Читать книгу Wenn die Blätter sich rot färben - Louise Penny - Страница 3

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»Alle? Auch die Kinder?« Das Feuer im Kamin knackte und knisterte und verschluckte sein Seufzen. »Erschlagen?«

»Schlimmer.«

Darauf wurde es still. Und dieser Stille wohnten all die Dinge inne, die vielleicht schlimmer waren, als jemanden zu erschlagen.

»Sind sie schon da?« Es lief ihm kalt über den Rücken, wenn er sich vorstellte, dass etwas Schreckliches durch den Wald kroch. Auf sie zu. Er blickte um sich, rechnete beinahe damit, dass ihn durch die dunklen Fenster rote Augen anstarrten. Oder aus den Ecken oder unterm Bett hervor.

»Sie sind überall. Hast du das Licht am Nachthimmel gesehen?«

»Das habe ich für Nordlichter gehalten.« Die rosa, grünen und weißen Erscheinungen, die über den sternenübersäten Himmel glitten. Wie etwas Lebendiges, das leuchtete und immer größer wurde. Und näher kam.

Olivier Brulé senkte den Blick, er brachte es nicht fertig, seinem Gegenüber noch länger in die besorgten, irren Augen zu sehen. Er hatte schon so lange mit dieser Geschichte gelebt und sich immer wieder gesagt, dass sie nicht wahr war. Bloß ein Mythos, eine Geschichte, die erzählt und wieder erzählt und jedes Mal noch ein bisschen mehr ausgeschmückt wurde. An Feuerstellen wie der, an der sie gerade saßen.

Es war eine Geschichte, mehr nicht. Sie tat ihm nichts.

Doch in dieser einfachen Blockhütte, tief in der kanadischen Wildnis, schien sie mehr als das zu sein. Selbst Olivier merkte, dass er sie glaubte. Vielleicht weil es der Eremit tat.

Der alte Mann saß in seinem Lehnstuhl auf der einen Seite des gemauerten Kamins und Olivier auf der anderen. Olivier blickte in ein Feuer, das seit mehr als zehn Jahren brannte. Eine uralte Flamme, die nicht verlöschen durfte, flüsterte und flackerte auf dem Rost, tauchte den Raum in weiches Licht. Mit dem eisernen Schürhaken gab er den glimmenden Holzscheiten einen Stoß, und die Funken wirbelten hinauf in den Schornstein. Kerzenlicht brach sich an Gegenständen, die in der Dunkelheit schimmerten wie die Augen von Tieren, die von der Flamme entdeckt worden waren.

»Es dauert nicht mehr lange.«

Die Augen des Eremiten glühten wie Metall kurz vor dem Schmelzpunkt. Er beugte sich vor, wie so oft, wenn sie beim Erzählen der Geschichte zusammensaßen.

Olivier sah sich in dem Raum um. Die Dunkelheit wurde von flackernden Kerzen durchbrochen, die bizarre Schatten warfen. Es schien, als wäre die Nacht durch die Spalten zwischen den Holzstämmen gekrochen und hätte sich in der Hütte ausgebreitet, kauerte in Ecken und unter dem Bett. Viele Ureinwohner glaubten, dass das Böse in Ecken lebte, weshalb ihre traditionellen Behausungen rund waren. Im Gegensatz zu den eckigen Häusern, die sie von der Regierung bekommen hatten.

Olivier glaubte nicht, dass das Böse in Ecken lebte. Eigentlich. Jedenfalls nicht bei Tag. Allerdings glaubte er, dass es Dinge gab, die in den finsteren Ecken dieser Hütte lauerten und um die nur der Eremit wusste. Dinge, die Oliviers Herz schneller schlagen ließen.

»Wie geht es weiter?« Er bemühte sich, seine Stimme ruhig klingen zu lassen.

Es war spät, und Olivier hatte noch den zwanzigminütigen Fußmarsch durch den Wald nach Three Pines vor sich. Alle zwei Wochen legte er ihn zurück, und er kannte den Weg in- und auswendig, selbst im Dunkeln.

Ausschließlich im Dunkeln. Die Beziehung zwischen ihnen existierte nur nach Einbruch der Nacht.

Sie tranken Orange Pekoe. Etwas Besonderes, das dem Ehrengast des Eremiten vorbehalten war, wie Olivier wusste. Seinem einzigen Gast.

Doch jetzt war es Zeit für die Geschichte. Sie beugten sich näher zum Feuer. Es war Anfang September, und zusammen mit der Nacht hatte sich ein kalter Hauch in der Hütte ausgebreitet.

»Wo war ich? Ach ja, jetzt weiß ich wieder.«

Olivier schloss die Hände noch etwas fester um den warmen Becher.

»Die furchtbare Macht hat alles vernichtet, was ihr im Weg stand. Die Alte Welt und die Neue. Alles weg. Außer …«

»Außer?«

»Ein winziges Dorf ist übrig geblieben. Versteckt in einem Tal, sodass die finstere Armee es bisher nicht entdeckt hat. Aber das wird sie. Und dann wird ihr mächtiger Anführer an der Spitze seiner Armee stehen. Er ist riesig, größer als jeder Baum, und er trägt eine Rüstung aus Felsen und scharfkantigen Muscheln und Knochen.«

»Chaos.«

Das geflüsterte Wort verschwand in der Dunkelheit, wo es sich in eine Ecke kauerte. Und wartete.

»Chaos. Und die Furien. Krankheit, Hunger, Verzweiflung. Sie schwärmen aus. Auf der Suche. Und sie werden keine Ruhe geben. Niemals. Nicht bevor sie es finden.«

»Das, was gestohlen wurde.«

Mit grimmiger Miene nickte der Eremit. Er schien das Gemetzel vor sich zu sehen, die Zerstörung. Die Männer und Frauen, die Kinder, die vor der erbarmungslosen, seelenlosen Macht flohen.

»Aber was genau war es? Was konnte so wichtig sein, dass sie alles vernichten mussten, um es zurückzubekommen?«

Olivier zwang sich dazu, die Augen nicht abzuwenden und in das zerfurchte Gesicht zu blicken statt in die Dunkelheit. In die Ecke zu dem Ding, von dem sie beide wussten, dass es dort in seinem schäbigen kleinen Leinensack lag.

Der Eremit schien jedoch seine Gedanken lesen zu können, und Olivier sah, wie auf dem Gesicht des Alten ein verschlagenes Grinsen erschien. Im nächsten Moment war es wieder verschwunden.

»Nicht die Armee will es zurückhaben.«

Jetzt sahen sie beide hinter der furchtbaren Armee das Ding lauern. Dieses Ding, das selbst vom Chaos gefürchtet wurde. Das Verzweiflung, Krankheit, Hunger vor sich hertrieb. Mit einem einzigen Ziel. Das zu finden, was ihrem Meister entwendet worden war.

»Es ist schlimmer als Morden.«

Ihre Stimmen waren leise, kaum hörbar. Wie die von Verschwörern, deren Sache bereits verloren war.

»Wenn die Armee endlich findet, was sie sucht, wird sie stehen bleiben. Und zur Seite treten. Und dann kommt das Schlimmste, was man sich nur vorstellen kann.«

Darauf folgte wieder Stille. Und in dieser Stille verbarg sich das Schlimmste, was man sich nur vorstellen konnte.

Im Wald draußen begann ein Rudel Kojoten zu heulen. Sie hatten irgendein Tier in die Enge getrieben.

Ein Mythos, weiter nichts, beruhigte Olivier sich. Nur eine Geschichte. Erneut blickte er auf die glimmenden Scheite, um das Entsetzen im Gesicht des Eremiten nicht sehen zu müssen. Dann schaute er auf seine Uhr, drehte das Zifferblatt in Richtung der Feuerstelle, bis es orange leuchtete und ihm die Zeit sagte. Halb drei morgens.

»Das Chaos nähert sich, Old Son, und es lässt sich nicht aufhalten. Es hat lange gedauert, aber jetzt ist es da.«

Der Eremit nickte, seine Augen tränten, vielleicht vom Rauch des Feuers, vielleicht von etwas anderem. Olivier lehnte sich zurück, stellte überrascht fest, dass ihn plötzlich jeder einzelne Muskel schmerzte, und ihm wurde klar, dass er während dieser ganzen fürchterlichen Geschichte völlig angespannt dagesessen hatte.

»Tut mir leid. Es ist schon spät, und Gabri macht sich bestimmt Sorgen. Ich muss gehen.«

»Schon?«

Olivier stand auf, pumpte frisches kaltes Wasser in das Emaillebecken und spülte seinen Becher aus. Dann drehte er sich um.

»Ich komme bald wieder.« Er lächelte.

»Warte, ich will dir etwas geben«, sagte der Eremit und sah sich in der Blockhütte um. Oliviers Blick schoss in die Ecke, wo der kleine Leinensack lag. Ungeöffnet. Mit einem Stück Schnur zugebunden.

Der Eremit lachte leise. »Eines Tages vielleicht, Olivier. Aber nicht heute.«

Er ging zu dem von Hand gehauenen Kaminsims, nahm einen winzigen Gegenstand und hielt ihn seinem gut aussehenden blonden Besucher entgegen.

»Für die Einkäufe.« Er deutete auf Käse, Milch, Tee, Kaffee, Brot und die Konservenbüchsen auf der Arbeitsplatte.

»Nein, dafür nehme ich nichts. Es ist mir eine Freude«, sagte Olivier, aber beide kannten das Spiel und wussten, dass er das kleine Geschenk annehmen würde. »Merci«, sagte Olivier an der Tür.

Im Wald fand eine wilde Jagd statt, als ein dem Tod geweihtes Geschöpf davonhetzte, um seinem Schicksal zu entfliehen, und Kojoten hinterherhetzten, um es zu besiegeln.

»Sei vorsichtig«, sagte der alte Mann und ließ seinen Blick über den Nachthimmel wandern. Und dann, bevor er die Tür schloss, flüsterte er ein einzelnes Wort, das rasch vom Wald verschluckt wurde. Olivier fragte sich, ob der Eremit sich bekreuzigte und ein Gebet sprach, sich gegen die Tür lehnte, die massiv war, aber vielleicht nicht massiv genug.

Und er fragte sich, ob der alte Mann die Geschichten von der großen, grimmigen Armee glaubte, mit der Chaos herannahte und die Furien anführte. Erbarmungslos, unaufhaltsam. Nah.

Und hinter ihr kam noch etwas anderes. Etwas Unaussprechliches.

Und er fragte sich, ob der Eremit an die Gebete glaubte.

Olivier knipste seine Taschenlampe an und suchte mit dem Lichtstrahl die Dunkelheit ab. Er war von grauen Baumstämmen umgeben. Er leuchtete hierhin und dorthin, suchte nach dem schmalen Pfad durch den spätsommerlichen Wald. Sobald er ihn gefunden hatte, beschleunigte er seine Schritte. Und je schneller er lief, desto mehr fürchtete er sich, und je mehr er sich fürchtete, desto schneller lief er, bis er ins Stolpern geriet, von finsteren Worten durch den finsteren Wald gejagt.

Endlich brach er zwischen den Bäumen hervor und blieb schwankend stehen, die Hände auf die Knie gestützt, nach Atem ringend. Dann richtete er sich langsam auf und blickte hinunter auf das Dorf im Tal.

Three Pines schlief, wie es das immer zu tun schien. Mit sich und der Welt im Reinen. Sich dessen, was um es herum geschah, nicht bewusst. Oder vielleicht nahm es auch alles wahr, zog aber seinen Frieden vor. Hinter einigen Fenstern brannte sanftes Licht. In bescheidenen alten Häusern waren die Vorhänge zugezogen. Der süße Geruch der ersten Herbstfeuer wehte ihm entgegen.

Und mitten in dem kleinen Quebecer Dorf standen drei riesige Kiefern, wie Wächter.

Olivier war in Sicherheit. Er griff in seine Tasche.

Das Geschenk. Die winzige Bezahlung. Er hatte sie liegen lassen.

Fluchend drehte Olivier sich um und blickte auf den Wald, der sich hinter ihm wieder geschlossen hatte. Erneut dachte er an den kleinen Leinensack in der Ecke der Blockhütte. An dieses Ding, mit dem ihn der Eremit gelockt hatte, das er ihm versprochen, vor die Nase gehalten hatte. Das Ding, das ein Mann versteckte, der sich selbst versteckte.

Olivier war müde und missmutig, und er ärgerte sich über sich selbst, weil er das kleine Geschenk vergessen hatte. Und er ärgerte sich über den Eremiten, weil er ihm dieses andere nicht gegeben hatte. Das Ding, das er sich mittlerweile verdient hatte.

Nach kurzem Zögern machte er kehrt und tauchte erneut in den Wald ein, tastete sich vorwärts, während sein Ärger immer größer wurde. Und während er weiterging und schließlich rannte, folgte ihm eine Stimme, drang von hinten auf ihn ein, trieb ihn vorwärts.

»Das Chaos ist hier, Old Son.«

Wenn die Blätter sich rot färben

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