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EINE WINTERREISE ANNO 1952 MIT DEM ÖBB-ÜBERRASCHUNGSZUG

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»Kömmt mir der Tag in die Gedanken, Möcht ich noch einmal rückwärts sehen.«

Wilhelm Müller, »Rückblick«, aus der »Winterreise«

Sommerzeit ist für mich Festspielzeit und ich freue mich nach wie vor auf Theateraufführungen, die allein schon wegen der Orte, an denen sie aufgeführt werden, etwas Besonderes sind. Eine Opernaufführung im Steinbruch von St. Margarethen oder Operetten- und Musicalproduktionen auf der Mörbischer Seebühne suchen auf der Welt ihresgleichen. Auch die Festspiele Reichenau gehören jährlich zu meinem Sommerprogramm. Die unmodischen (nicht zu verwechseln mit altmodischen) Inszenierungen in wunderbarer Besetzung entschädigen mich immer wieder für die eine oder andere Justament-Heimsuchung in Wien.

Mit Reichenau verbinde ich nicht nur eine vom Fin de Siècle geprägte Nostalgie, sondern auch sehr persönliche Lebenserinnerungen. Wie oft bin ich in dieser Voralpenlandschaft als Kind, als Jugendliche und als junge Frau gewesen. Reichenau ist für mich ein Reich voller Jugenderinnerungen.

An eine Begebenheit aus jener fernen Zeit denke ich besonders gerne zurück: Es war im Februar des Jahres 1952. Damals hatten wir wieder einmal Lust auf ein Luftschnapp-Weekend. Wie sich die Zeiten ändern! Da man dies laut Werbeprospekt der ÖBB preiswert nach nur eineinhalbstündiger Bahnfahrt von Wien aus genießen konnte, beschlossen wir in den Schnee nach Reichenau zu fahren.

15 Minuten vor Abfahrt des Eilzuges, der fahrplanmäßig um 12.10 Uhr den einstigen Südbahnhof hätte verlassen sollen, saßen wir gut gelaunt in der günstigen dritten Weekend-Klasse. Aber die Laune schwand aus unserem Coupé proportional mit jedem schwindenden Wärmegrad infolge des Zugstillstands wegen einer Verspätung. Denn es wurde 12.25, 12.30, 12.50 Uhr, ohne uns in Richtung Reichenau zu bewegen, und nolens volens fielen uns Luthers berühmte Worte am Reichstag zu Worms ein: »Hier stehe ich, ich kann nicht anders.«

Da man aber auch mit den frommsten Sprüchen keinen Zug unserer Bundesbahn bewegen kann, entschloss ich mich − im Gesicht bereits blau wie eine unreife Zwetschke −, nach dem Rechten zu sehen.

Da entdeckte ich zwei Bahnbedienstete bei geheimnisvollen Arbeiten zwischen zwei Waggons, wobei ihnen fünf weitere in Gedanken versunken zusahen. »Was los ist, wollen Sie wissen? Ja, das weiß ich auch nicht! Aber wir fahr’n ja eh gleich«, orakelte der Schaffner und fügte begütigend hinzu: »Ah, kalt is Ihnen im Waggon? Wenn wir fahr’n, wird Ihnen schon wärmer werden.«

Und siehe da, der erste Teil der Prophezeiung erfüllte sich! Um 13 Uhr fing unser Zug zu rollen an. Es hat sich bei unserem Waggon anscheinend um ein altes Modell gehandelt, bei dem es entgegen dem physikalischen Gesetz, dass Reibung Wärme erzeugt, immer kälter wurde. Die große Kälte hatte bald zur Folge, dass ich das kleinste einsitzige Abteil unseres Waggons aufsuchen musste, und wenn er sie nicht schon zuvor geschrieben hätte, hätte Schiller spätestens beim Anblick, der sich mir jetzt bot, die Worte verfasst: »Der Mensch versuche die Götter nicht und begehre nie und nimmer zu schauen.« Musikalisch untermalt vom rhythmischen Geklapper der Zähne erreichten wir schließlich Payerbach-Reichenau.

Gewieft durch unser kaltes Hinfahrterlebnis im Eilzug, beschlossen wir, unsere Rückfahrt mit dem gewiss wärmeren und teureren Rom-Express anzutreten. So warteten wir eigens bis 20 Uhr auf den internationalen Zug, doch er kam nicht. Stattdessen erschien ein Bahnbediensteter, der vor sich hin murmelte: »Ich bitt’ Sie, bei dem Schnee!« Der Zug hatte hundert Minuten Verspätung, was, wie wir aus Langeweile errechneten, zehn Minuten Verspätung für jeden gefallenen Zentimeter Schnee bedeutete.


Schloss Wartholz, die ehemalige Kaiservilla in Reichenau an der Rax

Als der »Express« um 22 Uhr endlich andampfte, erkannten wir Einfältigen nicht, weshalb er vorn zum Bersten voll und hinten zum Gähnen leer war. Wir priesen uns einfach glücklich, in einem nigelnagelneuen Waggon zwei herrlich bequeme Plätze ergattert zu haben. Wir freuten uns, wie schnell wir mit diesem luxuriösen Zug in Wien sein würden. Aber auch hier wurde es kühler, kälter, eiskalt bis schließlich Werchojansk und Novosibirsk grüßen ließen. Aber nur kein Jammern, sagten wir uns, wir sind ja gleich in Wien.

Kurz vor Gumpoldskirchen quietschte es plötzlich fürchterlich, es gab einen Ruck und wir standen in tiefer Stille. Ich öffnete die Coupétür mit eisigen Fingern, ging nach vorne und sah den Grund unseres Nichtweiterkommens: Unsere Waggons hatten sich vom Vorderzug getrennt und standen allein und verlassen auf weiter Flur. Zum Glück war auch der Speisewagen mit uns abgerissen.

So konnten wir in unserem Schmerz zumindest eine Flasche Wein bestellen. Schließlich waren wir in Gumpoldskirchen!

Als dann nach eineinhalb Stunden die Zugleitung auf die Idee kam, den Fahrgästen aus dem abgerissenen Hinterteil ein fahrbereites Vorderteil zu schicken, wurde uns auf dieser Winterreise zum ersten Mal warm. Denn, was glauben Sie, was in einem tadellos geheizten Waggon für Temperaturen entstehen, wenn doppelt so viele Passagiere drinnen sitzen als behördlich vorgesehen?

Schade, dass wir um halb zwei Uhr nachts vom Südbahnhof durch Wind und Wetter zu Fuß heimwärts wandern mussten, weil die letzte Tramway schon abgefahren war. Es wäre ansonsten, wie im Werbeprospekt versprochen, ein wirklich prächtiger Ausflug »durch den österreichischen Winter« gewesen.

Alter ist nichts für Phantasielose

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