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Dr. Harris richtete sich auf, strich ihren Rock glatt und schenkte dem Chief Inspector ein schwaches Lächeln.

»Raffiniert ist was anderes«, sagte sie.

Gamache blickte auf den Toten hinunter.

»Er sieht wie ein Obdachloser aus«, sagte Beauvoir, beugte sich nach unten und untersuchte die Kleidung des Mannes. Die einzelnen Stücke passten nicht zusammen und waren abgetragen.

»Er hat wohl auf der Straße gelebt«, sagte Lacoste.

Gamache kniete sich hin und musterte das Gesicht des alten Mannes aus der Nähe. Es war wettergegerbt und voller Falten. Ein Gesicht wie ein Almanach, Zeugnis von Sonne und Wind und Kälte. Ein lebenserfahrenes Gesicht. Sanft strich Gamache mit dem Daumen über die Wange des toten Mannes und spürte Bartstoppeln. Er war glatt rasiert, aber wenn er einen Bart gehabt hätte, wäre er vermutlich weiß gewesen. Das Kopfhaar des Toten war weiß und unsauber geschnitten. Hier ein Schnipser, dort ein Schnipser.

Gamache nahm eine Hand des Toten, als wollte er ihn trösten. Er hielt sie einen Moment lang, dann drehte er sie um, sodass die Handfläche nach oben zeigte. Langsam rieb er darüber.

»Wer immer er auch war, er hat schwere Arbeit verrichtet. Er hat Schwielen. Die meisten Obdachlosen arbeiten nicht.«

Gamache schüttelte langsam den Kopf. Wer bist du? Und warum bist du hier? In diesem Bistro und in diesem Dorf. Ein Dorf, von dessen Existenz nur wenige Menschen auf Erden wussten. Und das noch weniger fanden.

Aber du schon, dachte Gamache, noch immer die kalte Hand des Mannes in seiner. Du hast das Dorf gefunden, und du hast den Tod gefunden.

»Er ist seit sechs bis zehn Stunden tot«, sagte die Rechtsmedizinerin. »Der Tod trat irgendwann nach Mitternacht, aber vor vier oder fünf heute Morgen ein.«

Gamache blickte auf den Hinterkopf des Mannes und auf die Verletzung, die ihn umgebracht hatte.

Es war eine fürchterliche Wunde, die nach einem einzigen Schlag mit einem sehr harten Gegenstand aussah. Ausgeführt von jemandem, der sehr wütend war. Eine solche Kraft ließ sich nur mit Wut erklären. Die Kraft, einen Schädel zu zerschmettern. Und das, was er schützte.

Alles, was diesen Mann zu dem machte, der er war, befand sich in seinem Kopf. Und den hatte ihm jemand eingeschlagen. Mit einem einzigen brutalen, entschlossenen Schlag.

»Nicht viel Blut.« Gamache erhob sich und sah zu, wie die Leute von der Spurensicherung sich in dem großen Raum verteilten und Beweisstücke zu sammeln begannen. Ein Raum, dessen Frieden gestört worden war. Erst durch einen Mord und jetzt durch sie. Die ungebetenen Gäste.

Olivier stand am Kamin und wärmte sich.

»Das ist seltsam«, sagte Dr. Harris. »Kopfwunden bluten sehr stark. Hier müsste mehr Blut sein, sehr viel mehr.«

»Vielleicht wurde es aufgewischt«, sagte Beauvoir.

Sharon Harris beugte sich erneut über die Wunde, dann richtete sie sich wieder auf. »Die Wucht des Schlags muss zu einer massiven inneren Blutung geführt haben. Der Tod ist praktisch auf der Stelle eingetreten.«

Das war die beste Nachricht, die Gamache an einem Tatort bekommen konnte. Mit dem Tod konnte er umgehen. Selbst mit Mord. Es war das Leiden, das ihm zu schaffen machte. Davon hatte er eine Menge gesehen. Grauenhafte Morde. Es war eine große Erleichterung, es hier mit einem zu tun zu haben, der rasch und entschlossen erfolgt war. Beinahe menschlich.

Einen Richter hatte er einmal sagen hören, die menschlichste Art, einen Gefangenen hinzurichten, sei es, ihm zu sagen, er sei frei. Und ihn dann zu töten.

Gamache hatte sich dagegen aufgelehnt, dagegen argumentiert, dagegen gewettert. Bis er schließlich aufgegeben und begonnen hatte, es zu glauben.

Wenn er in das Gesicht dieses Mannes blickte, wusste er, dass er nicht gelitten hatte. Der Schlag auf den Hinterkopf bedeutete, dass er ihn wahrscheinlich nicht einmal hatte kommen sehen.

Fast so, als würde man im Schlaf sterben.

Aber nur fast.

Sie legten ihn in einen Leichensack und brachten ihn weg. Die Männer und Frauen draußen vor dem Bistro traten bedrückt zur Seite, um sie durchzulassen. Männer nahmen ihre durchnässten Mützen ab, und Frauen sahen mit zusammengepressten Lippen traurig zu.

Gamache wandte sich vom Fenster ab und ging zu Beauvoir, der bei Olivier, Gabri und Myrna stand. Die Kriminaltechniker hatten sich in die hinteren Räume des Bistros begeben, das separate Speisezimmer, den Aufenthaltsraum des Personals, die Küche. Der Gastraum machte beinahe wieder einen normalen Eindruck. Abgesehen von den Fragen, die in der Luft hingen.

»Es tut mir sehr leid, dass das passiert ist«, sagte Gamache zu Olivier. »Wie geht es Ihnen?«

Olivier stieß die Luft aus. Er wirkte völlig erschöpft. »Ich kann es immer noch nicht glauben. Wer war er? Wissen Sie das schon?«

»Nein«, sagte Beauvoir. »Hat jemand einen Fremden in der Gegend gemeldet?«

»Gemeldet?«, fragte Olivier. »Wem denn?«

Drei Augenpaare sahen Beauvoir verwirrt an. Der Inspector hatte vergessen, dass es in Three Pines kein Polizeirevier gab, keine Ampeln, keine Bürgersteige, keinen Bürgermeister. Die freiwillige Feuerwehr stand unter dem Kommando dieser dementen alten Dichterin Ruth Zardo, und die meisten wären lieber verbrannt, als sie zu rufen.

Hier gab es nicht einmal Verbrechen. Außer Mord. Das einzige Verbrechen, das in diesem Ort begangen wurde, war das schlimmste.

Und jetzt hatten sie es ein weiteres Mal mit einer Leiche zu tun. Aber die anderen Toten hatten wenigstens einen Namen gehabt. Dieser Mann hier schien vom Himmel gefallen und auf dem Kopf gelandet zu sein.

»Im Sommer kann man das nicht so leicht sagen, wissen Sie«, sagte Myrna und ließ sich auf dem Sofa nieder. »Da haben wir mehr Besucher hier. Familien kommen her, um Urlaub zu machen, junge Leute kehren für die Ferien heim. Das ist das letzte lange Wochenende. Danach fahren alle wieder nach Hause.«

»Das Jahrmarktswochenende«, sagte Gabri. »Der Jahrmarkt von Brume County ist morgen zu Ende.«

»Schön«, sagte Beauvoir, der sich nicht im Geringsten für Jahrmärkte interessierte. »Nach diesem Wochenende wird es also wieder leer in Three Pines. Die Besucher, von denen Sie sprechen, sind demnach Freunde und Familienangehörige?«

»Größtenteils«, sagte Myrna und sah Gabri an. »Aber es kommen auch einige Fremde zu dir in die Pension, oder?«

Er nickte. »Ich platze aus allen Nähten, wenn’s bei den anderen eng wird.«

»Also gut, andersrum gefragt«, sagte Beauvoir entnervt, »die Leute, die zu Besuch nach Three Pines kommen, sind normalerweise keine Fremden, richtig?«

»Warum sagen Sie das nicht gleich, mit andersrum kennen wir uns aus«, sagte Gabri. Das zauberte sogar auf Oliviers erschöpftes Gesicht ein Lächeln. »Nein, normalerweise nicht.«

»Ich habe jemanden von einem Fremden reden hören«, sagte Myrna, »aber ich habe nicht weiter darauf geachtet.«

»Wer war das?«

»Roar Parra«, sagte sie widerstrebend. Es hatte ein bisschen was von Verpetzen, und das machte keiner gerne. »Ich habe gehört, wie er mit Old Mundin und dem Weib darüber redete, dass er jemanden im Wald gesehen hat.«

Beauvoir machte sich eine Notiz. Von den Parras hörte er nicht zum ersten Mal. Eine angesehene Familie aus der ehemaligen Tschechoslowakei. Aber Old Mundin und das Weib? Das war bestimmt ein Witz. Mit schmalen Lippen sah Beauvoir Myrna ernst an. Ebenso ernst erwiderte sie seinen Blick.

»Ja«, sagte Myrna, die seine Gedanken lesen konnte. Was nicht besonders schwer war. Ein Fünfjähriger hätte es gekonnt. »So heißen sie.«

»Old und das Weib?«, wiederholte er. Jetzt nicht mehr verärgert, sondern verblüfft. Myrna nickte. »Wie heißen sie richtig?«

»Genau so«, sagte Olivier. »Old und das Weib.«

»Na gut, Old lasse ich durchgehen. Das ist gerade noch vorstellbar, aber kein Mensch schaut ein Neugeborenes an und beschließt, es ›das Weib‹ zu nennen. Zumindest hoffe ich das.«

Myrna lächelte. »Da haben Sie recht. Ich bin es nur so gewohnt, dass ich nie darüber nachgedacht habe. Ich habe keine Ahnung, wie sie richtig heißt.«

Beauvoir fragte sich, wie verrückt eine Frau sein musste, um zuzulassen, dass man sie das Weib nannte. Das klang irgendwie biblisch, alttestamentarisch.

Gabri stellte ein paar Flaschen Bier, Cola und zwei Schüsseln mit Nüssen auf den Tisch. Die Versammlung vor dem Bistro hatte sich endlich aufgelöst. Draußen sah es regnerisch und trist aus, aber hier drinnen hatten sie es warm und gemütlich. Fast hätte man vergessen können, dass es sich nicht um ein geselliges Beisammensein handelte. Die Leute von der Spurensicherung schienen mit der Inneneinrichtung verschmolzen zu sein, man bekam nur dann etwas von ihnen mit, wenn ein leises Schaben oder Murmeln zu vernehmen war. Wie Nagetiere oder Gespenster. Oder eben Mordermittler.

»Erzählen Sie uns von gestern Abend«, sagte Chief Inspector Gamache.

»Hier war der Teufel los«, sagte Gabri. »Das letzte lange Wochenende in diesem Sommer, da hat jeder vorbeigeschaut. Die meisten waren tagsüber auf dem Jahrmarkt gewesen und waren zu müde zum Kochen. Das ist am Labour-Day-Wochenende immer so. Wir waren darauf vorbereitet.«

»Was heißt das?«, fragte Agent Lacoste, die zu ihnen gestoßen war.

»Ich habe das Personal aufgestockt«, sagte Olivier. »Aber alles lief reibungslos. Die Leute waren gut drauf, und wir haben pünktlich zugemacht. Ungefähr um eins.«

»Was ist dann passiert?«, fragte Lacoste.

Die meisten Mordermittlungen wirkten kompliziert, aber eigentlich war es ziemlich einfach. Es ging lediglich darum, immer wieder »Und was ist dann passiert?« zu fragen. Genau auf die Antworten zu achten, war auch hilfreich.

»Normalerweise mache ich die Abrechnung und überlasse es der Nachtschicht aufzuräumen, aber an den Samstagen läuft es etwas anders«, sagte Olivier. »Wenn die Gäste weg sind, bringt Old Mundin die Sachen vorbei, die er unter der Woche repariert hat, und nimmt dafür die Möbel mit, die in der Zwischenzeit kaputtgegangen sind. Das dauert nicht lange und ist erledigt, bis die Bedienungen und die Leute in der Küche aufgeräumt haben.«

»Moment mal«, sagte Beauvoir. »Mundin kommt am Samstag nach Mitternacht? Warum nicht am Sonntagvormittag oder zu irgendeiner anderen vernünftigen Zeit? Warum so spät in der Nacht?«

Für Beauvoir, der ein Gespür für Heimlichtuerei hatte, klang das verdächtig.

Olivier zuckte die Schultern. »Reine Gewohnheit, wahrscheinlich. Als er anfing, diese Arbeiten zu übernehmen, war er noch nicht mit dem Weib verheiratet und hing Samstagabend immer hier herum. Die kaputten Sachen hat er dann einfach mitgenommen, wenn wir geschlossen haben. Es gab keinen Grund, etwas daran zu ändern.«

Das hatte in einem Dorf, in dem sich fast nie etwas veränderte, eine gewisse Plausibilität.

»Mundin hat also die Möbel abgeholt. Was ist dann passiert?«, fragte Beauvoir.

»Ich bin gegangen.«

»Waren Sie der Letzte?«

Olivier zögerte. »Nicht ganz. Weil so viel los gewesen war, gab es noch ein bisschen aufzuräumen. Das sind ordentliche junge Leute, wissen Sie. Verantwortungsbewusst.«

Gamache hatte bis jetzt nur zugehört. Das hatte sich bewährt. Seine Mitarbeiter stellten die Fragen, und er konnte beobachten und zuhören, was gesagt wurde und wie es gesagt wurde und was nicht gesagt wurde. Und jetzt hörte er, wie sich ein rechtfertigender Ton in Oliviers ruhige und hilfsbereite Stimme schlich. Wollte er sein eigenes Verhalten rechtfertigen, oder wollte er seine Angestellten schützen, weil er befürchtete, sie könnten in Verdacht geraten?

»Wer ist als Letzter gegangen?«, fragte Agent Lacoste.

»Der junge Parra«, sagte Olivier.

»Der Junge?«, fragte Beauvoir. »Wie das Weib?«

Gabri schnitt eine Grimasse. »Natürlich nicht. Er heißt nicht ›der Junge‹. Das wäre doch blöd. Er heißt Havoc.«

Havoc wie Chaos? Beauvoir runzelte die Stirn und sah Gabri gereizt an. Er mochte es nicht, wenn man sich über ihn lustig machte, und er hatte den Verdacht, dass dieser große, wohlbeleibte Mann genau das tat. Er warf einen Blick zu Myrna. Sie lachte nicht, sondern nickte.

»So heißt er. Roar hat seinen Sohn Havoc genannt.«

Jean-Guy Beauvoir notierte es, allerdings ohne große Überzeugung.

»Und er hat abgesperrt?«, fragte Lacoste.

Das war eine entscheidende Frage, wie Gamache und Beauvoir wussten, Olivier schien ihre Tragweite jedoch zu entgehen.

»Ja, ganz sicher.«

Gamache und Beauvoir wechselten einen Blick. Langsam kamen sie der Sache näher. Der Mörder musste also einen Schlüssel gehabt haben. Eine Welt voller Verdächtiger war plötzlich um einiges geschrumpft.

»Kann ich Ihre Schlüssel mal sehen?«, fragte Beauvoir.

Olivier und Gabri zogen die Schlüssel aus der Tasche und gaben sie dem Inspector. Dann wurde ihm ein dritter Schlüssel vor die Nase gehalten. Er drehte sich zur Seite und sah einen Schlüsselbund an Myrnas großer Hand baumeln.

»Den habe ich für den Fall, dass ich mich mal aussperre oder wenn was ist.«

»Merci«, sagte Beauvoir mit etwas weniger Zuversicht, als er eben noch empfunden hatte. »Haben Sie in letzter Zeit noch jemandem einen Schlüssel gegeben?«, fragte er Olivier und Gabri.

»Nein.«

Beauvoir lächelte. Das war gut.

»Außer Old Mundin natürlich. Er hatte seinen verloren und musste ihn nachmachen lassen.«

»Und Billy Williams«, sagte Gabri an Olivier gerichtet. »Erinnerst du dich? Sonst benutzt er ja immer den unter dem Blumentopf am Eingang, aber mit der Lieferung Holz wollte er sich nicht erst noch bücken. Er wollte ihn mitnehmen, um ein paar Ersatzschlüssel machen zu lassen.«

Beauvoir sah sie fassungslos an. »Warum machen Sie sich dann überhaupt die Mühe abzuschließen?«, brachte er schließlich hervor.

»Wegen der Versicherung«, sagte Olivier.

Da wird wohl die Prämie von jemandem ganz schön steigen, dachte Beauvoir. Er blickte zu Gamache und schüttelte den Kopf. Also wirklich, sie hatten es alle verdient, im Schlaf ermordet zu werden. Aber wie es die Ironie des Schicksals wollte, wurden natürlich diejenigen umgebracht, die mit dem einzigen Schlüssel abschlossen und die Alarmanlage einschalteten. Nach Beauvoirs Erfahrung hatte Darwin ziemlich danebengelegen. Die Angepasstesten überlebten nicht. Sie kamen durch die Blödheit ihrer Nachbarn um, die völlig unbekümmert vor sich hin wurstelten.

Wenn die Blätter sich rot färben

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