Читать книгу Wenn die Blätter sich rot färben - Louise Penny - Страница 4

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»Geh du ran.«

Gabri zog sich die Decke bis unters Kinn und blieb still liegen. Doch das Telefon klingelte weiter, und Olivier neben ihm bekam offenbar nichts mit von der Welt. Draußen fiel sanfter Nieselregen, und das erste Licht des feuchtkalten Sonntagmorgens breitete sich in ihrem Schlafzimmer aus. Aber unter der Daunendecke war es warm und gemütlich, und er hatte nicht die Absicht, sich von der Stelle zu rühren.

Er stupste Olivier an. »Aufwachen.«

Nichts, nur ein Schnauben.

»Es brennt!«

Immer noch nichts.

»Ethel Merman!«

Nichts. Du lieber Himmel, war er etwa tot?

Gabri beugte sich über seinen Lebensgefährten, sah die kostbaren, dünner werdenden Haare, die auf dem Kissen und über seiner Stirn lagen. Die Augen geschlossen, friedlich. Oliviers Geruch stieg ihm in die Nase, ein Hauch Moschus, leicht verschwitzt. Bald würden sie beide duschen und nach Ivory-Seife duften.

Das Telefon klingelte erneut.

»Es ist deine Mutter«, flüsterte Gabri Olivier ins Ohr.

»Was?«

»Geh ans Telefon. Es ist deine Mutter.«

Olivier setzte sich auf, öffnete mit Mühe die Augen und blickte sich verschlafen um, als würde er aus einem langen Tunnel auftauchen. »Meine Mutter? Aber sie ist doch schon seit Jahren tot.«

»Wenn jemand von den Toten aufersteht, um’s dir mal richtig zu geben, dann sie.«

»Wenn’s mir einer gibt, dann du.«

»Hättest du wohl gern. Geh endlich ans Telefon.«

Olivier streckte den Arm über Gabri, der wie ein Berg neben ihm aufragte, und nahm den Hörer ab.

»Allô?«

Gabri kuschelte sich wieder in die warmen Kissen, als sein Blick auf die Leuchtanzeige der Uhr fiel. 6:43. An einem Sonntag. Am langen Labour-Day-Wochenende.

Wer rief denn in dieser Herrgottsfrühe an?

Er setzte sich auf und sah seinem Lebensgefährten ins Gesicht, beobachtete es, wie ein Flugpassagier während des Starts das Gesicht der Stewardess beobachtete. Wirkte sie beunruhigt? Verängstigt?

Er sah, wie Oliviers Gesichtsausdruck von leicht besorgt zu verwirrt wechselte, und im nächsten Moment sackten seine fragend hochgezogenen blonden Augenbrauen nach unten, und alles Blut wich aus seinem Gesicht.

Du lieber Gott, dachte Gabri. Wir stürzen ab.

»Was ist los?«, fragte er leise.

Olivier gab keine Antwort, hörte zu. Aber sein hübsches Gesicht sprach Bände. Irgendetwas stimmte ganz und gar nicht.

»Was ist passiert?«, zischte Gabri.

Mit flatternden Regenmänteln rannten sie über den Dorfanger. Myrna Landers, im Kampf mit ihrem riesigen Regenschirm, kam ihnen entgegen, und gemeinsam liefen sie zum Bistro. Es dämmerte, und die Welt war grau und feucht. Nach der kurzen Strecke bis zum Bistro klebten ihnen die Haare am Kopf, und ihre Kleider waren durchgeweicht, aber das war Olivier und Gabri ausnahmsweise egal. Schlitternd blieben sie neben Myrna vor dem Backsteingebäude stehen.

»Ich habe bei der Polizei angerufen. Sie müssten bald da sein«, sagte Myrna.

»Bist du dir sicher?« Olivier sah seine Freundin und Nachbarin an. Sie war groß, dick und nass, trug quietschgelbe Gummistiefel zu einem lindgrünen Regenmantel und umklammerte ihren roten Regenschirm. Sie sah aus wie ein explodierter Wasserball. Aber gleichzeitig hatte sie noch nie ernster ausgesehen. Natürlich war sie sich sicher.

»Ich bin rein und hab nachgesehen«, sagte sie.

»Mein Gott«, flüsterte Gabri. »Wer ist es?«

»Keine Ahnung.«

»Was soll das heißen?«, fragte Olivier. Dann legte er die schmalen Hände an die Schläfen, um seine Augen gegen das schwache Morgenlicht abzuschirmen, und spähte durch das Fenster seines Bistros. Myrna hielt ihren leuchtend roten Regenschirm über ihn.

Oliviers Atem beschlug die Scheibe, aber vorher sah er noch, was Myrna gesehen hatte. Da war jemand im Bistro. Er lag auf den alten Holzdielen. Mit dem Gesicht nach oben.

»Was ist?«, fragte Gabri und reckte den Hals, um über Oliviers Kopf hinweg etwas sehen zu können.

Aber eine Antwort war nicht nötig. Oliviers Gesicht sagte alles. Gabri drehte sich zu der großen schwarzen Frau neben ihm.

»Ist er tot?«

»Schlimmer.«

Gabri fragte sich, was schlimmer als tot sein konnte.

In ihrem Dorf kam Myrna einem Arzt am nächsten. Sie hatte in Montréal als Psychologin gearbeitet, bevor zu viele traurige Geschichten und zu viel gesunder Menschenverstand die Oberhand gewannen und sie ihren Beruf an den Nagel hängte. Sie hatte ihr Auto vollgeladen, um ein paar Monate durch die Gegend zu fahren, bevor sie sich irgendwo niederließ. An irgendeinem Ort, wo es ihr gefiel.

Eine Stunde von Montréal entfernt stieß sie auf Three Pines, hielt an, um im Dorfbistro einen Café au Lait zu trinken und ein Croissant zu essen, und ging nie mehr weg. Sie lud ihr Auto aus, mietete den Laden neben dem Bistro mit der Wohnung darüber und machte einen Buchladen mit Antiquariat auf.

Die Leute kamen, um Bücher zu kaufen und um sich zu unterhalten. Sie brachten Myrna ihre Geschichten mit, manche zwischen Buchdeckeln verwahrt, andere im Herzen. Manche Geschichten waren wahr, andere erfunden. Sie honorierte sie alle, auch wenn sie ihnen nicht jede abkaufte.

»Wir sollten reingehen«, sagte Olivier. »Damit niemand der Leiche zu nahe kommt. Alles in Ordnung mit dir?«

Gabri hatte die Augen geschlossen, doch jetzt öffnete er sie wieder. Er wirkte etwas gefasster. »Ja. Das ist nur der erste Schock. Ich glaube, ich kenne ihn nicht.«

Myrna sah auf seinem Gesicht die gleiche Erleichterung, die sie empfunden hatte, als sie vor der Leiche stand. So traurig es war, aber ein toter Fremder war wesentlich besser als ein toter Freund.

Im Gänsemarsch betraten sie das Bistro, dicht aneinandergedrängt, als könnte der Tote die Hand ausstrecken und einen von ihnen mit sich ziehen. Vorsichtig näherten sie sich ihm und starrten auf ihn hinunter, aus ihren Haaren und von ihren Nasen tropfte Regenwasser auf seine abgetragene Kleidung und bildete eine Pfütze auf den breiten Holzdielen. Schließlich zog Myrna die beiden Männer sanft vom Abgrund zurück.

Denn genau so empfanden sie es. An diesem Feiertagswochenende waren sie in ihrem gemütlichen Bett aufgewacht, in ihrem gemütlichen Zuhause, in ihrem gemütlichen Leben und stellten fest, dass sie plötzlich über dem Rand einer Klippe hingen.

Alle drei wandten sich stumm ab. Sahen einander mit großen Augen an.

Da lag ein toter Mann im Bistro.

Und nicht nur tot, sondern noch schlimmer.

Während sie auf die Polizei warteten, brühte Gabri eine Kanne Kaffee auf, und Myrna zog ihren Regenmantel aus, setzte sich ans Fenster und sah in den nebligen Septembertag hinaus. Olivier legte Holz in die Kamine an beiden Enden des Raums und machte Feuer. Er stocherte heftig darin herum und spürte die Wärme an seiner feuchten Kleidung. Sein Körper fühlte sich taub an, und das lag nicht nur an der Kälte, die ihm bis in die Knochen gekrochen war.

Als sie sich über den Toten gebeugt hatten, hatte Gabri »Der Arme« gemurmelt.

Myrna und Olivier hatten genickt. Was sie sahen, war ein alter Mann in schäbiger Kleidung, der zu ihnen hochstarrte. Sein Gesicht war blass, in seinen Augen lag ein überraschter Ausdruck, sein Mund stand leicht offen.

Myrna hatte auf seinen Hinterkopf gedeutet. Die kleine Wasserpfütze färbte sich allmählich rosa. Gabri beugte sich vorsichtig näher, während Olivier sich nicht rührte. Was ihn fassungslos und schockstarr dastehen ließ, war nicht der zerschmetterte Hinterkopf des toten Mannes, sondern seine Vorderseite. Sein Gesicht.

»Mon Dieu, Olivier, der Mann wurde ermordet. Oh mein Gott.«

Olivier starrte weiter in die toten Augen.

»Aber wer ist das?«, flüsterte Gabri.

Es war der Eremit. Tot. Ermordet. Im Bistro.

»Ich weiß es nicht«, sagte Olivier.

Der Anruf erreichte Chief Inspector Armand Gamache nach dem Sonntagsbrunch, als er zusammen mit Reine-Marie gerade den Tisch abgeräumt hatte. Aus dem Esszimmer ihrer Wohnung im Montréaler Stadtteil Outremont konnte er die Stimmen seines Stellvertreters Jean-Guy Beauvoir und seiner Tochter Annie hören. Sie unterhielten sich nicht. Sie unterhielten sich nie. Sie stritten. Vor allem wenn Jean-Guys Frau Enid nicht als Puffer dabei war. Enid hatte sich heute entschuldigen lassen, weil sie Stundenpläne ausarbeiten musste. Jean-Guy dagegen schlug nie eine Einladung zu einer kostenlosen Mahlzeit aus. Selbst wenn sie einen Preis hatte. Und dieser Preis war jedes Mal Annie.

Begonnen hatte es bei frisch gepresstem Orangensaft, bei Rührei und Brie war es weitergegangen und über frischem Obst, Croissants und confitures hatte es sich noch einmal gesteigert.

»Wie kann man denn den Einsatz von Elektroschockpistolen verteidigen?«, war Annies Stimme aus dem Esszimmer zu vernehmen.

»Das war wieder mal ein wunderbarer Brunch, merci, Reine-Marie«, sagte David, stellte das schmutzige Geschirr neben die Spüle und gab seiner Schwiegermutter einen Kuss auf die Wange. Er war von mittlerer Statur und hatte dunkles, bereits lichter werdendes Haar. Mit seinen dreißig Jahren war er ein paar Jahre älter als seine Frau Annie, wirkte aber meist jünger. Gamache dachte oft, dass seine hervorstechendste Eigenschaft seine Lebendigkeit war. Nicht hyperaktiv, aber voller Energie. Er hatte ihn sofort gemocht, als Annie ihm David vor fünf Jahren vorgestellt hatte. Im Gegensatz zu den anderen jungen Männern, die Annie mit nach Hause gebracht hatte, meistens Juristen wie sie selbst, hatte David nicht versucht, den Chief Inspector an Männlichkeit zu übertrumpfen. An solchen Spielchen hatte Gamache kein Interesse. Und sie beeindruckten ihn auch nicht. Was ihn beeindruckte, war, wie sich David bei ihrem Kennenlernen verhalten hatte. Er hatte das Gesicht zu einem strahlenden Lächeln verzogen, ein Lächeln, das den ganzen Raum zu füllen schien, und einfach nur »Bonjour« gesagt.

Er war anders als jeder andere Mann, für den Annie sich jemals interessiert hatte. David war kein Wissenschaftler, kein Sportler, er sah auch nicht umwerfend gut aus. Er würde nicht der nächste Premierminister von Québec werden, nicht einmal der Chef einer Anwaltsfirma.

Nein, David war einfach freundlich und aufgeschlossen.

Annie hatte ihn geheiratet, und Armand Gamache hatte zusammen mit Reine-Marie seine einzige Tochter mit Freuden zum Altar geführt. Und zugesehen, wie dieser nette Mann der Ehemann seiner Tochter wurde.

Denn Armand Gamache kannte das Gegenteil von nett. Er kannte Grausamkeit, Verzweiflung, Entsetzen. Und er wusste, was für eine in Vergessenheit geratene und wertvolle Eigenschaft »nett« war.

»Wär’s dir lieber, wenn wir Verdächtige einfach erschießen?« Im Esszimmer war Beauvoirs Stimme lauter und schärfer geworden.

»Danke, David«, sagte Reine-Marie und griff nach den Tellern. Gamache gab seinem Schwiegersohn ein frisches Geschirrtuch und gemeinsam trockneten sie ab, während Reine-Marie spülte.

»Also«, David wandte sich dem Chief Inspector zu, »was meinst du, haben die Habs dieses Jahr eine Chance auf den Cup?«

»Nein«, schrie Annie, »ich erwarte, dass ihr endlich lernt, wie man jemanden festnimmt, ohne ihn zu verletzen oder zu töten. Ich erwarte, dass ihr Verdächtige als genau das betrachtet. Als Verdächtige. Nicht als minderwertige Kriminelle, die ihr zusammenschlagen, unter Strom setzen oder erschießen könnt.«

»Ich denke schon«, sagte Gamache, gab einen Teller zum Abtrocknen an David weiter und nahm sich den nächsten. »Der neue Torwart ist gut, und ich finde, dass sie sich im Angriff weiterentwickelt haben. Das ist eindeutig ihr Jahr.«

»Aber in der Verteidigung haben sie immer noch Schwächen, oder?«, sagte Reine-Marie. »Die Canadiens konzentrieren sich immer viel zu sehr auf die Offensive.«

»Versuch du mal, einen bewaffneten Mörder festzunehmen. Das würde ich wirklich gern sehen. Du, du …« Beauvoir verhaspelte sich. Die Unterhaltung in der Küche geriet ins Stocken, während sie lauschten, was er als Nächstes sagen würde. So einen Streit brachen die beiden bei jedem Brunch vom Zaun, an jedem Weihnachtsfest, Thanksgiving, Geburtstag. Die Wortwahl variierte. Wenn sie sich nicht wegen Elektroschockpistolen in die Haare gerieten, stritten sie über Kindertagesstätten, das Bildungssystem oder die Umwelt. Wenn Annie blau sagte, sagte Beauvoir orange. Das war schon so gewesen, als Inspector Beauvoir vor zwölf Jahren zur Mordkommission der Sûreté du Québec gestoßen war. Er war ein Mitglied des Teams geworden und ein Mitglied der Familie.

»Du was?«, fragte Annie.

»Du blöde Paragrafenreiterin.«

Reine-Marie zeigte auf die Hintertür der Küche, die zu einem schmalen Balkon mit einer Feuertreppe führte. »Sollen wir?«

»Flüchten?«, flüsterte Gamache in der Hoffnung, sie würde es ernst meinen, wenngleich er es bezweifelte.

»Du könntest sie doch einfach erschießen, Armand«, schlug David vor.

»Ich fürchte, Jean-Guy zieht schneller«, antwortete der Chief Inspector. »Er würde mich zuerst erwischen.«

»Trotzdem«, sagte seine Frau, »einen Versuch wäre es wert.«

»Paragrafenreiterin?«, sagte Annie, und ihre Stimme triefte vor Verachtung. »Großartig. Du blöder Fascho.«

»Aber ich könnte vielleicht eine Elektroschockpistole nehmen«, sagte Gamache.

»Fascho? Fascho?« Jean-Guy Beauvoir kreischte fast. In der Küche richtete sich Henri, der Schäferhund der Gamaches, in seinem Korb auf und legte den Kopf schief. Angesichts seiner überdimensional großen Ohren hegte Gamache die Vermutung, dass er nicht reinrassig war, sondern eher eine Kreuzung zwischen einem Schäferhund und einer Satellitenschüssel.

»Oh, oh«, sagte David. Henri rollte sich in seinem Korb zusammen, und es war offensichtlich, dass David am liebsten zu ihm gekrochen wäre.

Alle drei blickten wehmütig durch die Hintertür in den verregneten, kalten Septembertag hinaus. Labour-Day-Wochenende in Montréal. Annie erwiderte etwas Unverständliches. Beauvoirs Antwort war dagegen deutlich zu verstehen.

»Du kannst mich mal.«

»Nun ja, ich denke, das war’s für heute«, sagte Reine-Marie. »Will noch jemand Kaffee?« Sie zeigte auf die Espressomaschine.

»Non, pas pour mois, merci«, sagte David mit einem Lächeln. »Und für Annie bitte auch keinen mehr.«

»Blöde Kuh«, murmelte Jean-Guy vor sich hin, als er die Küche betrat. Er riss ein Geschirrtuch vom Haken und begann wütend einen Teller abzutrocknen. Gamache nahm an, dass sie das Indian-Tree-Muster zum letzten Mal sahen. »Bitte sagen Sie, dass Sie sie adoptiert haben.«

»Nein, alles selbst gemacht.« Reine-Marie reichte ihrem Mann den nächsten Teller.

»Du kannst mich mal.« Annies dunkler Schopf tauchte kurz in der Küchentür auf und verschwand wieder.

»Unser Goldkind«, sagte Reine-Marie.

Von ihren beiden Kindern kam Daniel mehr nach seinem Vater. Groß, nachdenklich, analytisch. Er war freundlich und ruhig und stark. Als Annie auf die Welt gekommen war, hatte Reine-Marie, vielleicht aus einem natürlichen Impuls heraus, gedacht, dieses Kind würde ihr ähneln. Warmherzig, intelligent, fröhlich. Mit einer ausgeprägten Leidenschaft für Bücher, die bei Reine-Marie dazu geführt hatte, dass sie Bibliothekarin geworden war und schließlich die Leitung einer Abteilung der Bibliothèque nationale in Montréal übernommen hatte.

Doch Annie hatte sie beide überrascht. Sie war klug, ehrgeizig und witzig. Sie war leidenschaftlich, in allem, was sie tat und fühlte.

Eigentlich hätten sie es sich denken können. In Annies ersten Lebensmonaten war Armand stundenlang mit ihr im Auto herumgefahren und hatte versucht, das schreiende Baby zu beruhigen. Mit seinem tiefen Bariton hatte er ihr Lieder von den Beatles und von Jacques Brel vorgesungen. »La Complainte du phoque en Alaska« von Beau Dommage. Das war Daniels Lieblingslied. Eine gefühlvolle Ballade. Bei Annie bewirkte sie gar nichts.

Eines Tages drehte er den Zündschlüssel, nachdem er das kreischende Kind in seinem Sitz angeschnallt hatte, und auf dem Kassettendeck begann eine alte Kassette der Weavers zu laufen.

Als die Falsettostimmen zu singen anfingen, hatte Annie sich beruhigt.

Zunächst war es ihm wie ein Wunder erschienen. Aber nach der hundertsten Runde um den Block mit einem glucksenden Kind und dem »Wimoweh, a wimoweh« der Weavers begann Gamache sich nach den guten alten Zeiten zu sehnen und stand kurz davor, selbst zu kreischen. Doch irgendwann schlief der kleine Löwe ein.

Annie wurde zu ihrem Löwenjungen. Und wuchs zu einer Löwin heran. Aber manchmal, wenn sie miteinander spazieren gingen, erzählte sie ihrem Vater von ihren Ängsten und ihren Enttäuschungen und den kleinen Sorgen ihres jungen Lebens. Und dann überkam Chief Inspector Gamache der Wunsch, sie fest an sich drücken, damit sie nicht dauernd die Tapfere geben musste.

Sie war leidenschaftlich, weil sie Angst hatte. Vor allem und jedem.

Der Rest der Welt sah eine starke, edle Löwin. Er blickte auf seine Tochter und sah ein verschrecktes Löwenbaby vor sich, auch wenn er ihr das nie sagen würde. Oder ihrem Mann.

Erneut tauchte Annie in der Tür auf. »Können wir reden?«, fragte sie ihren Vater, ohne Beauvoir eines Blickes zu würdigen. Gamache nickte und drückte sein Geschirrtuch David in die Hand. Sie gingen den Flur hinunter in das gemütliche Wohnzimmer, in dem unzählige Bücher ordentlich aufgereiht in Regalen standen und nicht ganz so ordentlich unter Tischen und neben dem Sofa gestapelt waren. Auf dem Beistelltisch lagen Le Devoir und die New York Times, und im Kamin brannte ein angenehmes Feuer. Nicht die lodernden Flammen eines bitterkalten Winters, sondern die sanft züngelnde Flamme eines frühen Herbstes.

Sie sprachen ein paar Minuten über Daniel, der mit seiner Frau und seiner Tochter in Paris lebte und gegen Ende des Monats Vater einer zweiten Tochter werden würde. Sie sprachen über ihren Mann David und seine Eishockeymannschaft, die sich auf die Winterspielzeit vorbereitete.

Größtenteils hörte Gamache zu. Er war sich nicht sicher, ob Annie etwas auf dem Herzen hatte oder nur reden wollte. Henri trottete ins Zimmer und legte den Kopf auf Annies Schoß. Sie kraulte seine Ohren, was er mit Seufzen quittierte. Schließlich legte er sich vor den Kamin.

In diesem Augenblick klingelte das Telefon. Gamache ignorierte es.

»Ich glaube, das ist das Telefon in deinem Arbeitszimmer«, sagte Annie. Sie sah es durch die offene Tür in dem mit Büchern vollgestopften Zimmer, wo es immer schwach nach Sandelholz und Rosenwasser roch, neben dem Computer und dem Notizbuch auf dem alten Schreibtisch stehen.

In dem Zimmer gab es drei Stühle, und Daniel und sie hatten sich immer auf die beiden Drehstühle gesetzt und sich so lange im Kreis gedreht, bis ihnen schlecht wurde, während ihr Vater ruhig in seinem Lehnstuhl saß und las. Oder manchmal auch einfach nur in die Ferne sah.

»Ja, ich denke auch.«

Das Telefon klingelte erneut. Ein Geräusch, das sie gut kannten. Irgendwie unterschied es sich von dem anderer Telefone. Dieser Klingelton kündigte einen Tod an.

Annie rutschte auf dem Sessel hin und her.

»Das kann warten«, sagte er ruhig. »Wolltest du mir etwas sagen?«

»Soll ich rangehen?« Jean-Guy streckte den Kopf durch die Tür. Er lächelte Annie zu, dann wanderte sein Blick rasch zum Chief Inspector.

»Ja, bitte. Ich komme gleich.«

Er drehte sich wieder zu seiner Tochter, aber inzwischen war David ins Zimmer gekommen, und Annie hatte wieder ihr öffentliches Gesicht aufgesetzt. Es unterschied sich nicht einmal so stark von ihrem privaten. Vielleicht war es nur etwas weniger verletzlich. Und während David sich neben sie setzte und ihre Hand nahm, fragte ihr Vater sich kurz, warum in Gegenwart ihres Mannes ihr öffentliches Gesicht nötig war.

»Es gab einen Mord, Sir«, sagte Inspector Beauvoir leise. Er war an der Tür stehen geblieben.

»Ja«, sagte Gamache und sah zu seiner Tochter.

»Geh nur, Papa.« Sie wedelte mit der Hand, nicht um ihn wegzuschicken, sondern um ihm zu verstehen zu geben, dass er ihretwegen nicht bleiben müsste.

»Das hat Zeit. Hast du Lust auf einen Spaziergang?«

»Es gießt in Strömen«, sagte David und lachte. Gamache hatte seinen Schwiegersohn wirklich sehr gern, aber manchmal war David reichlich begriffsstutzig. Annie lachte ebenfalls.

»Also echt, Papa, bei dem Wetter würde nicht mal Henri rausgehen.«

Henri sprang auf und lief zu seinem Ball. Die beiden verhängnisvollen Wörter »Henri« und »rausgehen« übten in ihrer Kombination eine unwiderstehliche Macht aus.

»Na dann«, sagte Gamache, als der Schäferhund wieder ins Zimmer gesprungen kam. »Ich muss arbeiten.«

Er bedachte Annie und David mit einem bedeutungsvollen Blick und sah dann zu Henri. Das konnte nicht einmal David missverstehen.

»Na schön«, sagte er gut gelaunt, erhob sich von dem bequemen Sofa und machte sich mit Annie auf die Suche nach Henris Leine.

Als Chief Inspector Gamache und Inspector Beauvoir in Three Pines ankamen, hatte die örtliche Polizei das Bistro bereits abgesperrt, und die Dorfbewohner standen unter aufgespannten Regenschirmen herum und starrten auf das alte Backsteingebäude. Schauplatz so vieler Essen und Drinks und Feiern. Jetzt Schauplatz eines Verbrechens.

Bevor Beauvoir den flachen Hügel ins Dorf hinunterfuhr, bat Gamache ihn anzuhalten.

»Was ist?«, fragte der Inspector.

»Ich möchte nur mal schauen.«

Die beiden Männer saßen in dem warmen Auto und betrachteten das Dorf, während sich die Scheibenwischer auf der Windschutzscheibe gemächlich hin und her bewegten. Vor ihnen lag der Dorfanger mit dem Teich und der Bank, den Rosen- und Hortensienbeeten, spätblühendem Phlox und Stockrosen. Und an seinem Ende standen die drei großen Kiefern wie ein Anker für Anger und Dorf.

Gamaches Blick wanderte zu den Häusern rings um den Dorfanger. Cottages mit verwitterten weißen Schindeln und breiten Veranden, auf denen Korbstühle standen. Winzige Natursteinhäuser, vor Jahrhunderten von den ersten Siedlern errichtet, die das Land gerodet und die Steine aus der Erde geholt hatten. Die meisten Häuser waren jedoch aus rotem Backstein, erbaut von den United Empire Loyalists, die vor der Amerikanischen Revolution geflohen waren. Three Pines lag nur wenige Kilometer von der Grenze zu Vermont entfernt, und anders als heute hatte es damals keine engen freundschaftlichen Beziehungen zwischen den Staaten gegeben. Die Menschen, die das Dorf gegründet hatten, waren auf der verzweifelten Suche nach einem Zufluchtsort gewesen, um einem Krieg zu entkommen, an den sie nicht glaubten.

Der Blick des Chief Inspectors wanderte an der Rue du Moulin entlang den Hügel hinauf bis zu der kleinen weißen Kirche St. Thomas.

Dann sah er wieder zu der Schar von Leuten, die unter ihren Regenschirmen beieinanderstanden, redeten, auf etwas zeigten, etwas anstarrten.

Oliviers Bistro lag in der Mitte der in einem Halbkreis angeordneten Läden. Einer war an den anderen gebaut. Erst kam der Gemischtwarenladen von Monsieur Béliveau, dann Sarahs Bäckerei, dann Oliviers Bistro und schließlich Myrnas Buchladen und Antiquariat.

»Fahren wir.« Gamache nickte.

Auf diese Aufforderung hatte Beauvoir nur gewartet, und er ließ das Auto langsam wieder anrollen. Auf die eng aneinandergedrängten Verdächtigen zu, auf den Mörder zu.

Allerdings hatte eine der ersten Lektionen, die der Chef Beauvoir beigebracht hatte, als er ihn in die berühmte Mordkommission der Sûreté du Québec holte, gelautet, dass sie sich auf der Jagd nach einem Mörder nicht vorwärtsbewegten. Sie bewegten sich rückwärts. In die Vergangenheit. Dort hatte das Verbrechen begonnen, dort hatte der Täter begonnen. Irgendein Ereignis, von allen anderen wahrscheinlich längst vergessen, hatte sich im Mörder festgesetzt. Und es hatte in ihm zu schwären begonnen.

Das, was tötet, kann man nicht sehen, hatte der Chef Beauvoir gewarnt. Das macht es so gefährlich. Es ist keine Pistole und auch kein Messer oder eine Faust. Es ist nichts, was man kommen sieht. Es ist ein Gefühl. Ranzig geworden, verfault. Das auf eine Gelegenheit zum Zuschlagen wartete.

Langsam näherte sich das Auto dem Bistro, der Leiche.

»Merci«, sagte Gamache eine Minute später, als ein Polizist von der örtlichen Dienststelle der Sûreté ihnen die Tür zum Bistro öffnete. Der junge Mann hatte dazu angesetzt, den Fremden zu fragen, wer er eigentlich sei, dann jedoch gezögert.

Beauvoir genoss es jedes Mal von Neuem. Die Reaktion der Polizisten vor Ort, wenn ihnen dämmerte, dass dieser große Mann Anfang fünfzig nicht einfach ein neugieriger Anwohner war. Für die jungen Polizisten sah Gamache wie ihr Vater aus. Er hatte etwas Distinguiertes. Stets trug er Anzug und Krawatte oder, wie an diesem Tag, ein Jackett und eine graue Flanellhose.

Sie registrierten den sorgfältig gestutzten ergrauten Schnurrbart. Auch seine Haare begannen um die Ohren herum, wo sie sich leicht lockten, grau zu werden. An regnerischen Tagen wie diesem trug der Chef eine Tweedkappe, und wenn er sie beim Betreten eines Raums abnahm, sahen die jungen Polizisten eine beginnende Glatze. Und was ihnen noch auffiel, waren die Augen dieses Mannes. Sie fielen jedem auf. Sie waren von einem tiefen Braun, nachdenklich, intelligent und noch etwas anderes. Etwas, das den berühmten Leiter der Mordkommission der Sûreté du Québec von jedem anderen ranghöheren Beamten unterschied.

Seine Augen waren freundlich.

Es war zugleich seine Stärke und seine Schwäche, wie Beauvoir wusste.

Gamache lächelte dem verdatterten jungen Agent zu, der sich Auge in Auge mit dem berühmtesten Polizisten von ganz Québec wiederfand. Er streckte die Hand aus, und der junge Agent starrte sie einen Moment lang an, bevor er sie ergriff. »Patron«, sagte er.

»Ach, ich habe so gehofft, dass Sie kommen.« Gabri kam auf ihn zugeeilt, vorbei an den Polizisten, die sich über das Opfer beugten. »Wir haben darum gebeten, dass die Sûreté Sie schickt, aber offenbar ist nicht vorgesehen, dass Verdächtige einen bestimmten Ermittler anfordern.« Er umarmte den Chief Inspector und drehte sich zu den anderen Polizisten im Raum um. »Ich hab’s doch gesagt, dass ich ihn kenne.« Dann flüsterte er Gamache zu: »Ich glaube, es ist besser, wenn wir uns nicht küssen.«

»Eine gute Idee.«

Gabri wirkte müde und angespannt, aber gefasst. Er sah leicht derangiert aus, was aber nicht weiter ungewöhnlich war. Hinter ihm stand Olivier, still, geradezu abwesend. Auch er sah derangiert aus, was äußerst ungewöhnlich war. Er machte einen erschöpften Eindruck und hatte dunkle Ringe unter den Augen.

»Gerade ist jemand von der Rechtsmedizin eingetroffen.« Agent Isabelle Lacoste durchquerte den Raum, um Gamache zu begrüßen. Sie trug einen schlichten Rock und einen leichten Pullover und schaffte es, darin chic auszusehen. Wie die meisten Quebecerinnen war sie zierlich und selbstbewusst. »Ach, es ist Dr. Harris.«

Alle blickten aus dem Fenster, und die Menge teilte sich, um eine Frau mit einem Arztkoffer durchzulassen. Anders als Agent Lacoste schaffte es Dr. Harris, in dem schlichten Rock und dem Pullover unter ihrem Regenmantel etwas altbacken auszusehen. Aber es wirkte bequem. Und an einem scheußlichen Tag wie diesem war »bequem« ziemlich verlockend.

»Schön«, sagte der Chief Inspector und wandte sich wieder Agent Lacoste zu. »Was wissen wir?«

Lacoste führte Gamache und Inspector Beauvoir zu der Leiche. Sie knieten sich hin, eine Handlung und ein Ritual, die sie schon Hunderte Male ausgeführt hatten. Es hatte etwas erstaunlich Intimes. Sie berührten den Toten nicht, aber sie beugten sich tief über ihn, kamen ihm näher, als sie sonst jemandem kommen würden, abgesehen von einem geliebten Menschen.

»Das Opfer wurde von hinten mit einem stumpfen Gegenstand erschlagen. Glatt, hart und schmal.«

»Ein Schürhaken?«, fragte Beauvoir und blickte zu den Kaminfeuern, die Olivier angefacht hatte. Gamache folgte seinem Blick. Es war ein regnerischer Vormittag, aber nicht besonders kalt. Ein Feuer war nicht nötig. Aber wahrscheinlich sollte es auch eher trösten als wärmen.

»Wenn es ein Schürhaken war, muss er sauber gewesen sein. Natürlich wird Dr. Harris sich das noch genauer ansehen, aber auf den ersten Blick sind an der Wunde keine Spuren von Schmutz, Asche, Holz oder Ähnlichem zu entdecken.«

Gamache betrachtete das klaffende Loch im Kopf des Mannes. Hörte Agent Lacoste zu.

»Also keine Tatwaffe?«, fragte Beauvoir.

»Noch nicht. Wir suchen natürlich weiter.«

»Wer war er?«

»Das wissen wir nicht.«

Gamache wandte den Blick von der Wunde ab und sah Lacoste an, sagte jedoch nichts.

»Er hatte keinen Ausweis bei sich«, fuhr Agent Lacoste fort. »Wir haben seine Taschen durchsucht und nichts gefunden. Nicht mal ein Papiertaschentuch. Niemand scheint ihn zu kennen. Weiß, männlich, Mitte siebzig, würde ich sagen. Hager, aber nicht unterernährt. Knapp eins siebzig.«

Vor einigen Jahren, als Isabelle Lacoste neu in der Mordkommission gewesen war, hatte sie es merkwürdig gefunden, dem Chef all das aufzuzählen, was er selbst sehen konnte. Aber es war eine seiner Lektionen gewesen, und deshalb tat sie es. Erst Jahre später, als sie selbst jemanden ausbildete, hatte sie begriffen, wie wichtig diese Übung war.

Sie stellte sicher, dass sie alle dasselbe sahen. Polizisten waren ebenso fehlbar und subjektiv wie jeder andere Mensch. Sie übersahen Dinge oder interpretierten sie falsch. Durch das Aufzählen passierte das weniger leicht. Oder die gleichen Fehler wurden dadurch noch gravierender.

»Er hatte nichts in den Händen und, wie es aussieht, auch nichts unter den Fingernägeln. Keine weiteren Verletzungen. Offenbar hat kein Kampf stattgefunden.«

Sie richteten sich auf.

»Dafür spricht auch der Zustand des Raums.«

Sie sahen sich um.

Nichts in Unordnung. Nichts umgeworfen. Alles sauber und ordentlich.

Der Gastraum wirkte friedlich. Die in den beiden Kaminen flackernden Feuer nahmen dem Tag das Düstere. Der Schein der Flammen spiegelte sich in den polierten Holzdielen, die durch den Rauch und die Füße von Farmern im Lauf der Jahre dunkel geworden waren.

Vor den Kaminen standen Sofas und große einladende Ohrensessel mit verblichenen Bezügen. Um Esstische aus dunklem Holz waren alte Stühle gruppiert. Vor den zweiflügeligen Erkerfenstern warteten drei, vier Ohrensessel auf die Dorfbewohner, die auf einen Café au Lait und ein Croissant vorbeikamen oder auf einen Scotch oder ein Glas Burgunder. Gamache vermutete, dass die Leute, die draußen im Regen herumstanden, einen Schnaps vertragen könnten. Auf Olivier und Gabri traf das auf jeden Fall zu.

Chief Inspector Gamache und sein Team waren schon viele Male in diesem Bistro gewesen, hatten im Winter ein Essen vor dem prasselnden Kaminfeuer genossen und im Sommer einen kühlen Drink auf der Terrasse. Und dabei fast immer über Mord gesprochen. Aber nie mit einer Leiche direkt daneben.

Sharon Harris trat zu ihnen und zog ihren nassen Regenmantel aus, bevor sie Agent Lacoste zulächelte und dem Chief Inspector förmlich die Hand schüttelte.

»Dr. Harris«, sagte er und deutete eine Verbeugung an. »Tut mir leid, dass wir Sie an Ihrem langen Wochenende stören.«

Sie hatte zu Hause gesessen, sich durch die Fernsehsender gezappt, auf der Suche nach einem, wo ihr keine Predigt gehalten wurde, als das Telefon klingelte. Es war ihr wie ein Geschenk des Himmels erschienen. Doch als sie jetzt auf die Leiche blickte, wusste sie, dass es nichts dergleichen war.

»Ich überlasse Ihnen das Feld«, sagte Gamache. Durch die Fenster sah er die Dorfbewohner, die noch immer draußen herumstanden und auf weitere Neuigkeiten warteten. Ein großer, gut aussehender Mann mit grauen Haaren neigte den Kopf, um einer kleinen Frau mit zerzausten Haaren zuzuhören. Peter und Clara Morrow. Dorfbewohner und Künstler. Neben ihnen, stocksteif und den Blick unverwandt auf das Bistro gerichtet, stand Ruth Zardo. Mit ihrer Ente, die recht herrisch dreinblickte. Ruth trug einen Südwester, der regennass glänzte. Clara sagte etwas zu ihr, erhielt jedoch keine Antwort. Gamache wusste, dass Ruth Zardo eine verbitterte, halsstarrige alte Säuferin war. Und zufällig seine Lieblingsdichterin. Clara sagte erneut etwas, und dieses Mal antwortete Ruth. Auch ohne dass er es durch das geschlossene Fenster hören konnte, wusste Gamache, was sie sagte.

»Halt die Klappe.«

Gamache lächelte. Auch wenn eine Leiche im Bistro zweifellos höchst ungewöhnlich war, änderten manche Dinge sich nie.

»Chief Inspector.«

Eine tiefe, melodiöse Stimme. Er drehte sich um und sah Myrna Landers durch den Gastraum auf ihn zukommen, ihre quietschgelben Gummistiefel stampften über den Boden. Sie trug einen rosafarbenen Trainingsanzug, dessen Beine in den Stiefeln steckten.

Sie war wirklich eine in jeder Hinsicht auffallende Frau.

»Myrna«, sagte er lächelnd und küsste sie auf beide Wangen. Einige Polizisten der örtlichen Sûreté, die nicht erwartet hätten, dass der Chief Inspector eine Verdächtige küsste, sahen ihn verblüfft an. »Was machen Sie hier drin, während alle anderen draußen sind?« Er zeigte zum Fenster.

»Ich habe ihn gefunden«, sagte sie, und sein Gesicht wurde ernst.

»Tatsächlich? Tut mir leid. Das war bestimmt ein Schock.« Er führte sie zu einem Sessel am Kamin. »Ich nehme an, man hat Ihre Aussage aufgenommen?«

Sie nickte. »Ja, Agent Lacoste. Allerdings fürchte ich, dass ich nicht viel zu sagen habe.«

»Möchten Sie eine Tasse Kaffee oder Tee?«

Myrna lächelte. Das Gleiche hatte sie oft genug ihm angeboten, so wie jedem. Auf ihrem Holzofen blubberte immer der Wasserkessel vor sich hin. Jetzt wurde es ihr angeboten. Und sie stellte fest, wie tröstlich das war.

»Tee, bitte.«

Während sie sich ans Feuer setzte, um sich aufzuwärmen, ging Chief Inspector Gamache zu Gabri, um eine Kanne Tee zu bestellen, dann kam er zurück, ließ sich in dem Sessel neben ihr nieder und beugte sich vor.

»Was ist passiert?«

»Ich mache jeden Morgen einen langen Spaziergang.«

»Ach. Ich habe gar nicht gewusst, dass Sie das tun.«

»Na ja. Jedenfalls seit Frühjahr. Ich bin jetzt in einem Alter, in dem ich endlich was tun muss, um in Form zu kommen.« Ihre Worte wurden von einem breiten Grinsen begleitet. »Oder zumindest in eine andere Form. Ich strebe Birne statt Apfel an.« Sie tätschelte ihren Bauch. »Wobei ich den Verdacht habe, dass ich von Natur aus eher der Melonentyp bin.«

»Nichts gegen eine gute Melone.« Gamache lächelte und warf einen Blick auf seine Körpermitte. »Ich bin auch nicht gerade eine Stangenbohne. Um welche Zeit stehen Sie auf?«

»Mein Wecker ist auf halb sieben gestellt, und um Viertel vor sieben bin ich aus dem Haus. Als ich heute Morgen los bin, ist mir gleich aufgefallen, dass Oliviers Tür einen Spalt offen stand, deshalb bin ich rein und habe gerufen. Normalerweise macht Olivier am Sonntag erst später auf, deshalb hat es mich überrascht.«

»Aber nicht beunruhigt.«

»Nein.« Die Frage schien sie zu erstaunen. »Ich wollte schon wieder gehen, als ich ihn entdeckt habe.«

Myrna saß mit dem Rücken zum Raum, und Gamache verkniff es sich, an ihr vorbei zu der Leiche zu sehen. Stattdessen erwiderte er nur schweigend ihren Blick und nickte ihr ermutigend zu.

Gabri servierte den Tee, und obwohl er sich offensichtlich am liebsten zu ihnen gesetzt hätte, war er im Gegensatz zu Gamaches Schwiegersohn David sensibel genug, die stummen Hinweise zu verstehen. Er stellte die Kanne, zwei Porzellantassen mit Untertassen, Milch, Zucker und einen Teller mit Ingwerkeksen auf den Tisch. Dann ging er wieder.

»Im ersten Moment dachte ich, es wäre ein Haufen schmutziger Tischtücher, den die Kellner am Vorabend liegen lassen haben«, sagte Myrna, als Gabri außer Hörweite war. »Die meisten sind noch recht jung, und man weiß ja nie. Aber dann habe ich genauer hingeschaut und gesehen, dass da der Körper eines Mannes liegt.«

»Der Körper?«

So beschrieb man einen Toten, keinen Lebenden.

»Mir war sofort klar, dass er tot ist. Wissen Sie, ich habe schon einige tote Menschen gesehen.«

Das wusste Gamache.

»Er lag genauso da wie jetzt.« Myrna sah Gamache dabei zu, wie er ihnen Tee eingoss. Sie nickte, als er ihr Milch und Zucker anbot, dann nahm sie ihre Tasse zusammen mit einem Keks entgegen. »Ich bin ganz nah hin, aber ich habe ihn nicht angefasst. Ich dachte nicht, dass man ihn umgebracht hat. Nicht gleich.«

»Was haben Sie denn gedacht?« Gamache hielt die Tasse zwischen seinen Händen. Der Tee war stark und duftete aromatisch.

»Dass er vielleicht einen Schlaganfall hatte oder einen Herzinfarkt. Irgendetwas Unerwartetes, nach seinem Gesichtsausdruck zu urteilen. Er sah überrascht aus, aber nicht so, als hätte er Angst gehabt oder Schmerzen.«

Gamache fand, dass das eine gute Beschreibung war. Der Tod hatte diesen Mann überrascht. Aber das war bei den meisten Menschen der Fall, selbst bei alten und kranken. Fast niemand rechnete ernsthaft damit zu sterben.

»Dann habe ich seinen Kopf gesehen.«

Gamache nickte. Es war ja auch kaum zu übersehen. Nicht der Kopf, sondern was davon fehlte.

»Kennen Sie ihn?«

»Ich habe ihn noch nie gesehen. Und an so jemanden erinnert man sich, denke ich.«

Gamache musste ihr recht geben. Er sah wie ein Landstreicher aus. Solchen Menschen schenkte man zwar oft keine Beachtung, aber sie fielen trotzdem auf. Armand Gamache stellte die zarte Tasse auf der zarten Untertasse ab. In Gedanken kehrte er zu der Frage zurück, die ihm als Erstes durch den Kopf geschossen war, nachdem er den Anruf entgegengenommen und von dem Mord gehört hatte. Einem Mord im Bistro von Three Pines.

Warum dort?

Er warf einen raschen Blick zu Olivier, der mit Inspector Beauvoir und Agent Lacoste sprach. Er wirkte ruhig und gefasst. Aber es konnte ihm nicht entgehen, welchen Eindruck das machte.

»Was haben Sie dann getan?«

»Ich habe den Notruf gewählt, dann Olivier angerufen, dann bin ich wieder rausgegangen und habe gewartet.«

Sie beschrieb die Geschehnisse bis zu dem Zeitpunkt, als die Polizei eingetroffen war.

»Merci«, sagte Gamache und erhob sich. Myrna nahm ihre Tasse und ging zu Olivier und Gabri. Zusammen standen sie vor dem anderen Kamin.

Jeder im Raum wusste, wer die drei Hauptverdächtigen waren. Außer den drei Hauptverdächtigen.

Wenn die Blätter sich rot färben

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