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Bad Ems bei Koblenz –
Gustav Kettel und Hein Herbers

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„Lill: Wir Illegalen sind eine leise Gemeinde im Land. Wir sind gekleidet wie alle, wir haben die Gebräuche aller, aber wir leben doppelt zwischen Verrat und Grab. Wir werfen keine Schatten, wir gehören der Zukunft, von der wir Wurzeln sind, vereinsamte Wurzeln der Zukunft.“

Günther Weisenborn, Die Illegalen74

Wer in der Provinz lebt und rebellisch ist, findet seinesgleichen schnell. Denn um in der Provinz zu überleben, braucht man gute Freunde, Gleichgesinnte. Wer aus der Reihe tanzt, hat dort womöglich nicht allzu viel Auswahl. Erst recht nicht, wenn Diktatur und Krieg drohen. Doch die politischen Köpfe, die sich hier finden, bleiben oft ein Leben lang zusammen.

Der beschauliche Kurort Bad Ems liegt an der Lahn, ein wenig abseits der Haupt-Eisenbahnstränge, auf denen sich die Kuriere der Konspiration bewegen. Das Städtchen wird auch nach dem Scheitern des Attentats auf Hitler nicht zum Rückzugsort für Illegale, die abtauchen müssen. Bad Ems ist in der Topografie des Leuschner-Netzes vor allem während der Vorgeschichte der verdeckten Organisation wichtig. Denn hier kreuzen sich mehr oder weniger zufällig die politbiografischen Linien wichtiger Akteure des zivilen Flügels der Umsturz-Strukturen. In Bad Ems und Umgebung entstanden während der Weimarer Republik – wie zuvor auch in Darmstadt – persönliche und politische Bindungen, die während der NS-Zeit unverbrüchlich blieben. Diese Bindungen setzten einen enormen Widerstandsgeist frei, von dem das Leuschner-Netz profitieren sollte.

Schlanke Gestalt, ovale Gesichtsform, blau-graue Augen, mittelblonde Haarfarbe. Keine unveränderlichen Kennzeichen. So wird Gustav Friedrich Kettel in einem amtlichen Dokument beschrieben, das kurz nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs ausgestellt wurde. Es befindet sich heute im Hessischen Staatsarchiv Darmstadt.75 Daraus geht hervor, dass Gustav Kettel am 12. März 1903 in Essen-Werden geboren wurde. Sein Familienstand ist ledig, zum Beruf wird vermerkt: „Jetziger Beruf: Kaufmann. Eventuell früherer Beruf: Maschinenbauer.“

Wenig später trägt Gustav Kettel selbst seinen wahren Beruf in einen Entnazifizierungsfragebogen der Alliierten ein: „Dreher. Betriebsratsvorsitzender des Blei- und Silberbergwerks Bad Ems.“ Dann schildert er stichwortartig sein berufliches Drama nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten: „Inhaftierung. Bis ca. 1936 arbeitslos, auf Reisen oder in Haft (politischer Haft). Seit 1936 bis heute selbstständiger Kaufmann in eigener Firma. Kein Militärdienst.“76 Den beruflichen Start als Dreher erlebte Gustav Kettel nicht in seiner Geburtsstadt Essen, in die er erst in der Zeit des Nationalsozialismus zurückkehrte, sondern in Bad Ems, unweit von Koblenz.

Seit Mitte der 1990er-Jahre beherbergt das ehemalige Steigerhaus einer stillgelegten Bleihütte in Bad Ems ein Bergbaumuseum.77 Die Website des Museums informiert über die Geschichte des Erzbergbaus in der Region. Man erfährt, dass dessen Blütezeit im 19. Jahrhundert lag und „wegen der Autarkiebestrebungen des Deutschen Reiches“ noch einmal im Zweiten Weltkrieg große Ausmaße annahm. In den Blei- und Silberbergwerken von Bad Ems wurden Kriegsgefangene eingesetzt. Auf der Homepage der „Arbeitsgemeinschaft Bahnen und Bergbau e.V. Bad Ems“ liest man allerdings nichts über den Mann, der in den 1920er-Jahren im Emser Blei- und Silber-Bergwerk Betriebsratsvorsitzender war: Gustav Kettel, später im Kontext des 20. Juli 1944 einer der wichtigsten rheinischen Kuriere des Leuschner-Netzwerkes. Doch ganz vergessen ist der mutige Gustav Kettel in Bad Ems nicht. Vor knapp 30 Jahren gab der Verein für Geschichte/Denkmal- und Landschaftspflege e.V. Bad Ems78 eine von Reinhold Lütgemeier-Davin verfasste, 48 Seiten starke Biografie mit dem Titel „Gustav Kettel. Pazifist-Sozialist-Widerstandskämpfer“ heraus. Ihr verdanken wir die Kenntnis darüber, dass Kettel bereits in den 1920er-Jahren auch außerhalb des Bergwerks politisch aktiv war. In Bad Ems gehörte er dem Vorstand des Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbundes und der örtlichen SPD an. Er kümmerte sich um die „Volksbücherei“ und gründete 1927 oder 1928 eine Ortsgruppe der Sozialistischen Arbeiterjugend, deren Leitung Kettel auch übernahm.79 Als Mitglied des Deutschen Metallarbeiterverbands hatte er sich außerdem während der Inflation – wahrscheinlich 1923 – an einer Zechenbesetzung beteiligt, die von der Polizei gewaltsam beendet wurde. Kettel erfuhr die durch die Inflation bedingte Armut als einen „die Persönlichkeit zerstörenden Zustand“. Diese Erfahrung politisierte ihn stark.80



Antrag von Kettel für die Ausstellung einer Kennkarte durch die Darmstädter Polizei

Kettels Ortsgruppe in Bad Ems stand in engem Kontakt mit einer anderen Gruppe im nahen Limburg an der Lahn, die von der Schaufensterdekorateurin Margot Nagelstock geleitet wurde. Ein Zeitzeuge beschrieb sie als „bildhübsche Jüdin mit Blondhaar und blauen Augen […] wie aus einem Nazibilderbuch“.81 Kettel half Margot Nagelstock später bei der Flucht nach Frankreich. Dazu nutzte er die Kontakte, die er ins Ruhrgebiet hatte. Eine Woche lang versteckte er die Jugendfreundin bei den Pazifisten Li und Wilhelm Gersdorff in Dortmund, bevor man sie über die Grenze nach Frankreich brachte. In der französischen Hauptstadt heiratete sie Siegfried Pfeffer, einen sozialistischen Genossen, und wurde bei Ausbruch des Zweiten Weltkriegs interniert. Nachdem die Gattin von US-Präsident Roosevelt sich eingeschaltet hatte, bekam sie im Mai 1941 eine Passage auf einem Frachtschiff nach New York.82 Pfeffer war bereits 1933 aus Sachsen nach Paris emigriert und arbeitete dort in der Exilleitung der kleinen Sozialistischen Arbeiterpartei (SAP), der zu dieser Zeit auch der spätere deutsche Bundeskanzler Willy Brandt angehörte. Brandt erwähnt Siegfried Pfeffer 1935 im Protokoll einer Sitzung der SAP-Exilleitung in Paris: „Es fehlte an Kräften. Nach der vollen Inanspruchnahme Sigis [Siegfried Pfeffer] mit der Administration der N[euen]F[ront] und nach der Verhaftung Kulis [Kurt Liebermann] war ich allein, und ich musste mich außerdem mit dem internationalen Jugendbüro beschäftigen. So musste unvermeidlich vieles vernachlässigt werden.“83

Ende der 1920er-Jahre begann für Gustav Kettel in Bad Ems eine Freundschaft, die prägend für sein weiteres Leben sein sollte. Denn seit April 1929 war Hein Herbers Lehrer in der Stadt an der Lahn und wurde noch im selben Jahr Beigeordneter der SPD im Magistrat sowie stellvertretender Bürgermeister.84 Der aus der Ruhrgebietsstadt Herne zugereiste Pädagoge unterrichtete an der Bad Emser Kaiser-Friedrich-Oberrealschule Deutsch und Geschichte, „aber auch Französisch, Erdkunde und Philosophie“.85 Herbers war begeistert von seinem neuen Lebensmittelpunkt: „Bad Ems ist wunderschön. Ein berühmter Kurort. Alles ist sauber und voll heller Bäume – welch ein Unterschied gegen Herne! […] Nur muss ich hier mehr arbeiten. […] Auch meine Partei, die sozialdemokratische, wird mich hier mehr noch als in Herne in Anspruch nehmen.“86

Herbers blickte bereits auf eine bewegte politische Vergangenheit zurück, als er nach Bad Ems kam. Am 2. März 1895 im münsterländischen Warendorf geboren, gehörte er während der Novemberrevolution 1918 zur sozialistischen Studentenbewegung in Münster. Ab Mitte der 20er-Jahre engagierte Herbers sich stark in der Deutschen Friedensgesellschaft. Dabei arbeitete er eng mit Fritz Küster zusammen, dem Begründer der pazifistischen Zeitung Das Andere Deutschland, für die namhafte Autoren wie Kurt Tucholsky oder Erich Kästner schrieben. Zusammen mit Kettel und Küster wirkte er später auch in der Vorbereitung des 20. Juli 1944 konspirativ mit.

Herbers „profilierte sich bald öffentlich als republikanischer Redner“, wenn er etwa auf schulischen Feiern und Sportfesten über die Bedeutung der Weimarer Verfassung sprach.87 Allein in Bad Ems gewann er 42 neue Mitglieder für die Deutsche Friedensgesellschaft (DFG); eines der Neumitglieder war Gustav Kettel.88 Bei Herbers’ Vortragsreisen im nahe gelegenen Westerwald fungierte Kettel, der in seiner Freizeit im Boxclub von Bad Ems aktiv war, als „Leibwächter“, „um ihn [Herbers] vor möglichen nationalsozialistischen Ausfällen abzuschirmen“.89 Kettel kümmerte sich um die Planung der Reisen und organisierte Lokale für die Veranstaltungen, zu denen unter anderem auch Fritz Küster als Redner eingeladen wurde.

Als Herbers im Frühjahr 1931 an ein Kasseler Gymnasium wechselte, leitete Kettel fortan auch die – zu dieser Zeit allerdings schon ziemlich marginalisierte – Bad Emser Ortsgruppe der Deutschen Friedensgesellschaft. In Frankfurt am Main nahm er 1932 an einem neunmonatigen Lehrgang der gewerkschaftsnahen Akademie der Arbeit teil, die sich als „Hochschule für den erwachsenen werktätigen Menschen“ verstand.90 Die Schließung der Akademie durch die Nationalsozialisten im Januar 1933 hinderte Kettel daran, dieses Weiterbildungsstudium abzuschließen. Zurück in Bad Ems, wurde er von den neuen örtlichen Machthabern zusammen mit anderen NS-Gegnern in einem Spott-Umzug durch die Straßen geführt. Sie mussten Transparente tragen mit Aufschriften wie „Wir sind die Antifaschisten von Bad Ems“.

Für das Leuschner-Widerstandsnetz arbeitete Kettel später vom Ruhrgebiet aus, wo er eine neue persönliche Perspektive suchte, nachdem er in Bad Ems vermutlich drei Wochen inhaftiert gewesen war und dort für sich keine Zukunft mehr sah. Seit 1934 hatte Kettel darüber hinaus eine wichtige persönliche Verbindung nach Frankfurt am Main – zu dem selbstständigen Kaufmann Josef Kudrnofsky, vor 1933 langjähriger Vorsitzender der Frankfurter Ortsgruppe der Deutschen Friedensgesellschaft. Über Kudrnofsky kannte Kettel auch den Neu-Isenburger Wilhelm Weinreich, später einer der Köpfe der Verschwörer gegen Hitler in der Kleinstadt südlich der Mainmetropole. Das konspirative Netz wurde weiter geknüpft und Kettel einer der Verbindungsleute der Neu-Isenburger Gruppe zu den Widerständlern in der Frankfurter Polizei um Christian Fries. Das beschauliche Bad Ems spielte in dieser Phase in der Topografie des Leuschner-Netzes keine Rolle mehr. Der ehemalige Bad Emser Betriebsrat Gustav Kettel war nun einer der wichtigsten Kuriere des zivilen Widerstandsflügels auf der Rheinschiene.

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