schlafenden Krieger gemacht.“
„Ja ich hörte davon. Eine Brieftaube mit einer Nachricht eures Rates hat vor ein paar Tagen Corning erreicht.“, antwortete Inslad. „Aber es hieß in der Nachricht, ihr wärt zu fünft aufgebrochen…“
Hadleys zuckte merklich und schien in sich zusammenzusacken. Er wischte mit dem Handrücken ein paar Mal über seine Augen – waren da Tränen? Wen würde es wundern, wenn es so wäre. Er nahm ein paar tiefe Atemzüge, bevor er weitersprechen konnte.
„Wir haben unsere beiden Freunde leider verloren. Vorgestern… ein Th´Aarn… !“
„Der Schutz der Götter sei mit ihnen!“, rief Inslad und legte dabei Zeige– und Mittelfinger der rechten Hand an die Nasenwurzel und schloss die Augen. Er verharrte kurz in stiller Meditation.
„Und jetzt ? Was habt ihr vor? Ist die Mission gescheitert?“
„Nein, wir wollen auf jeden Fall weiter machen. Es hat keinen Zweck jetzt umzukehren. Es würde nichts wieder besser machen. Aber wir hatten die Hoffnung ein oder zwei Nächte in Corning zu verbringen und unsere Vorräte wieder aufzubessern. Was in Kosâllahs Namen ist hier mit der Brücke geschehen?“
„Kh’Rhybok…“
In der folgenden halben Stunde berichtete Inslad Goodrye von einem Ereignis, das in den Gefährten die Erinnerung an die Vorkommnisse in Fildrem wieder wach rief. Auch in Corning hatte es Proteste der Einwohner gegeben, als Kh’Rhybok durch seine Mittelsmänner erneute Forderungen erheben ließ. Eine Gruppe Ragwin hatte darauf hin die zwei Männer, die von ihrem Herrn geschickt worden waren, beherzt und mit Knüppeln und Schlegeln bewaffnet, über die Brücke, aus dem Dorf hinausgetrieben. Die Folge war, dass in der darauffolgenden Nacht ein vermeintliches Unwetter heraufzog. Es wurde aber alsbald klar, dass es sich um kein natürliches Wetter handeln konnte. Die Wolken hatten sich nur über dem Fluss zusammengezogen und fast eine Stunde lang waren Blitze vom Himmel herabgekracht - in die Brücke hinein und brannten sie bis auf die Fundamente nieder. Allerdings war niemand aus Corning zu Schaden gekommen; den Göttern sei Dank. Also hatte auch hier an diesem Ort Kh’Rhybok seine Macht zur Schau gestellt.
„Ich habe keine Ahnung, was man gegen solch einen übermächtigen Feind ausrichten kann!“, schloss Inslad seinen Bericht.
„Wir Ragwin können sicherlich niemals direkt gegen ihn vorgehen.“, rief Hadley. „Aber deswegen sind wir ja losgezogen, um Hilfe zu suchen. Und mögen die Götter geben, dass es uns gelingt!“
Padley schob sich noch einmal nach vorn und bat um das Lhimda-Blatt. Sein Vorredner reichte es ihm mit einem stummen Nicken.
„Inslad, gibt es irgendwie die Möglichkeit den Fluss mit einem Boot zu überqueren?“
„Nein, jedenfalls nicht hier! Die Strömung ist hier viel zu stark und zu tückisch, als dass man so etwas denken sollte. Das geht erst wieder einen halben Tagesmarsch weiter flussabwärts.“
„Das würde uns zu lange aufhalten. Aber wir müssen unsere Vorräte auffrischen…“
Inslad raufte sich die Haare.
„Wartet hier! Mir ist etwas eingefallen. Ich lauf eben schnell in den Ort und hole meinen Freund Shingley.“
Die drei Weggefährten schauten sich ein wenig verwirrt an. Aber schließlich hatten sie wohl auch kaum eine andere Wahl. Also warteten sie …
Es mochte eine halbe Stunde vergangen sein, als Inslad endlich zurückkehrte. Ihm folgte nun eine ganze Schar von Dorfbewohnern, die ihnen zuwinkten und Grüße zuriefen. Inslad selbst trat ein wenig vor und zog einen weiteren Ragwin am Ärmel mit sich. Er war etwas kleiner als er selbst, oder erweckte zumindest den Eindruck, da er leicht vornübergebeugt ging. Wie es schien, hinkte er auch ein wenig. Sie konnten sehen, dass Inslad mit seinem Begleiter sprach und ihm schließlich das aufgerollte Blatt in die Hand drückte. Leicht mürrisch griff er schließlich zu und begann mit den Fingern seinen Mund vom stark wuchernden Bart zu befreien, dessen tiefes Schwarz bereits von grau-silbernen Strähnen durchzogen war.
„Ich bin Shingley Strawbuncher.“, rief er über den Fluss. „Goody hat mir schon berichtet, was euch widerfahren ist und was euer Problem ist. Oh… und im Namen des Rates von Corning darf ich euch versichern, dass wir mit euch um den Tod eurer Freunde und unserer Brüder trauern!“
„Danke Shingley! Mein Name ist Hadley Cornpie und das sind meine Freunde und Begleiter.“, antwortete er und stellte ihm Padley und Flad vor, was wiederum von den Ragwin auf der anderen Flussseite mit freundlichen Rufen und zum Gruß erhobenen Händen kommentiert wurde.
„Inslad deutete an, dass du uns vielleicht helfen könntest. Kennst du einen Weg, wie wir den Fluss irgendwie anderswo überqueren können?“
„Nein. Eine Möglichkeit über den Fluss zu kommen, die euch weiterhelfen würde, kenne ich auch nicht. Aber ich bin Jäger und häufiger einige Wochen außerhalb von Corning unterwegs. Ich kann mein Jagdgut nicht immer zwischendurch hierher schaffen und habe zusätzlich das Problem bei schlechtem Wetter meine Vorräte auffrischen zu müssen. Ich kann aber deswegen meine Pirsch nicht für längere Zeit unterbrechen.“ Er rieb sich kurz den Rücken und sortierte danach noch einmal ein paar Barthaare von seinem Mund fort.
„Ist knapp zwei Jahre her, dass ich mir eine kleine Hütte zusammengezimmert habe, die mir als Zwischenlager dient. Ich habe dort einige Vorräte deponiert. Seit die Brücke hin ist, war ich aber nicht mehr dort. Schätze aber, dass einiges noch ganz brauchbar sein dürfte.“
Padley bat Hadley um das Lhimda-Blatt.
„Shingley, das hört sich gut an. Wo finden wir die Hütte?“
„Nun, folgt einfach weiter dem Flussufer. Nach einem strammen Tagesmarsch werdet ihr auf eine halb umgestürzte Bhedafichte treffen. Sie ist krank und trägt kaum Blätter. Von dort aus führt mein Trampelpfad weg vom Wasser. Wenn ihr ihm folgt, werdet ihr die Hütte nicht verfehlen können.“
„Das werden wir schaffen! Ich danke dir in unser aller Namen!“
„Ja ist schon recht, aber lasst die Finger von meinen Fellen!“
Padley lachte, war sich aber nicht sicher, ob das ein Scherz hatte sein sollen oder ob Shingley die Warnung ernst gemeint hatte. Wie konnte er glauben, dass sie Hand an seine Pelze legen würden? Oder war es doch nur ein Scherz? Der knorrige Jäger war nicht so leicht zu durchschauen. Vor allem nicht über die Distanz, die der Fluss zwischen ihnen bildete.
Die drei Ragwin tauschten sich noch eine kurze Weile mit ihren Brüdern und Schwestern aus, bevor sie schließlich ihre Wanderung fortsetzten. Sie hatten die Absicht das Licht des Nachmittages noch so gut es ging ausnutzen und möglichst noch ein paar Meilen zu schaffen. Ihr Aufbruch wurde noch sehr lange von winkenden und rufenden Ragwin begleitet, die ihnen am jenseitigen Ufer des Ph´Dang folgten, bis dort ein dichter werdender Wald begann. Von diesem Moment an setzten sie ihre Wanderung wieder allein fort, nur begleitet von der bereits tiefstehenden Sonne. Der Himmel blieb die ganze Zeit über klar und wolkenlos. Das bescherte ihnen auf ihrem Marsch gute Sicht bis in die späten Abendstunden hinein. Erst als die Dunkelheit so tief wurde, dass sie Gefahr liefen ihre eigenen Füße nicht mehr sehen zu können, schlugen sie ein notdürftiges Nachtlager auf und versuchten ein paar Stunden Schlaf zu finden.
~
Schon mit dem ersten Tageslicht waren sie wieder auf den Beinen und folgten weiter dem tosenden Ph´Dang. Gegen Mittag fanden sie den alten und kranken Baum, der halb entwurzelt über die Böschung hinaus wuchs und dessen kahle Krone über dem Wasser schwebte. Ein heftiger Sturm und er würde mit Sicherheit in den Fluss stürzen.
Der von Shingley beschriebene Pfad war tatsächlich nicht zu übersehen. Man erkannte gleich, dass er recht regelmäßig benutzt wurde. Er schlängelte sich zwischen hohen Gräsern und dornigen Sträuchern hindurch vom Flussufer fort. Da er kaum einen halben Schritt breit war, mussten sie ihren Weg im Gänsemarsch fortsetzten. Je weiter sie sich vom Fluss entfernten, desto mehr ließ auch das Tosen des Ph’Dang nach. Allerdings nahm trotzdem die Luftfeuchtigkeit spürbar zu. Flad kratzte sich verwundert am Kopf; das war zumindest merkwürdig. Eigentlich hätte er das doch eher in Ufernähe erwartet, aber nicht bei zunehmender Entfernung.
Na schön, zerbrich dir darüber nicht weiter den Kopf, dachte er. Zumal jetzt bereits die Hütte zwischen den Büschen auftauchte. Oder das, was man so als Hütte bezeichnen mochte…
Das Gebilde verdiente eher die Bezeichnung Verschlag, denn irgendeine andere. Shingley mochte vielleicht ein guter Jäger sein, aber ganz bestimmt kein guter Baumeister oder Zimmermann. Er schien alles Mögliche als Material für die Hütte verwendet zu haben, was er so fand. Alte Baumstämme, Äste, Steine, Lehm, Blätter und einige nicht mehr identifizierbare Dinge waren in seinem Werk vereint.
Während sie sich Schritt für Schritt weiter näherten, setzte leichter Regen ein, der zunehmend stärker wurde. Sie versuchten das letzte Stück bis zur Hütte möglichst schnell zurückzulegen. An der in Blickrichtung befindlichen Seitenwand standen zwei Fässer, die offensichtlich das vom windschiefen Dach herunterlaufende Regenwasser auffangen sollten. Aber nur eines von beiden erfüllte leidlich diesen Zweck, da es nicht wie das andere zu morsch und völlig durchlöchert war. Der Trampelpfad führte rechts um den Verschlag herum und endete vor einer aus unterschiedlichsten Brettern gezimmerten Eingangstür.
Padley, der voran ging, wuchtete mit einiger Mühe den klemmenden Riegel zur Seite und stemmte sie auf. Er trat in das Innere der Hütte und Flad und Hadley folgten ihm auf dem Fuße. Er ließ beide an sich vorbeigehen, dann schloss er eilig wieder hinter ihnen die Tür. Durch den nur kurze Zeit geöffneten Eingang waren bereits einige Regetropfen hereingefallen, die feuchte Punkte auf den unebenen Lehmboden zeichneten.
„Wah, der Regen hat uns gerade noch gefehlt!“, schimpfte Flad.
„Na, nun sind wir ja im Trockenen.“, antwortete Hadley und unternahm den Versuch, sich ein wenig umzuschauen.
„Ist nicht gerade hell hier drin. Lasst uns mal nach einer Lampe suchen.“
Flad stampfte zu einem kleinen Tisch, der im Dämmerlicht gerade noch zu erkennen war. Dort entdeckte er auch tatsächlich eine verbeulte Laterne. Direkt daneben lag ein kleines Zunderkästchen. Er kramte kurz darin herum, bevor er das notwendige Utensil gefunden hatte. Er schob den Glaszylinder der Laterne auf und begann mit dem Feuerstahl Funken zu schlagen. Nach drei oder vier Versuchen brannte der Docht. Ein warmes, leider nicht all zu helles, Licht erstrahlte flackernd und gab mehr von der Umgebung preis.
Der Eindruck, den die Hütte bereits von außen erweckt hatte, setzte sich auch in ihrem Inneren fort. Alles war mehr zurechtgestückelt, als auch nur annähernd geschickt erstellt worden zu sein. Shingley schien wahrhaftig kein guter Handwerker zu sein, wobei er ein umso geschickterer Jäger sein musste. Den Beweis dafür traten die zu zwei großen Haufen aufgetürmten Tierfelle in der hinteren, linken Ecke des einzigen Raumes in dieser Hütte an. Die Wände darüber zierten unzählige Geweihe; unter anderem die zweier ehemals gewaltiger Doghwarns. Zumindest aber hatte Shingleys Geschick soweit gereicht, dass Dach ausreichend abzudichten. Denn trotz des mittlerweile prasselnden Regens blieb es zu ihrer aller Erstaunen trocken in dem Verschlag.
Nachdem Padley als erster damit begonnen hatte, befreiten sich auch seine beiden Begleiter von ihren Rucksäcken und stellten sie in einer Ecke der Hütte ab. Gemeinsam begannen sie danach die an der rechten Wand stehenden, liegenden und übereinandergestapelten Säckchen und Kisten nach brauchbaren Vorräten zu durchsuchen. Etliches davon war nicht mehr verwertbar, da es von Ungeziefer angefressen oder einfach nur verdorben war. Was aber schlussendlich übrig blieb und fein säuberlich auf dem wackeligen Tischchen aufgestapelt war, würde wohl durchaus für drei bis vier Tage als Reiseproviant ausreichen. Hadley betrachtete ihr Werk mit in die Hüften gestemmten Fäusten. Er vermittelte einen sichtlich zufriedenen Eindruck.
„Also schön, dann lasst uns das mal alles möglichst gleichmäßig nach Größe und Last aufteilen und in unseren Rucksäcken verstauen. Sobald der Regen aufhört machen wir uns besser wieder auf den Weg.“
Letztlich war das Ganze relativ schnell erledigt, nur der Himmel spielte nicht mit. Er hatte noch immer seine Schleusen weit geöffnet und schien auch keine Anstalten zu machen sie wieder zu schließen. Regentropfen prasselten wie tausende kleiner Hämmer auf das Dach der Hütte.
Flad steckte irgendwann seinen Kopf prüfend zur Tür hinaus, um ihn genau so schnell wieder einzuziehen. Draußen war nach wie vor alles von tiefem Grau verhangen und der Schleier aus strömendem Regen behinderte die Sicht.
So blieb ihnen keine andere Wahl, als weiter zu warten und aus dem Nachmittag wurde Abend und der Abend langsam zur Nacht.
Notgedrungen gestanden sie sich ein, dass sie die Nacht in der Hütte würden verbringen müssen, um auf einen besseren Morgen zu hoffen…
~
Die Wettergötter des nächsten Morgens schienen tatsächlich gnädig gestimmt zu sein.
Padley, der als erster wach geworden war, rollte sich aus seinen Decken, stand auf und öffnete leise die Tür. Mit müden Augen und strubbeligen Haaren steckte er seinen Kopf nach draußen. Der Regen schien in den frühen Morgenstunden aufgehört zu haben. Überall waren noch Pfützen zu sehen und Sträucher und Gräser waren noch immer tropfnass. Wie schon am Vortag war es wieder – oder wohl immer noch - sehr diesig.
Vielleicht ist das hier ja immer so., dachte Padley. Und wer wusste schon wie lange der Regen wirklich aufhören würde. Er beschloss Flad und Hadley lieber zu wecken, um die Gunst der Stunde zu nutzen.
In aller Eile nahmen sie ein kurzes Frühstück ein – sie verzichteten sogar darauf Tee zu kochen – und packten ihre Decken und anderen Habseligkeiten zusammen. Hadley breitete eben noch einmal ihre Karten und Aufzeichnungen auf dem Tischchen aus und überflog sie kurz.
„Hmm… was stand da über die Tiefebene von Langrothahn?“ Er raufte sich mit der einen Hand die Haare während die andere über die Papiere flog.
Padley ging um den Tisch herum und zog das kleine Büchlein unter den Karten hervor. Er schlug es an der Stelle auf, die er bereits in Fildrem durch einen hineingelegten Grashalm markiert hatte.
„Hier Hadley… es hieß ja, sie gingen ein oder zwei Tage am Fluss entlang in Richtung Gebirge, also in Richtung Gar´Khans-Wall, wie wir es deuten. Demnach müssen wir jetzt erst einmal wieder ans Flussufer zurück und dort noch mindestens einen Tagesmarsch lang weiterlaufen und dann …“ Er blätterte einige Seiten hin und her, bis er die Stelle wiederfand, die er suchte.
„Ah hier!“ Sein Finger huschte über die Zeilen, während er vorlas.
…als Hauptmann Grenald unseren Zug am Bruch des Flusses anhalten ließ, befahl er dort diejenigen zu begraben, die in der letzten Nacht dem Hunger und der Kälte zum Opfer gefallen waren und…
… als wir später wieder aufbrachen wandten wir uns von den Gräbern aus in Richtung Norden, über den Fluss hinweg und auf die Berge zu. Eine endlos erscheinende, nebelverhangene Tiefebene breitete sich vor uns aus. Die Tiefebene von Langrothahn. Hauptmann Grenald sagte, wir sollten dicht beisammen bleiben und ich begann zu frieren...
Flad Pepper legte den Kopf ein wenig schief und seine dichten Augenbrauen zogen sich zusammen.
„Der Bruch des Flusses? Was wird er damit gemeint haben?“
„Könnte eine Art Wasserfall sein, oder?“
„Wäre denkbar, Pad.“, bestätigte Hadley seine Vermutung.
„Nun, zumindest denke ich, dass wir auf jeden Fall erst mal weiter dem Ph´Dang folgen können. Dem Buch zufolge sollte es ja nur noch höchstens ein Tagesmarsch sein, bis wir auf irgendetwas am oder im Fluss treffen, das man als Bruch des Flusses bezeichnen kann. Könnten ja auch Stromschnellen sein?!“
„Na ich denke, wir werden es sehen wenn wir dort sind, Hadley. Was meint ihr, wollen wir?“
Die beiden Ragwin stimmten ihm zu. Schon bald ließen Padley Barleycorn, Flad Pepper und Hadley Cornpie Shingley Strawbunchers windschiefe Hütte hinter sich. Schon nachdem sie wenige Schritte zurückgelegt hatten, verschluckte der morgendliche, feuchte Dunst ihre Umrisse. Der von feuchtem, hohem Gras und Sträuchern gesäumte Trampelpfad brachte sie zurück an das Flussufer. Hier klarte es auf und die Sicht wurde besser. Nur über dem Wasser hingen niedrig Schwaden aus Nebel, die mit der Strömung dahinglitten. Zu ihrer Rechten versuchte sich die Sonne im Kampf um das Tageslicht und leuchtete als orangerote Halbkugel durch den Dunst. Aus der Ferne drang der Ruf eines Blauschnäblers an ihre Ohren, der zu dieser frühen Stunde schon auf Beute aus war.
Am Flussufer gestaltete sich ihr Vorankommen schwieriger, als sie gedacht hatten. Hier lief ganz offensichtlich selten jemand entlang. Deshalb gab es auch keinen erkennbaren Pfad und sie mussten sich durch kniehohes Gras kämpfen.
Einmal - es war kurz vor Mittag - mussten sie sich sogar ein gutes Stück vom Fluss abwenden und gen Osten laufen, da die Böschung auf zehn oder fünfzehn Schritte unterspült und eingebrochen war. Die Sonne war mittlerweile bereits schon wieder ein gutes Stück am Firmament gesunken, als sie an das Ufer zurückgelangten. Sie rasteten dort kurz, um etwas Essbares aus ihren Vorräten hervorzuholen und verzehrten es dann im Weitermarschieren.
Im dämmrigen Licht des späten Nachmittages näherten sie sich einem immer lauter werdenden Rauschen, das sich schon bald als der vermeintliche Wegepunkt herausstellte. Über die gesamte Breite des Flusses – und es mochten hier immer noch gute hundert Fuß sein – stürzte das Wasser über eine mehr als mannshohe Steintrasse. Auf dem höheren Niveau dahinter, hatte sich der Ph´Dang aufgestaut und bildete einen kleinen, trügerisch ruhig wirkenden See.
„Das, wird wohl der Bruch des Flusses sein…“
Hadley blickte Pad an und nickte brummend.
Flad, der ein paar Schritte abseits stand und sich umgesehen hatte rief die beiden zu sich.
„Seht“, sagte er und deutete auf fast ein Dutzend flache, langgestreckte Steinhügel, die ein gutes Stück entfernt vom Flussufer im hohen Gras gerade noch als solche zu erkennen waren.
„Zu viele und zu gleichmäßig angeordnet, als das sie zufällig entstanden wären. Gräber…“
Padley fuhr sich mit der Hand durch das schulterlange, schwarze Haar, dass schon seit einigen Tagen keinen Kamm mehr gesehen hatte.
„Du hast Recht, Flad. Damit dürften wir wohl ganz eindeutig die im Buch beschriebene Stelle gefunden haben. Was denkst Du Hadley?“
„Keine Frage! Das bedeutet dann aber auch, dass wir hier den Ph´Dang überqueren müssten. Lasst uns überlegen, wie wir das bewerkstelligen wollen.“
Gemeinsam begaben sie hinab, bis sie direkt an der Wasserlinie des Flusses standen. Dort wo seine Fluten über die Felsstufe stürzten, ergossen sie sich rauschend und brodelnd in das tiefer liegende Flussbett. Die Oberfläche war hier stark aufgewühlt und man erkannte Strudel und aufschäumendes Wasser wohin man auch blickte. In der Luft hing Feuchtigkeit, schwer und erdrückend. Die drei Ragwin waren sich sehr schnell darüber im Klaren, dass unterhalb der Trasse kein Überquerungsversuch möglich sein würde. Der Fluss war dort viel zu tückisch und sicherlich auch zu tief, um das in Erwägung zu ziehen.
Sie stiegen also wieder hinauf zum festeren Flussufer und begannen dort nach einer Möglichkeit zu suchen, wie sie vielleicht das höhere Niveau des Bruches erreichen konnten.
Es war Hadley, der etwa fünfzehn Schritte abseits des Wassers eine Art schmalen Pfad entdeckte. Hier war Erdreich herabgebrochen oder vielleicht einfach fortgespült worden. Im leicht ansteigenden Gelände war so ein Einschnitt entstanden, in dem freigelegte Felsen so etwas wie eine natürliche Treppe mit sehr unregelmäßigen Stufen bildeten. Mit einiger Mühe überwanden sie auf diesem Wege den Höhenunterschied. Oben angekommen konnte man noch deutlicher sehen, wie die Steinstufe den Fluss zu einem kleinen See angestaut hatte. Seine ganzen Ausmaße waren nicht zu erkennen, da sich die trügerisch stille Wasseroberfläche schon nach dreißig oder vierzig Schritten im Nebel verlor, der dort wie festgenagelt über dem Fluss hing.
Flad Pepper hob einen Ast vom Boden auf, der fast mannslang war und begann damit in das Wasser zu staken.
„Es ist gleich vom Ufer weg sehr tief und es zerrt ziemlich an dem Ast. Die Strömung ist sehr stark unter der Oberfläche. Da werden wir nicht ohne Floss oder Boot übersetzen können.“
„Das fehlte uns gerade noch.“
„Dürfte nicht so schlimm sein Padley.“, meinte Flad und ging mit dem Ast etwas näher an den Bruch heran. Als er ihn dort ins Wasser steckte, war auch für die anderen zu erkennen, dass er dort gleich unter der Oberfläche auf Widerstand stieß.
„Hier, direkt wo das Wasser über die Kante fließt ist es nur etwas mehr als knöcheltief.“
„Dann sollten wir es dort versuchen, oder?“
„Ich denke schon.“
Sie zögerten nicht. Flad bildete die Spitze und prüfte mit seinem provisorischen Wanderstab weiterhin die Wassertiefe. Hadley folgte ihm und Padley Barleycorn bildete die Nachhut. Langsam und mit äußerster Vorsichtig bewegten sie sich voran, denn die Felsen waren unter der Wasseroberfläche rutschig und die Strömung - obwohl das Wasser hier flach war - immens. Dadurch kamen sie nur Schritt für Schritt voran und sehr schnell machte das eisige Nass ihre Füße fast gefühllos. Annähernd in der Flussmitte stießen sie auf ein Hindernis. Ein dunkler, kahler Baumstamm, den der Fluss mitgerissen hatte, war hier hängen geblieben und ragte fast zur Hälfte über die Felskante. Da es keine Möglichkeit gab ihn zu umgehen, machten sie sich daran über ihn hinweg zu klettern. Hadley half Flad dabei den glitschigen und halb-mannsdicken Stamm zu erklimmen. Mit erheblicher Mühe schaffte er es hinauf, denn der Baum bot kaum Halt. Der Grat auf dem sie standen war auch zu schmal, als das Padley hätte helfen können. Ihm blieb lediglich die Option Hadley von hinten ein wenig stützen, während der ihrem Kameraden hinauf half.
„So ich bin oben.“, schnaufte Flad schließlich.
„Ich steige jetzt auf der anderen Seite runter und versuche dann den Ast rüberzureichen und festzuhalten, damit du dich als nächster daran hochziehen kannst.“
„Ja, versuch es bitte.“, antwortete Hadley.
Sie sahen zu, wie sich Flad vorsichtig, bäuchlings über den Stamm gleiten ließ. Dann - mit einem Aufschrei - verschwand er abrupt aus ihrem Gesichtsfeld und der Ast fiel Hadley entgegen. Aus einem Reflex heraus griff er danach und kam dadurch selbst aus dem Gleichgewicht. Hätte Padley ihn nicht beherzt gepackt und gegen den Baum gedrückt, wäre er unvermeidlich in den Fluss gestürzt. Doch für Worte des Dankes war jetzt keine Zeit.
„Flad! Flad, wo steckst Du?“, riefen sie.
Durch das Tosen der fallenden Wassermassen, drang von irgendwoher schwach seine Stimme zu ihnen durch. Aber sie schien irgendwo von unten zu kommen.
„Er wird doch nicht in den Fluss gestürzt sein?“
„Den Göttern sei Dank; ist er nicht! Schau Hadley, ich sehe ihn!“
Als sein Blick Padleys ausgestrecktem Arm folgte konnte er Flad sehen. Der hing ein gutes Stück tiefer in den Ästen des alten Baumes. Er war also tatsächlich über die Kante gestürzt aber wenigstens nicht in den brodelnden Fluten gelandet. Allerdings machte er einen ziemlich hilflosen Eindruck.
„Flad?“
„Ich hänge hier in den Ästen fest. Mein Rucksack hat sich irgendwie verfangen und ich hänge nur in den Trageriemen. Ich komme auch nirgends an den Baum heran, um mich festzuhalten.“, rief er.
Padley rieb sich das Kinn und überlegte kurz.
„Wir müssen rüber Hadley. Von hier aus können wir ihm nicht helfen. Du musst auf den Stamm…“
„Ja los!“
„Flad, halt aus, wir kommen…“, rief Padley.
Ihr abgestürzter Weggefährte versuchte ihnen aufmunternd zuzuwinken.
„Ist gut, aber macht ja keine Teepause unterw… Wahh!“
„Was ist los?“
Sieh sahen, dass Flad völlig bewegungslos und wie zu Stein erstarrt wirkte.
„Der Ast über mir hat gerade mehr als nur unschön geknackt das Biest gibt nach. Der hält nicht lange…“
„Halt bloß still, wir sind unterwegs!“
Mit größter Vorsicht, aber auch mit der gebotenen Eile, machten sich Pad und Hadley daran auf den Baumstamm zu klettern. Um nicht das gleiche Schicksal zu erleiden wie Flad, rammte Hadley sein Messer tief in das Holz, als er oben angekommen war. Er hielt sich daran mit einer Hand fest und warf einen prüfenden Blick auf die andere Seite.
„Wie sieht es aus?“, verlangte Padley zu wissen.
„Flad hängt gut fünf oder sechs Fuß unter der Kante in den Ästen. Scheint tatsächlich, als würde er nur von seinem Rucksack gehalten werden und der Ast ist bereits tief eingerissen…“
„Also gut, dann hilf mir rauf!“
Mit Mühe und Hadleys Hilfe gelangte auch Padley hinauf auf den rutschigen Stamm. Es gelang ihnen sich auf der anderen Seite herabzulassen, ohne abzustürzen. Hadley, gehalten von Pad, beugte sich vornüber und tief über die Kante, in dem Versuch nach Flad oder zumindest dessen Rucksack zu greifen. Aber der hing viel zu weit unter ihnen. Die Gischt hatte ihn bereits völlig durchnässt.
„Ich komme so nicht an dich heran. Kannst Du irgendwie einen der anderen Äste packen?“
„Nein, ich kann mich unter dem Rucksack nicht drehen. Und wenn ich aus den Tragegurten herausschlüpfe verliere ich mit Sicherheit ganz den Halt.“
„Dann versuchen wir es anders. Padley, gib mir den Ast.“
Vorsichtig griff er nach dem Ast, den Pad ihm reichte und schob ihn zu Flad hinunter.
„Mist, zu kurz. Du musst mich noch weiter runter lassen.“
„Das geht nicht Hadley, dann verlieren wir beide den Halt und stürzen ab. Warte einen Moment und komm erst mal wieder hoch.“
Hadley ließ sich von Padley zurückziehen und aus der gehockten Stellung aufhelfen. Er registrierte erst jetzt, dass er mittlerweile auch schon fast völlig durchnässt war.
„Bleib jetzt einen Augenblick still stehen Hadley. Ich muss dich kurz loslassen.“
„Ist in Ordnung…“
Während sein Kamerad um einen möglichst festen Stand bemüht war und sich mit dem Ast zusätzlich abstützte, öffnete Padley seinen Gürtel und zog ihn aus den Schlaufen. Anschließend führte er das freie Ende wieder durch die Schließe, so dass sich eine Schlinge bildete. Er brauchte ein paar Versuche, bis es ihm gelungen war diese über den immer noch im Baumstamm steckenden Knauf des Dolches zu werfen. Vorsichtig zog er am Gürtel. Die Schlinge zog sich wie erhofft zu und er prüfte den Halt.
„Möge Kosâllah geben, dass das hält!“
„Es muss!“, brummte Hadley.
Padley schlang sich das freie Ende des Gürtels zweimal um sein linkes Handgelenk und reichte seine Rechte Hadley.
„Ich hoffe das wird genügen…“
Auf ein Zeichen hin ging Padley gleichzeitig mit Hadley in die Hocke und hielt dabei den Gürtel fest umklammert. Mit dem ausgestreckten rechten Arm verhalf er nun seinem Begleiter zu einer extremen Vorauslage über die Bruchkante des Flusses hinaus. Hadleys Gewicht zog dabei bereits schmerzlich an seinen Schultergelenken. Aber diesmal kamen sie weit genug herab, um Flad mit dem Ast zu erreichen. Da dieser aber unglücklicherweise mit dem Rücken zu ihnen hing, konnte er die Bemühungen bestenfalls aus dem Augenwinkel verfolgen; und auch nur wenn er seinen Kopf ganz herumdrehte.
„Du musst den Ast packen, dann ziehen wir dich herauf.“, stieß Hadley zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor.
„Ich kann ihn nicht sehen, wo ist er?“, wollte Flad wissen.
„Leider reicht er nicht ganz, sonst könnte ich dich anstoßen, aber es wird auch so gehen! Ich dirigiere dich. Beweg deinen rechten Arm einfach nach hinten…“
Flad begann vorsichtig in der angegebenen Richtung umherzutasten.
„Noch etwas weiter… ja gut so… und jetzt dichter zum Körper… und noch mal weiter zurück…“
„Hab´ ihn!“, rief Flad erleichtert und ergriff den Ast mit seiner Rechten.
„In Ordnung. Jetzt zieh dich vorsichtig ein wenig herum, damit du ihn mit beiden Händen fassen kannst.“
Flad bemühte sich redlich, aber er hing zu schwer in den Gurten des Rucksacks, um sich wirklich drehen zu können. Zudem knirschte der Ast, der ihn hielt bei diesen Bewegungen unheilvoller denn je.
„Verdammt, das wird so nichts. Ich muss den linken Arm aus dem Gurt ziehen.“, fluchte er.
„Sei bloß vorsichtig.“
„Und beeilt euch ein bisschen, mir reißen gleich die Arme aus.“, forderte Padley.
Als Flad seinen Befreiungsversuch begann – so behutsam er auch war – fing der Ast an zu schwanken und erneut und noch lauter zu knacken. Es gelang ihm, seinen linken Arm zu befreien und die Ereignisse überschlugen sich. Fast zeitgleich gab es ein berstendes Geräusch und der Ast an dem er eben noch gehangen hatte brach von dem alten Stamm ab und stürzte in die Tiefe, zerrte mit seinem Gewicht an dem Rucksack und riss ihn und Flad herum. Der wiederum versuchte sich mit nur einer Hand an dem von Hadley gehaltenen Ast festzuhalten. Padley stöhnte unter dem Gewicht, das auf einmal an seinen Schultern zerrte und seine Gelenke unangenehm knirschen ließ. Der Lederriemen schnitt tief in sein linkes Handgelenk und in das rechte bohrten sich Hadleys Finger, der ebenfalls nach Halt suchte. Flad begann bereits von dem zur Hilfe ausgestreckten Ast abzurutschen. Mit der einen, durchgefrorenen und nassen Hand würde er sich nicht lange halten können.
„Halt dich fest!“, brüllte Hadley ihn an.
„Jaaa…“, ächzte Flad. Er wusste, dass er jetzt nur eine einzige Chance hatte - nur einen Versuch. Mit einem beherzten Ruck packte er mit der linken Hand ebenfalls den Ast, aber er spürte, dass das Gewicht des Rucksacks und des immer noch darin verhakten alten Astes ihn hinabreißen würde. Ihm blieb keine andere Wahl; er löste für einen Augenblick seine rechte Hand von dem rettenden Ast und streifte auch den zweiten Gurt von der Schulter. Der Rucksack verschwand zusammen mit dem herausgebrochenen Teil des Baumes in den tosenden Fluten unter ihm. Ein Schauspiel, das er keines Blickes würdigen konnte. Hastig packte er mit der rechten Hand wieder den Ast. Durch die heftigen Bewegungen rutschte Hadley aus und über den Rand. Mit Entsetzen sah Padley ihn vor seinen Augen verschwinden und spürte fast im selben Moment einem noch heftigeren Ruck. Das Gewicht seiner beiden Kameraden riss ihm fast die Arme und die Handgelenke aus. Er wurde brutal herabgezogen und durch die Last an den Baumstamm gepresst, unfähig etwas zu tun, außer vor Schmerzen aufzustöhnen. Der Gürtel schnürte so fest in sein Gelenk, dass die Hand – von der Blutzufuhr getrennt – taub zu werden begann. An der Rechten spürte er aber nach wie vor den Griff von Hadleys Fingern. Also hatte er sie noch nicht verloren. Sein Gesicht an den Stamm gepresst, rief er die Beiden. Durch das Rauschen und Tosen hinweg konnte er nichts verstehen, konnte aber zumindest zwei Stimmen ausmachen.
Währenddessen war Flad durch den Beinahe-Absturz noch weiter am Ast heruntergerutscht und mühte sich nicht den Halt zu verlieren. Erschwerend kam hinzu, dass er kaum etwas sehen konnte und nach Luft ringen musste, da er jetzt schon direkt im Wasserfall hing.
„Tu was, ich kann dich nicht mehr halten!“, brüllte Hadley.
Flad mobilisierte noch einmal alle Reserven in sich. Er begann sich Stück für Stück an dem Ast emporzuziehen. Es dauerte einige geschlagene Augenblicke, bis er keuchend Hadleys Arm packen konnte, der daraufhin den jetzt nutzlosen Ast fallen ließ.
„Mir fehlt die Kraft dir weiter zu helfen.“, ächzte der, bemüht seinen Kopf aus den Fluten heraus zu halten, um überhaupt atmen zu können. “Versuch einfach nach oben zu kommen!“
Flad wusste, dass keine Zeit zum reden war und zog sich einfach weiter an Hadley, seiner Kleidung, seinem Gürtel empor. Er war sich der Tatsache natürlich bewusst, dass er ihn damit nur noch mehr malträtierte, aber im Moment galt es nur ihrer aller Leben zu retten. Die pure Angst verlieh ihm ungeahnte Energie, so dass er bald auch Padley und damit die rettende Bruchkante erreicht hatte. Mit vereinten Kräften gelang es den beiden dann auch noch Hadley zu bergen, der kaum noch in der Lage war, dazu selbst etwas beizutragen.
Später konnte keiner von Ihnen mehr sagen, wie sie es geschafft hatten das andere Ufer zu erreichen. Völlig entkräftet, durchnässt und unterkühlt blieben sie dort am Boden einige Zeit liegen, bis sie den Elan wiederfanden sich ein wenig aufzurappeln.
Flad und Hadley mussten zuerst einmal Padley erste Hilfe leisten, der sich bei der Rettungsaktion die linke Schulter ausgekugelt hatte. Während Hadley den Ärmsten festhielt, beförderte Flad mit einem kräftigen Ruck am Arm in seine richtige Position zurück. Padley stöhnte laut auf, sank mit schmerzverzerrtem Gesicht zurück und blieb auf dem Rücken liegen.
Flad und Hadley bemühten sich zwischenzeitlich ein notdürftiges Lager zu errichten und vor allem ein Feuer in Gang zu bringen. Als es brannte, halfen sie Padley sich seiner nassen Kleidung zu entledigen, bevor sie sich selbst auszogen und dicht ans Feuer kauerten. Sie hockten dicht beieinander und hatten sich Padleys Decke um die Schultern geschlungen, die als einzige halbwegs trocken geblieben war. Einmal ganz davon abgesehen, dass ja Flads, zusammen mit seinem gesamten Rucksack, komplett abgeschrieben werden musste.