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Oberstdorf im Allgäu –
Henk, Mierendorff, Haubach

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„Eine schlechte Zeit für ein ehrgeizwarmes, plänevolles Herz, das bald an der Kälte schrumpfen muss wie Quecksilber.“

Carlo Mierendorff, Der Gnom49

Immer schauen, ob jemand gezielt hinter einem hergeht oder nicht. Die Bahnhöfe, die Züge bieten den Schutz der Menschenmasse, aber in der hektischen Menge lauert auch jederzeit Gefahr. Die Polizeistationen sind nicht weit von den Gleisen entfernt. Die Knotenpunkte werden von den Behörden überwacht, damals wie heute. Durchatmen kann, wer weit draußen ist. Am Strand eines Seebades. Oder in den Bergen, wenn man beim Wandern genau sehen kann, dass einem niemand folgt.

Die Berge zogen Wilhelm Leuschner magisch an. Vielleicht auch deswegen, weil ihn die Blicke von oben an das Ballonfahren erinnerten, das er so liebte. Wenn er von dem Glück, über der Landschaft zu schweben, erzählte, lenkte Leuschner auch Wolfgang Langhoff, den späteren Intendanten des Deutschen Theaters in Berlin und Leidensgenossen in der gemeinsamen NS-Haft, ein wenig ab. Leuschners „geheime, große Liebe“ sei der „Flugballonsport“ gewesen, berichtet Langhoff einige Jahre nach Kriegsende. Für die Häftlinge weiteten sich in solchen Momenten die Wände der engen Gemeinschaftszelle, und sie träumten sich in den Himmel:

„Nie werde ich das ‚Wipfeltauchen‘ vergessen, wie er es uns geschildert hat: Über dem grünen Laubmeer eines Waldes sinkt langsam der Ballon in die Zweige, der Korb taucht rauschend ins Grüne, da wird ein wenig Ballast abgeworfen und der Ballon steigt schnell wieder empor, sinkt sich nach einiger Zeit wieder hinab und so wiederholt sich das Spiel. Das war das ‚Wipfeltauchen‘, und wenn ich mir später in der Enge der Zelle und unter dem Druck der Nazihenkersknechte Visionen der Freiheit vorzauberte, um standhalten und ausharren zu können, dann war es das ‚Wipfeltauchen‘ […], das vor meinen Augen erstand.“50

Doch nicht nur Leuschner, auch seine Mitstreiter im konspirativen Netz liebten die weiten Blicke, die vor allem alpine Szenerien boten – ob im Ballon oder auf Skiern. Die Alpen waren ein Raum, an dem man sich tendenziell der Überwachung entziehen wollte, eine Landschaft, in der man ab und zu ausruhte, ein paar Tage Abstand von den räumlichen Brennpunkten der Untergrundarbeit in Berlin oder den Ballungsräumen entlang des Rheins gewinnen konnte, ein Platz, der Möglichkeit zur Reflektion bot, der eine Atempause verschaffte.

Oberstdorf war der wohl wichtigste Rückzugsort der Mitglieder des Kreisauer Kreises im Leuschner-Netz: des aus Sachsen stammenden und in Hessen politisch sozialisierten Carlo Mierendorff, des in Frankfurt am Main geborenen und in Berlin-Plötzensee hingerichteten Theodor Haubach sowie des Heidelbergers Emil Henk. Hier konnten sie sich nicht nur erholen, sondern auch in Ruhe nachdenken.

Auf einem Schwarz-Weiß-Foto sieht man einen Mann mit Hut, eingehüllt in einen langen, dunklen Wintermantel. Er geht durch eine tief verschneite Landschaft, im Hintergrund ist ein mehrstöckiges Haus zu sehen. In der linken Hand trägt er einen Aktenkoffer. Die Bildunterschrift lautet: „Mierendorff zu Besuch bei Henk in Oberstdorf (1942/43)“.51 Auf dem Foto sieht Carlo Mierendorff nicht so aus, als ob er als Erholungssuchender ins winterliche Oberstdorf gereist wäre. Dass der NS-Gegner sich zur Jahreswende 1942/43 überhaupt im Allgäu frei bewegen konnte, war angesichts der zurückliegenden Jahre alles andere als selbstverständlich. Denn die Zeit von 1933 bis 1938 hatte der frühere SPD-Reichstagsabgeordnete nahezu durchgehend in Gefängnissen und Konzentrationslagern verbracht. Bei Kriegsausbruch am 1. September 1939, als seine alten Weggefährten Theodor Haubach und Wilhelm Leuschner erneut für einige Wochen inhaftiert wurden, blieb Mierendorff verschont, weil er in Berlin in einem „kriegswichtigen“ Betrieb, der Braunkohle-Benzin AG (BRABAG), einer IG-Farben-Tochter, arbeitete. Die Tätigkeit ermöglichte Mierendorff Reisen, durch die er sich der Überwachung durch die Gestapo zumindest teilweise entziehen konnte. Weihnachten 1942 traf Mierendorff im Ferienhaus seines Heidelberger Freundes Emil Henk die „sozialistischen Mitglieder“ des Kreisauer Kreises, Theodor Haubach und Henk selbst. Dessen Haus in Oberstdorf „war nicht nur eine ‚Fluchtburg‘, […] sondern auch der Ort, an dem die drei ‚Kreisauer‘ ihre politischen und strategischen Überlegungen zum Endkampf gegen die Hitlertyrannei anstellten“, berichtet Ende der 1960er-Jahre Artur E. Bratu, ein Nachkriegsfreund Henks.


Carlo Mierendorff zu Besuch bei Emil Henk in Oberstdorf (1942/43)

Die kleine sozialdemokratische Fraktion des Kreisauer Kreises diskutierte bereits Ende 1942 in Oberstdorf über ein geplantes Attentat auf Hitler. Wie schon früher der Kopf der Gruppe, Helmuth James Graf von Moltke,52 erhob auch Henk „schwerste Bedenken“ gegen ein Attentat im Frühjahr 1943. Noch aus der Todeszelle im Berliner Gefängnis Tegel schrieb Moltke am 21. Dezember 1944 an seine Frau Freya, dass er Mierendorff im Herbst 1942 sogar gebeten habe, die Umsturzpläne der Gruppe „Beck-Goerdeler“ bei der Gestapo anzuzeigen, um damit auch Wilhelm Leuschner von einer Zusammenarbeit mit diesem umsturzbereiten Personenkreis abzubringen – letztlich vergeblich.53 In Oberstdorf lautete Weihnachten 1942 Henks Argumentation, der sich Mierendorff und Haubach anschlossen, dass der historische Augenblick für ein Attentat noch nicht gekommen sei, da Hitlers Sturz die „sofortige Kapitulation Deutschlands“ bedeuten würde.54 Doch wann sollte dieser Augenblick kommen? Für die Mitglieder des Kreisauer Kreises war nicht die knapp ein Jahr zurückliegende Wannsee-Konferenz mit der Entscheidung zum Völkermord an den europäischen Juden oder die zeitgleich zu dem Oberstdorfer Treffen tobende Schlacht um Stalingrad ausschlaggebend für den Gang der Geschichte, sondern das Kriegsgeschehen im Westen. Die Amerikaner und Engländer, so Henk, „hatten bis zum Winter 1942 noch keinen kriegsentscheidenden Erfolg gehabt. Noch keine Erfolge, die weltpolitisch auswertbar waren.

Es gab unter den Alliierten damals noch keine definitiven Abmachungen über die Zukunft Europas. Solange die Anglikaner noch keine Kontinentalmacht waren, konnten auch keine Entscheidungen getroffen werden.“ Also beschlossen die Mitglieder des Kreisauer Kreises in Oberstdorf, auf den „D-Day“ zu warten. Der kam allerdings erst am 6. Juni 1944. In Oberstdorf wurde vereinbart, dass Mierendorff mit Leuschner über die Ablehnung des Putsches sprechen sollte.

Wilhelm Leuschner, der frühere hessische Innenminister und stellvertretende Vorsitzende des Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbundes (ADGB), war der führende Vertreter des sozialdemokratischen Spektrums der Verschwörung gegen Hitler. Leuschner habe sich den Oberstdorfer Beschlüssen schweren Herzens angeschlossen, schreibt Henk: „Der Schatten der Gestapo liegt auf der Opposition“, habe Leuschner Mierendorff geantwortet, als dieser seinem ehemaligen Chef im hessischen Innenministerium die Oberstdorfer Beschlüsse mitteilte: „Bis zum Tage der Invasion sind alle Männer von der Gestapo ermordet.“ Obwohl auch Generaloberst Ludwig Beck lieber sofort zuschlagen wollte, wurde der Putsch abgeblasen. Man suchte Zwischenlösungen, fand sie aber letztlich nicht. Die Zersetzung des Staates habe dann, so Henk nach Kriegsende, spätestens Anfang 1944 die Regierung selbst erfasst. Sogar Himmler habe versucht, mit Leuschner Verbindung aufzunehmen, dem langjährige politische Weggefährten wie Mierendorff von einem solchen Treffen abrieten. Sollte es stattgefunden haben, dann zweifellos, so mutmaßt Henk, um die Verschwörung zu sichern. „Es ist ganz ausgeschlossen, dass Himmler nichts von der Organisation gewusst hat.“55 Für Leuschner hätte eine „Fühlungnahme“ mit Himmler „wohl eine Garantie bis zum Attentat bedeutet, mehr nicht“. Man sah sich gezwungen, notfalls mit allen Mächten zu paktieren, selbst mit den dunkelsten – „der nächtigsten Charakterseite des Deutschen, die in Himmler ihren Ausdruck fand“.56 Symptomatisch für den Ernst der Lage ist eine Äußerung Mierendorffs vom Herbst 1943: „Von jetzt an geht es nur noch aufwärts; entweder an die Macht oder an den Galgen!“57 Mierendorff erlebte beides nicht mehr, denn in der Nacht vom 3. auf den 4. Dezember 1943 wurde er bei einem schweren Luftangriff auf Leipzig im Haus seiner Tante verschüttet und Tage später tot geborgen. Sein Leichnam wurde nach Darmstadt überführt, wo man ihn am 22. Februar 1944 auf dem Waldfriedhof neben seinen Eltern beisetzte.

Am 12. März 1944 hielt in New York einer von Mierendorffs Jugendfreunden, der seit 1939 im US-Exil lebende Schriftsteller Carl Zuckmayer, eine „Gedächtnisrede“58 für den Widerstandskämpfer. Zuckmayer, der Mierendorff bereits am Ende des Ersten Weltkriegs in Frankfurt am Main kennengelernt hatte, hielt diese Rede wenige Monate vor dem geplanten Attentat auf Hitler:

„Ich weiß nicht, wie es im heutigen Deutschland ausschaut, [aber] wir dürfen überzeugt sein, daß der Widerstand gegen die Nazis nie aufgehört hat […]. Eines aber dürfen wir heute aussprechen: Wenn ein Carlo Mierendorff in Deutschland gelebt hat, sein Leben lang für das deutsche Volk gearbeitet hat und ihm in Not und Leiden treu geblieben ist – dann ist dieses Volk nicht verloren, dann ist es wert zu leben – dann wird es leben!“59

Auch Emil Henk widmete seinem engen Freund Carlo Mierendorff später einen begeisterten Nachruf:

„ Der begabteste Mann der politischen Opposition war zweifellos Carlo Mierendorff. Er war eine echte politische Urkraft, ein genialer politischer Kopf mit außerordentlichen Tiefblicken. Die Politik war sein Dämon. […] Ein Zauber ging von ihm aus, wie ihn nur die Fülle des Lebens hervorbringt. […] Den Politiker Mierendorff hat vielleicht niemand so abgründig entbehrt wie Leuschner selbst.“60

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