Читать книгу Wenn die Blätter sich rot färben - Louise Penny - Страница 8

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»Chief Inspector? Hier ist Sharon Harris.«

»Ja, Dr. Harris«, sagte Gamache.

»Ich habe die Obduktion noch nicht abgeschlossen, kann Ihnen aber schon mal den vorläufigen Befund durchgeben.«

»Ich höre.« Gamache zog sein Notizbuch heran.

»An der Leiche sind keine besonderen Merkmale, keine Tätowierungen, keine Operationsnarben. Die Aufnahmen von seinen Zähnen habe ich rausgeschickt.«

»In welchem Zustand war sein Gebiss?«

»Das ist ein interessanter Punkt. Nicht so schlecht, wie eigentlich zu erwarten gewesen wäre. Vermutlich war er nicht gerade oft beim Zahnarzt, und er hat wegen einer Zahnfleischerkrankung zwei Backenzähne verloren, aber insgesamt betrachtet sind die Zähne nicht schlecht.«

»Hat er sie regelmäßig geputzt?«

Dr. Harris lachte leise. »Ja, kaum zu glauben. Er hat sogar Zahnseide benutzt. Das Zahnfleisch hat sich stellenweise zurückgebildet, und er hatte Zahnstein und Entzündungen, aber er hat sich um seine Zähne gekümmert. Man sieht, dass sogar mal eine größere Sanierung durchgeführt wurde. Zahnfüllungen, Wurzelbehandlungen.«

»Teuer.«

»Ja. Der Mann hatte mal Geld.«

Er war also nicht als Landstreicher geboren worden, dachte Gamache. Aber das war ja niemand.

»Können Sie eine Schätzung abgeben, wann diese Behandlungen erfolgten?«

»Nach der Abnutzung der verwendeten Materialien zu urteilen, würde ich sagen vor mindestens zwanzig Jahren, aber ich habe eine Probe in die forensische Zahnmedizin geschickt. Morgen sollte ich Näheres wissen.«

»Zwanzig Jahre«, überlegte Gamache. Schnell rechnete er nach und notierte ein paar Zahlen in seinem Notizbuch. »Der Mann war um die siebzig. Das heißt, zum Zeitpunkt der Behandlung war er um die fünfzig. Dann muss etwas passiert sein. Er hat seine Stelle verloren, zu trinken angefangen, ist psychisch erkrankt. Etwas ist passiert, das ihn aus der Bahn geworfen hat.«

»Etwas ist passiert«, stimmte Dr. Harris ihm zu, »aber nicht, als er fünfzig war. Es passierte, als er Ende dreißig, Anfang vierzig war.«

»Vor so langer Zeit?«, Gamache warf einen Blick auf seine Notizen. Dort stand eingekringelt 20 ans. Er war verwirrt.

»Deshalb rufe ich eigentlich an, Chief«, fuhr die Rechtsmedizinerin fort. »Mit der Leiche stimmt etwas nicht.«

Gamache setzte sich aufrecht hin und nahm seine Lesebrille ab. Als Beauvoir das vom anderen Ende des Raums sah, kam er zum Schreibtisch des Chefs.

»Fahren Sie fort«, sagte Gamache und gab Beauvoir ein Zeichen, sich zu setzen. Dann drückte er eine Taste an seinem Telefonapparat. »Ich habe Sie auf laut gestellt. Inspector Beauvoir sitzt neben mir.«

»Gut. Also, es kam mir komisch vor, dass dieser Mann, der wie ein Obdachloser aussieht, regelmäßig seine Zähne putzte und sogar Zahnseide benutzte. Wobei Obdachlose seltsame Dinge tun. Wie Sie wissen, haben viele von ihnen psychische Probleme und entwickeln Obsessionen.«

»Die sich allerdings meistens nicht auf die Körperhygiene beziehen«, sagte Gamache.

»Stimmt. Jedenfalls kam mir das komisch vor. Als ich ihn dann entkleidet habe, habe ich festgestellt, dass er sauber ist. Er hat kürzlich gebadet oder geduscht. Und auch seine Haare waren frisch gewaschen, nur nicht gekämmt.«

»Vielleicht hat er in einer Obdachlosenunterkunft gewohnt«, sagte Gamache. »Wobei einer unserer Leute die Sozialdienste hier in der Gegend angerufen hat, und er ist bei keinem bekannt.«

»Woher wollen Sie das wissen?« Die Rechtsmedizinerin stellte selten eine Äußerung von Chief Inspector Gamache in Frage, aber diese machte sie einfach neugierig. »Wir kennen seinen Namen nicht, und seine Beschreibung unterscheidet sich sicher nicht sehr von der vieler obdachloser Männer.«

»Das stimmt«, gab Gamache zu. »Die Kollegin beschrieb ihn als schlanken älteren Mann in den Siebzigern mit weißen Haaren, blauen Augen und wettergegerbter Haut. Keiner der Männer, auf die diese Beschreibung passt und die in einer der Obdachlosenunterkünfte hier in der Gegend untergebracht sind, wird vermisst. Aber eine andere Kollegin ist gerade mit einem Foto von ihm unterwegs.«

Stille am anderen Ende der Leitung.

»Was ist?«

»Ihre Beschreibung stimmt nicht.«

»Was soll das heißen?« Gamache hatte ihn ebenso wie alle anderen gesehen.

»Er war nicht so alt. Deswegen rufe ich an. Seine Zähne waren ein erster Hinweis, deshalb habe ich ihn mir noch mal genauer angesehen. Seine Arterien und die anderen Blutgefäße sind kaum verkalkt, und er hat so gut wie keine Atherosklerose. Seine Prostata ist kaum vergrößert, und er hat keine Arthritis. Ich würde sagen, dass er Mitte fünfzig war.«

Also mein Alter, dachte Gamache. Konnte dieses Häuflein Elend auf dem Boden des Bistros tatsächlich so alt gewesen sein wie er?

»Außerdem glaube ich nicht, dass er obdachlos war.«

»Warum?«

»Zum einen ist er zu sauber. Er hat sich gepflegt. Er hat nicht gerade Körperkult betrieben, aber schließlich können nicht alle wie Inspector Beauvoir aussehen.«

Beauvoir strich sich über die Haare.

»Äußerlich wirkt er wie ein alter Mann, aber er ist in guter körperlicher Verfassung. Dann wäre da noch der Zustand seiner Kleidung. Auch sie ist sauber. Und geflickt. Die Sachen sind alt und abgetragen, aber propres

Sie benutzte das Quebecer Wort, das außer alten Eltern kaum noch jemand benutzte. Aber hier schien es zu passen. Propre. Nicht modisch. Nicht ausgefallen. Sondern anständig und sauber. Das Wort hatte eine etwas angestaubte Würde.

»Es stehen noch einige Untersuchungen aus, aber so lautet mein vorläufiger Befund. Ich werde Ihnen das alles gleich mailen.«

»Bon. Haben Sie eine Vorstellung, was er gearbeitet hat? Wie hat er sich in Form gehalten?«

»Sie meinen, in welches Fitnessstudio er gegangen ist?« Er konnte sie lächeln hören.

»Ja, genau«, sagte Gamache. »War er eher der Laufband- oder der Hanteltyp? War er eher im Spinning-Kurs oder beim Pilates?«

Jetzt lachte die Rechtsmedizinerin. »Wenn ich eine Vermutung äußern soll, würde ich sagen, dass er nicht viel gelaufen ist, sondern eher Gewichte gestemmt hat. Sein Oberkörper war etwas muskulöser als seine Beine. Aber ich werde diesen Punkt bei meiner Arbeit im Kopf behalten.«

»Merci, docteur«, sagte Gamache.

»Noch eins«, sagte Beauvoir. »Die Tatwaffe. Gibt es weitere Hinweise? Irgendwelche Ideen?«

»Eingehend habe ich mich der Frage noch nicht gewidmet, aber ich habe mir die Wunde noch mal kurz angesehen, und an meiner Einschätzung hat sich nichts geändert. Ein stumpfer Gegenstand.«

»Ein Schürhaken?«, fragte Beauvoir.

»Möglich. In der Wunde war etwas Weißes. Könnte Asche sein.«

»Morgen früh bekommen wir die Laborergebnisse zu den Schürhaken«, sagte Gamache.

»Ich gebe Ihnen Bescheid, wenn ich mehr weiß.«

Dr. Harris legte in dem Moment auf, als Agent Lacoste zurückkehrte. »Der Himmel klart auf. Das wird ein wunderschöner Sonnenuntergang.«

Beauvoir sah sie fassungslos an. Sie sollte Three Pines nach Hinweisen absuchen, die Tatwaffe aufspüren, Verdächtige befragen, und da kam sie und erzählte was vom Sonnenuntergang?

Er sah den Chef an ein Fenster treten und an seinem Kaffee nippen. Dann drehte er sich um und lächelte. »Ja, wunderschön.«

In der Mitte des Raums hatten sie einen Konferenztisch aufgestellt, und an einem Ende standen im Halbkreis ein paar Schreibtische und Stühle. Auf jedem Schreibtisch standen ein Computer und ein Telefon. Das Ganze sah ein wenig wie Three Pines aus, wobei der Konferenztisch der Dorfanger war und die Schreibtische die Läden. Es war eine alte und bewährte Anordnung.

Ein junger Agent von der örtlichen Dienststelle stand wartend daneben und sah aus, als wollte er etwas sagen.

»Kann ich Ihnen helfen?«, fragte Chief Inspector Gamache.

Seine Kollegen hielten in ihrem Tun inne und sahen herüber. Einige tauschten ein wissendes Lächeln aus.

Der junge Mann straffte die Schultern.

»Ich würde Ihnen gerne bei den Ermittlungen helfen.«

Totenstille. Selbst die Kriminaltechniker ließen ihre Arbeit sinken, wie es Leute tun, wenn sie Zeuge einer Katastrophe werden.

»Wie bitte?«, sagte Inspector Beauvoir und machte einen Schritt auf ihn zu. »Was haben Sie gerade gesagt?«

»Ich würde gerne helfen.« Inzwischen sah auch der junge Agent den Laster auf sich zudonnern und merkte, dass er die Kontrolle verlor. Zu spät wurde ihm sein Fehler bewusst.

Doch obwohl er das alles sah, wich er nicht aus, entweder vor Schreck oder aus Mut. Schwer zu sagen. Die Männer hinter ihm verschränkten die Arme und taten nichts, um ihm zu helfen.

»Sollten Sie nicht Schreibtische aufstellen und Telefone anschließen?«, fragte Beauvoir und trat noch einen Schritt näher.

»Das habe ich schon gemacht. Ist alles fertig.« Seine Stimme wurde leiser, unsicherer, aber ganz versagte sie ihm nicht.

»Und wie kommen Sie darauf, dass Sie uns helfen können?«

Hinter Beauvoir stand der Chief Inspector und beobachtete das Ganze schweigend. Während er die Fragen des Inspectors beantwortete, sah der junge Agent Beauvoir an, aber dann kehrte sein Blick zu Gamache zurück.

»Ich kenne die Gegend. Ich kenne die Leute.«

»Sie auch.« Beauvoir deutete auf die Kollegen des jungen Agent, die wie eine Mauer hinter ihm standen. »Warum sollten wir gerade Sie nehmen, wenn wir Hilfe brauchen?«

Das schien ihn aus dem Konzept zu bringen, und er stand schweigend da. Beauvoir entließ ihn mit einer Geste und ging weg.

»Weil«, sagte der junge Agent zum Chief Inspector, »ich gefragt habe.«

Beauvoir blieb stehen, drehte sich um und sah ihn ungläubig an. »Pardon? Pardon? Das hier ist nicht Ringelpiez mit Anfassen, sondern eine Mordermittlung. Gehören Sie überhaupt der Sûreté an?«

Das war keine schlechte Frage. Der junge Agent sah aus wie sechzehn, und seine Uniform schlackerte an ihm, auch wenn sich jemand offensichtlich bemüht hatte, sie ein wenig enger zu nähen. Mit seinen confrères im Hintergrund bot sich das Bild eines Evolutionsbaums, wobei er sich auf dem Ast befand, der vom Aussterben bedroht war.

»Wenn Sie fertig sind, können Sie gehen.«

Der junge Agent nickte, drehte sich um, um sich wieder an die Arbeit zu machen, und sah sich der Mauer seiner Kollegen gegenüber. Unter den Augen von Gamache und seinem Team machte er einen Bogen um sie. Bevor sie sich von ihm wegdrehten, sahen sie noch, wie sein Hals sich feuerrot färbte.

»Kommen Sie bitte mal?«, sagte Gamache zu Beauvoir und Lacoste, und sie setzten sich an den Konferenztisch.

»Was halten Sie davon?«, fragte Gamache leise.

»Von der Leiche?«

»Von dem Jungen.«

»Ach nein, nicht schon wieder«, sagte Beauvoir genervt. »Wenn wir Verstärkung brauchen, können wir auf genug geeignete Leute in der Mordkommission zurückgreifen. Selbst wenn die alle beschäftigt sein sollten, gibt es noch die Warteliste. Wir haben genug Anwärter, die liebend gerne in die Mordkommission wechseln würden. Warum sollten wir also irgendeinen Bauernlümmel nehmen, den wir überhaupt nicht kennen? Sollten wir einen weiteren Ermittler brauchen, dann können wir jemand aus Montréal kommen lassen.«

Diese Diskussion führten sie nicht zum ersten Mal.

In der gesamten Provinz gab es keine prestigeträchtigere Abteilung als die Mordkommission der Sûreté du Québec. Vielleicht sogar in ganz Kanada. Sie arbeiteten an den schlimmsten Verbrechen unter den schlimmsten Bedingungen. Und sie arbeiteten mit dem besten, angesehensten und berühmtesten Ermittler. Chief Inspector Gamache.

Sie konnten sich ganz bescheiden mit den Besten begnügen.

»Das könnten wir, stimmt«, sagte der Chief Inspector.

Aber Beauvoir wusste, dass er es nicht tun würde. Isabelle Lacoste war von Gamache vor dem Büro ihres Superintendent aufgelesen worden, wo sie darauf wartete, aus der Abteilung für Verkehrsdelikte geworfen zu werden. Zum Erstaunen aller hatte Gamache sie gefragt, ob sie zu ihm kommen wolle.

Beauvoir wiederum hatte er auf verlorenem Posten in der Dienststelle der Sûreté in Trois Rivières entdeckt. Jeden Tag musste Beauvoir, damals noch Agent Beauvoir, sich die Schmach antun, seine Uniform anzuziehen, um dann in der vergitterten Asservatenkammer zu verschwinden. Und dort zu bleiben. Gefangen wie ein Tier. Er hatte seine Kollegen und Vorgesetzten dermaßen genervt, dass ihnen nichts anderes eingefallen war, als ihn wegzusperren. Allein. Unter lauter toten Gegenständen. Den ganzen Tag Stille, außer wenn ein Agent kam, um etwas abzuliefern oder abzuholen. Sie sahen ihm nicht mal in die Augen. Er war unberührbar geworden. Unansprechbar. Unsichtbar.

Aber Chief Inspector Gamache sah ihn. Eines Tages war er aufgetaucht und in den Asservatenkäfig gegangen, und dort hatte er Jean-Guy Beauvoir gefunden.

Dieser Polizist, den niemand gewollt hatte, war mittlerweile der stellvertretende Leiter der Mordkommission.

Aber Beauvoir wurde den Verdacht nicht los, dass Gamache bisher mit einigen bemerkenswerten Ausnahmen einfach Glück gehabt hatte. Denn in Wahrheit waren unerfahrene Polizisten gefährlich. Sie machten Fehler. Und Fehler führten bei einer Mordermittlung zum Tod.

Er drehte sich um und sah den schmächtigen jungen Mann abschätzig an. War er derjenige, dem dieser eine grobe Schnitzer unterlaufen würde? Dieser Riesenfehler, der schließlich dazu führte, dass noch jemand starb? Dieser Tote könnte ich sein, dachte Beauvoir. Oder schlimmer noch. Er warf einen Blick zu dem neben ihm sitzenden Gamache.

»Warum er?«, flüsterte Beauvoir.

»Er sieht nett aus«, sagte Lacoste.

»So wie der Sonnenuntergang?«, höhnte Beauvoir.

»So wie der Sonnenuntergang«, wiederholte sie. »Er hat sich vorgewagt.«

Schweigen.

»Das war’s?«, fragte Beauvoir.

»Er ist anders als die anderen. Sehen Sie ihn sich an.«

»Sie wollen ihn auswählen, weil ihn keiner mag? Für eine Mordermittlung? Um Himmels willen, Sir«, er wandte sich Gamache zu. »Wir sind doch kein Wohltätigkeitsverein.«

»Nein?«, sagte Gamache mit einem kleinen Lächeln.

»Für dieses Team, für diesen Fall brauchen wir die Besten. Wir haben nicht die Zeit, Leute auszubilden. Und ehrlich gesagt sieht er so aus, als müsste man ihm dabei helfen, seine Schuhe zuzubinden.«

Das stimmte, wie Gamache zugeben musste, der junge Mann wirkte unbeholfen. Aber da war auch noch etwas anderes an ihm.

»Wir nehmen ihn«, sagte der Chief Inspector zu Beauvoir. »Ich weiß, dass Ihnen das nicht passt, und ich kann Ihre Einwände nachvollziehen.«

»Warum nehmen Sie ihn dann, Sir?«

»Weil er darum gebeten hat«, sagte Gamache und stand auf. »Und sonst keiner.«

»Aber die anderen wären bestimmt dazu bereit«, wandte Beauvoir ein und stand ebenfalls auf. »Wie jeder.«

»Was erwarten Sie von einem Mitglied unseres Teams?«, fragte Gamache.

Beauvoir überlegte. »Dass der Betreffende klug ist und Stärke zeigt.«

Gamache nickte zu dem jungen Mann. »Was meinen Sie, wie viel Stärke dafür nötig war? Wie viel Kraft kostet es ihn jeden Tag, zur Arbeit zu gehen? Beinahe so viel, wie es Sie in Trois Rivière gekostet hat, oder Sie«, er drehte sich zu Lacoste, »in der Abteilung für Verkehrsdelikte. Mag sein, dass die anderen auch gerne bei uns arbeiten würden, aber entweder sind sie nicht klug genug, uns zu fragen, oder es fehlt ihnen an Mut. Unser junger Mann hat beides.«

Unser, dachte Beauvoir. Unser junger Mann. Er sah quer durch den Raum dahin, wo er stand. Allein. Sorgsam Kabel aufwickelte und in eine Schachtel legte.

»Ich schätze Ihr Urteilsvermögen, Jean-Guy, das wissen Sie. Aber in diesem Fall habe ich ein gutes Gefühl.«

»Verstehe, Sir.« Und er verstand. »Ich weiß, dass Sie viel auf Ihr Gefühl geben. Aber es hat nicht immer recht.«

Gamache starrte seinen Inspector an, und Beauvoir zuckte zusammen, er fürchtete, zu weit gegangen zu sein. Zu sehr auf ihre gute persönliche Beziehung gesetzt zu haben. Aber dann lächelte der Chef.

»Glücklicherweise habe ich Sie, damit mir jemand sagt, wenn ich einen Fehler mache.«

»Ich glaube, Sie machen in diesem Moment einen.«

»Ich werde daran denken. Danke. Würden Sie den jungen Mann jetzt bitten, zu uns zu kommen?«

Beauvoir marschierte durch den Raum und blieb vor dem jungen Agent stehen.

»Kommen Sie mit«, sagte er.

Der junge Agent richtete sich auf. Er machte einen besorgten Eindruck. »Ja, Sir.«

Einer seiner Kollegen hinter ihm kicherte. Beauvoir sah ihn kurz an und wandte sich dann wieder dem jungen Mann zu.

»Wie heißen Sie?«

»Paul Morin. Ich bin bei der Dienststelle der Sûreté in Cowansville, Sir.«

»Agent Morin, setzen Sie sich bitte an den Tisch. Wir würden gerne Ihre Meinung zu unserem Vorgehen hören.«

Morin wirkte erstaunt. Aber nicht ganz so erstaunt wie die kräftigen Männer hinter ihm. Beauvoir drehte sich um und ging langsam zum Konferenztisch. Er fühlte sich gut.

»Ich höre«, sagte Gamache und sah auf seine Uhr. Es war halb sechs.

»Wir haben erste Ergebnisse zu einem Teil der Spuren, die wir heute Morgen im Bistro gesichert haben«, sagte Beauvoir. »Auf dem Boden und zwischen einigen Dielen wurde Blut des Opfers gefunden, allerdings nicht viel.«

»Dr. Harris wird bald einen ausführlicheren Bericht haben«, sagte Gamache. »Sie glaubt, dass deshalb so wenig Blut zu finden ist, weil es vor allem zu inneren Blutungen kam.«

Beauvoir nickte. »Die Untersuchung seiner Kleidung ist abgeschlossen. Auch hier nichts, was Aufschluss über seine Identität geben könnte. Seine Kleidung ist alt, aber sauber und ursprünglich von guter Qualität. Ein Pullover aus Merinowolle, Baumwollhemd, Cordhose.«

»Vielleicht hatte er ja seine besten Sachen angezogen«, sagte Agent Lacoste.

»Fahren Sie fort«, sagte Gamache, beugte sich vor und nahm seine Brille ab.

»Also.« Sie sortierte ihre Gedanken. »Nehmen wir mal an, dass er ein wichtiges Treffen hatte. Er duschte und rasierte sich, schnitt sogar seine Fingernägel.«

»Und besorgte sich vielleicht saubere Klamotten«, führte Beauvoir ihren Gedankengang fort. »In einem Secondhandladen oder bei einer Kleiderausgabe.«

»So was gibt es in Cowansville«, sagte Agent Morin. »Und in Granby auch. Ich kann da mal nachfragen.«

»Gut«, sagte der Chief Inspector.

Agent Morin sah zu Inspector Beauvoir, der bestätigend nickte.

»Dr. Harris glaubt nicht, dass der Mann ein Landstreicher war, wenigstens nicht im üblichen Sinn«, sagte Chief Inspector Gamache. »Außerdem glaubt sie, dass er zwischen fünfzig und sechzig war, auch wenn er wie mindestens siebzig aussah.«

»Sie machen Witze«, sagte Agent Lacoste. »Was ist da passiert?«

Das war die Frage, dachte Gamache. Was war passiert? Dass jemand zu Lebzeiten um zwanzig Jahre alterte. Und im Tod.

Beauvoir stand auf und trat zu den sauberen neuen Papierbogen, die an der Wand befestigt waren. Er nahm einen neuen Marker, zog die Kappe ab und hielt ihn sich automatisch unter die Nase. »Gehen wir mal den gestrigen Abend durch.«

Isabelle Lacoste konsultierte ihre Notizen und fasste ihre Befragung der Bedienungen aus dem Bistro zusammen.

Langsam zeichnete sich der Verlauf des vergangenen Abends ab. Während Armand Gamache zuhörte, sah er das rappelvolle Bistro vor sich, fröhliche Dorfbewohner, die am Labour-Day-Wochenende zum Essen oder auf einen Drink gekommen waren. Über den Jahrmarkt redeten, die Vielseitigkeitsprüfung der Pferde, die Viehschau, die Stände mit Kunsthandwerk. Das Ende des Sommers feierten und sich von Verwandten und Freunden verabschiedeten. Er sah vor sich, wie die letzten Gäste aufbrachen und die jungen Kellner aufräumten, die Kaminfeuer ausgehen ließen, das Geschirr spülten. Dann öffnete sich die Tür und Old Mundin trat ein. Gamache hatte keine Ahnung, wie Old Mundin aussah, daher stellte er sich einfach eine Figur aus einem Gemälde von Bruegel dem Älteren vor. Ein beleibter, heiterer Bauer. Er trat durch die Bistrotür, und ein junger Kellner half ihm vielleicht, die reparierten Stühle hereinzutragen. Mundin und Olivier verhandelten. Ein paar Scheine wechselten den Besitzer, und Mundin zog mit den reparaturbedürftigen Möbeln wieder ab.

Und dann?

Lacostes Befragungen hatten ergeben, dass die Kellner kurz vor Olivier und Mundin gegangen waren. Nur einer sei im Bistro zurückgeblieben.

»Was halten Sie von Havoc Parra?«, fragte Gamache.

»Er wirkte überrascht, als er erfuhr, was passiert ist«, sagte Lacoste. »Das könnte natürlich gespielt gewesen sein. Schwer zu sagen. Sein Vater hat mir allerdings etwas Interessantes erzählt. Er hat bestätigt, was wir schon gehört haben. Er hat jemanden im Wald gesehen.«

»Wann?«

»Anfang des Sommers. Er arbeitet im Auftrag der neuen Besitzer an dem alten Hadley-Haus und glaubt, dort oben jemanden gesehen zu haben.«

»Glaubt er oder hat er?«, fragte Beauvoir.

»Er glaubt es. Er ist ihm nach, aber der Mann ist verschwunden.«

Einen Moment lang schwiegen sie, dann ergriff Gamache wieder das Wort. »Havoc Parra sagt, dass er um eins abgesperrt hat und gegangen ist. Sechs Stunden später findet Myrna Landers beim Spazierengehen die Leiche. Warum wird ein Fremder in Three Pines, genauer gesagt im dortigen Bistro ermordet?«

»Wenn Havoc tatsächlich abgesperrt hat, dann muss der Mörder gewusst haben, wo er den Schlüssel findet«, sagte Lacoste.

»Oder er hatte schon einen«, sagte Beauvoir. »Was mich wundert, ist, dass der Mörder die Leiche dort zurückgelassen hat.«

»Warum?«, fragte Lacoste.

»Na ja, es war niemand auf der Straße. Es war dunkel. Warum hat der Mörder die Leiche nicht in den Wald getragen? Weit hätte er sie nicht schleppen müssen, vielleicht hundert Meter. Die Tiere hätten den Rest erledigt. Vielleicht wäre die Leiche nie gefunden worden. Und wir hätten nie erfahren, dass ein Mord begangen wurde.«

»Was glauben Sie denn, warum die Leiche liegen gelassen wurde?«, fragte Gamache.

Beauvoir dachte kurz nach. »Ich glaube, jemand wollte, dass sie gefunden wird.«

»Im Bistro?«, fragte Gamache.

»Im Bistro.«

Wenn die Blätter sich rot färben

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