Читать книгу Wenn die Blätter sich rot färben - Louise Penny - Страница 6

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»Du hast ihn nicht gekannt?«, fragte Clara, während sie einen Laib frisch gebackenes Brot aus Sarahs Bäckerei aufschnitt.

Mit »ihn« konnte Myrnas Freundin nur einen meinen. Myrna schüttelte den Kopf und schnitt für den Salat Tomaten in Scheiben, dann nahm sie sich die Schalotten vor, alles frisch geerntet aus Claras und Peters Gemüsegarten.

»Und Olivier und Gabri haben ihn auch nicht gekannt?«, fragte Peter. Er zerlegte ein gegrilltes Hühnchen.

»Seltsam, oder?« Myrna hielt inne und sah ihre Freunde an. Peter, groß, elegant und ordentlich. Und neben ihm seine Frau Clara. Klein, rundlich, nach allen Seiten abstehende Haare, in denen Brotkrümel hingen wie Flitter. Blaue Augen, aus denen normalerweise der Schalk blitzte. Heute nicht.

Verwundert schüttelte Clara den Kopf. Ein paar Krümel rieselten auf die Arbeitsplatte. Sie klaubte sie geistesabwesend auf und steckte sie in den Mund. Myrna war sich sicher, dass sie alle dasselbe dachten, nachdem der erste Schock nachgelassen hatte.

Es war Mord. Bei dem Toten handelte es sich um einen Fremden. Aber auch bei dem Mörder?

Und vermutlich gelangten sie alle zu derselben Schlussfolgerung: Unwahrscheinlich.

Sie hatte versucht, den Gedanken beiseitezuschieben, aber er schlich sich immer wieder in ihren Kopf. Sie nahm sich eine Scheibe Baguette und kaute darauf herum. Das Brot war noch ofenwarm und duftete, innen weich und außen knusprig.

»Es ist nicht zu fassen«, sagte Clara und drehte sich mit dem Messer in der Hand um, sodass es auf die angebissene Brotscheibe in Myrnas Hand zeigte.

»Willst du was?« Myrna hielt ihr ein Stück entgegen.

Die beiden Frauen standen an der Arbeitsplatte und aßen Brot. Normalerweise trafen sie sich Sonntagmittag zum Essen im Bistro, aber daraus wurde heute wohl nichts, wegen der Leiche und allem anderen. Deshalb waren Clara, Peter und Myrna ein Haus weiter in Myrnas Loft gegangen. Die Tür zum darunter liegenden Buchladen war mit einer Alarmanlage versehen, für den Fall, dass jemand hereinkam. Genau genommen war es keine Alarmanlage, sondern ein Glöckchen, das bimmelte, wenn die Tür geöffnet wurde. Manchmal ging Myrna dann nach unten, manchmal nicht. Fast alle ihre Kunden stammten aus der Gegend, und sie wussten, wie viel sie neben der Kasse liegen lassen mussten. Außerdem, dachte Myrna, wenn jemand so dringend ein Buch brauchte, dass er glaubte, es stehlen zu müssen, dann sollte er es ruhig haben.

Myrna fröstelte es. Sie sah sich um, ob irgendwo ein Fenster offen stand, durch das nasskalte Luft hereinkam. Ihr Blick wanderte über die unverputzten Ziegelwände, die massiven Balken und die hohen Industriefenster. Sie ging hinüber, um nachzusehen, aber alle Fenster waren geschlossen, bis auf eines, das einen Spalt geöffnet war, um ein bisschen frische Luft hereinzulassen.

Beim Zurückgehen blieb sie neben dem bauchigen schwarzen Holzofen in der Mitte des großen Zimmers stehen. Das Feuer knisterte vor sich hin. Sie hob die runde Klappe und legte ein Holzscheit nach.

»Das muss furchtbar für dich gewesen sein«, sagte Clara und trat zu Myrna.

»Ja. Der arme Mann, er lag einfach da. Zuerst habe ich die Wunde an seinem Kopf gar nicht gesehen.«

Clara setzte sich mit Myrna auf das Sofa, das gegenüber dem Holzofen stand. Peter brachte ihnen zwei Scotch und zog sich dann leise wieder in die Küche zurück. Von dort konnte er sie sehen, konnte ihre Unterhaltung hören, ohne im Weg zu sein.

Er sah, wie die beiden Frauen dicht aneinanderrückten, an ihren Gläsern nippten und leise miteinander redeten. Vertraut. Er beneidete sie darum. Peter wandte sich ab und rührte die Cheddar-Apfel-Suppe um.

»Was sagt denn Gamache dazu?«, fragte Clara.

»Er scheint genauso ratlos zu sein wie wir alle. Mal im Ernst«, Myrna sah Clara an, »warum war ein fremder Mann im Bistro? Tot?«

»Ermordet«, sagte Clara, und die beiden Frauen dachten einen Moment darüber nach.

»Hat Olivier irgendwas gesagt?«, fragte Clara schließlich.

»Nein. Er schien ziemlich neben sich zu stehen.«

Clara nickte. Das Gefühl kannte sie.

Die Polizei war überall. Bald wäre sie in ihren Häusern, ihren Küchen und Schlafzimmern. In ihren Köpfen.

»Ich will lieber gar nicht wissen, was Gamache von uns denkt«, sagte Myrna. »Jedes Mal wenn er hierherkommt, gibt’s eine Leiche.«

»Jedes Dorf in Québec hat seine Berufung«, sagte Clara. »Manche machen Käse, manche Wein, manche Töpfe. Wir produzieren Leichen.«

»Mönche in Klöstern haben eine Berufung, nicht Dörfer«, sagte Peter lachend. Er stellte Schalen mit der köstlich riechenden Suppe auf Myrnas langen Esstisch. »Und wir produzieren keine Leichen.«

Aber sicher war er sich da nicht.

»Gamache ist der Leiter der Mordkommission der Sûreté du Québec«, sagte Myrna. »Der stolpert doch auf Schritt und Tritt über Leichen. Wahrscheinlich wäre er ziemlich überrascht, wenn es keine mehr gäbe.«

Myrna und Clara setzten sich zu Peter an den Tisch, und während die Frauen sich weiter unterhielten, dachte Peter über den Mann nach, der die Ermittlungen leitete. Peter wusste, dass er gefährlich war. Gefährlich für denjenigen, der den Mann nebenan umgebracht hatte. Er fragte sich, ob der Mörder wusste, wer da hinter ihm her war. Aber er befürchtete, dass es der Mörder nur allzu gut wusste.

Inspector Jean-Guy Beauvoir sah sich in der neuen Einsatzzentrale um und holte tief Luft. Mit einem gewissen Erstaunen stellte er fest, wie vertraut und geradezu aufregend der Geruch war.

Es roch aufregend nach Jagd. Es roch nach langen Arbeitsstunden über heiß gelaufenen Computern, um ein Puzzle zusammenzusetzen. Es roch nach Teamarbeit.

Aber eigentlich roch es nach Diesel und Rauch, nach Politur und Beton. Er befand sich wieder einmal im alten Bahnhof von Three Pines, den die Canadian National Railway vor Jahrzehnten stillgelegt und dem Verfall preisgegeben hatte. Dann hatte sich klammheimlich die freiwillige Feuerwehr von Three Pines dort eingenistet, in der Hoffnung, dass es niemand merken würde. Die Rechnung war aufgegangen, weil die Eisenbahngesellschaft das Dorf längst vergessen hatte. Deshalb beherbergte der kleine Bahnhof jetzt das Löschfahrzeug, die sperrigen Schutzanzüge und die restliche Ausrüstung. An den Wänden befand sich immer noch die dunkle Holzvertäfelung, und darüber hingen Plakate, die für Ausflüge in die Rockies warben und über Lebensrettungsmaßnahmen informierten. Sicherheitshinweise zur Brandverhütung, Bereitschaftspläne und alte Fahrpläne machten sich gegenseitig den Platz streitig, nicht zu vergessen das riesige Poster, auf dem die bisherigen Gewinner des Literaturpreises des Generalgouverneurs zu sehen waren. Bis in alle Ewigkeit starrte von einem der Fotos eine Verrückte mit irrem Blick auf sie herab.

Mit demselben irren Blick starrte sie ihn auch höchstpersönlich an.

»Was zum Teufel machen Sie hier?« Neben der Frau stand eine Ente und starrte ihn ebenfalls an.

Ruth Zardo. Wahrscheinlich die berühmteste und angesehenste Dichterin des Landes. Und ihre Ente Rosa. Er wusste, dass Chief Inspector Gamache eine begnadete Dichterin sah, wenn er sie anschaute. Beauvoir dagegen sah nur schwere Verdauungsstörungen.

»Es wurde jemand ermordet«, sagte er und hoffte, dass seine Stimme würdevoll und souverän klang.

»Ich weiß, dass jemand ermordet wurde. Ich bin ja nicht blöd.«

Die Ente neben ihr schüttelte den Kopf und schlug mit den Flügeln. Beauvoir hatte sich mittlerweile daran gewöhnt, sie mit dem Vogel im Schlepptau zu sehen. Genau genommen war er froh, dass Rosa noch lebte, was er aber niemals zugegeben hätte. Er hatte den Verdacht, dass in Gegenwart der verrückten alten Hexe kaum etwas längere Zeit überlebte.

»Wir brauchen diesen Raum wieder«, sagte er und drehte sich um.

Trotz ihres hohen Alters, ihrer Gehbehinderung und ihrer Bösartigkeit war Ruth Zardo zur Leiterin der freiwilligen Feuerwehr gewählt worden. Wahrscheinlich in der Hoffnung, dachte Beauvoir, dass sie eines Tages in den Flammen umkommen würde. Allerdings glaubte er nicht, dass sie brennen würde.

»Nein.« Sie knallte ihren Stock auf den Betonboden. Im Gegensatz zu Beauvoir zuckte Rosa nicht zusammen. »Das geht nicht.«

»Tut mir leid, Madame Zardo, aber wir brauchen den Raum, und wir werden ihn auch benutzen.«

Inzwischen klang seine Stimme nicht mehr ganz so würdevoll. Die drei starrten einander an, nur Rosa blinzelte. Beauvoir wusste, dass die verrückte Alte ihn bezwingen würde, sobald sie anfing, ihre grässlichen, völlig unverständlichen Gedichte zu rezitieren. Nichts reimte sich. Nichts ergab auch nur den geringsten Sinn. Er würde sofort die Waffen strecken. Gleichzeitig wusste er, dass sie von allen Dorfbewohnern die Letzte war, die ihre Gedichte rezitieren würde. Es schien ihr peinlich zu sein, was sie hervorbrachte, sie schien sich geradezu dafür zu schämen.

»Was macht die Dichtkunst?«, fragte er und sah sie leicht zusammenzucken. Ihre dünnen weißen Haare waren kurz geschoren und klebten an ihrem Kopf, sodass ihr bleicher Schädel bloßzuliegen schien. Ihr Hals war dürr und sehnig, und ihr Körper, der früher vermutlich groß und kräftig gewesen war, war jetzt zart und gebrechlich. Das war aber auch schon das einzig Zarte an ihr.

»Irgendwo hab ich gelesen, dass bald ein neuer Band von Ihnen erscheint.«

Ruth Zardo wich ein paar Zentimeter zurück.

»Der Chief Inspector ist auch hier, wie Sie wahrscheinlich wissen.« Jetzt klang seine Stimme wieder freundlich, vernünftig, einfühlsam. Die alte Frau sah ihn an, als hätte sie den Leibhaftigen vor sich. »Er freut sich schon sehr darauf, sich mit Ihnen darüber zu unterhalten. Jeden Augenblick müsste er hier sein. Er kann alle Ihre Gedichte auswendig.«

Ruth Zardo drehte sich um und ging.

Er hatte es geschafft. Er hatte sie verscheucht. Die Hexe war tot, zumindest weg.

Er machte sich daran, den Besprechungsraum einzurichten. Er forderte Schreibtische und eine Telefonanlage an, Computer und Drucker, Scanner und Faxgeräte. Große Papierbogen und Marker. Einen Papierbogen würde er direkt über dieses Plakat mit der finster dreinblickenden alten Irren hängen. Und über ihrem Gesicht würde er sich Notizen zu einem Mord machen.

Im Bistro war es ruhig.

Die Kriminaltechniker waren wieder gefahren. Agent Lacoste kniete an der Stelle, an der die Leiche gelegen hatte. Gründlich, wie sie war, wollte sie sicherstellen, dass sie nicht die kleinste Spur übersahen. Chief Inspector Gamache hatte den Eindruck, als hätten Olivier und Gabri sich nicht vom Fleck gerührt: Noch immer saßen sie auf dem verblichenen alten Sofa vor dem großen Kamin, jeder in seiner eigenen Welt, ins Feuer blickend, wie gebannt von den Flammen. Er fragte sich, was ihnen durch den Kopf ging.

»Worüber denken Sie nach?« Gamache ließ sich in dem Ohrensessel neben ihnen nieder.

»Ich habe über den Toten nachgedacht«, sagte Olivier. »Ich frage mich, wer er war. Ich frage mich, was er hier gemacht hat, wo seine Familie ist. Ich frage mich, ob ihn jemand vermisst.«

»Ich habe über das Mittagessen nachgedacht«, sagte Gabri. »Hat noch jemand Hunger?«

Auf der anderen Seite des Raums hob Agent Lacoste den Kopf. »Ja, ich.«

»Ich auch, patron«, sagte Gamache.

Als sie Gabri in der Küche mit Töpfen und Pfannen klappern hörten, beugte Gamache sich vor. Es gab jetzt nur noch Olivier und ihn. Olivier schaute ihn ausdruckslos an. Doch diesen Blick sah der Chief Inspector nicht zum ersten Mal. Eigentlich war es beinahe unmöglich, ausdruckslos zu schauen, dachte er. Es sei denn, der Betreffende wollte es. Ein ausdrucksloses Gesicht bedeutete einen auf Hochtouren arbeitenden Geist.

Aus der Küche wehte der unverkennbare Geruch von Knoblauch zu ihnen herüber, und sie konnten Gabri singen hören. »What shall we do with the drunken sailor?«

»Gabri hält den Mann für einen Landstreicher. Und Sie?«

Olivier erinnerte sich an die Augen, glasig, ins Leere starrend. Und er erinnerte sich an seinen letzten Besuch in der Hütte.

Das Chaos nähert sich, Old Son. Es hat lange gedauert, aber jetzt ist es da.

»Was sollte er denn sonst gewesen sein?«

»Warum wurde er Ihrer Meinung nach in Ihrem Bistro umgebracht?«

»Ich weiß nicht.« Olivier schien in sich zusammenzusinken. »Ich habe mir das Hirn nach einer Antwort zermartert. Warum sollte jemand hier einen Mann umbringen? Es ist unbegreiflich.«

»Das stimmt nicht.«

»Wirklich?« Olivier beugte sich vor. »Inwiefern?«

»Das weiß ich noch nicht. Aber ich werde es herausfinden.«

Olivier sah den respekteinflößenden, ruhigen Mann an, der plötzlich den gesamten Raum auszufüllen schien, ohne die Stimme erhoben zu haben.

»Kannten Sie ihn?«

»Das haben Sie mich schon mal gefragt«, blaffte Olivier ihn an, dann riss er sich zusammen. »Tut mir leid, aber Sie haben es wirklich schon gefragt, und ich habe die Frage schon beantwortet. Also nein, ich habe ihn nicht gekannt.«

Gamache sah ihn nur schweigend an. Oliviers Gesicht hatte sich gerötet. Lag das an seinem Ärger, an der Hitze des Feuers oder weil er ihm eine Lüge auftischte?

»Jemand hat ihn gekannt«, sagte Gamache schließlich. Er lehnte sich zurück, um Olivier Raum zum Atmen zu geben, den Eindruck zu vermitteln, dass Druck von ihm genommen wurde.

»Aber ich nicht, und Gabri auch nicht.« Er zog die Augenbrauen zusammen, und Gamache stellte fest, dass Olivier tatsächlich aufgebracht war. »Was hat er hier gemacht?«

»Meinen Sie in Three Pines oder im Bistro?«

»Beides.«

Doch Gamache wusste, dass Olivier log. Es war offensichtlich, dass er das Bistro meinte. Bei einer Mordermittlung logen die Leute andauernd. Wenn das erste Opfer des Krieges die Wahrheit war, dann zählten die Lügen der Leute zu den ersten Opfern bei einer Mordermittlung. Die Lügen, die sie sich selbst erzählten, die Lügen, die sie den anderen erzählten. Die kleinen Lügen, die es ihnen erlaubten, an einem kalten, dunklen Morgen aus dem Bett zu steigen. Gamache und sein Team spürten den Lügen nach und deckten sie auf. Bis all die kleinen Geschichten, die man erzählte, um sich das Leben leichter zu machen, in sich zusammenfielen. Und die Leute nackt und bloß zurückblieben. Der Trick bestand darin, die wichtigen Lügengeschichten vom Rest zu unterscheiden. Diese hier erschien winzig. Was die Frage aufwarf, warum sie dann überhaupt vorgebracht wurde.

Gabri kam mit einem Tablett, auf dem vier dampfende Teller standen. Agent Lacoste kam zu ihnen herüber, und gleich darauf saßen sie alle um den Tisch am Kamin und aßen Fettuccine mit in Knoblauch und Olivenöl sautierten Shrimps und Jakobsmuscheln. Dazu gab es frisch gebackenes Brot und einen trockenen Weißwein.

Während des Essens sprachen sie über das lange Labour-Day-Wochenende und über Kastanien. Über den bevorstehenden Schulbeginn und kürzer werdende Tage.

Sie waren die Einzigen im Bistro. Aber dem Chief Inspector kam es voll vor. Von den Lügen, die man ihnen bereits erzählt hatte, und denen, die noch ersonnen wurden und darauf warteten, erzählt zu werden.

Wenn die Blätter sich rot färben

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