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Essen, Rolandstraße 24 –
Gustav Kettel alias „Camphausen“

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„Wenn du Papier anfaßt, tu es nur in Handschuhen. Wenn du eine eigene Schreibmaschine hast und Material tippen willst, hol dir eine fremde aus einem Verleihgeschäft.“

Günther Weisenborn, Die Illegalen104

Der Essener Hauptbahnhof teilt symbolisch die Stadt. Oder verbindet sie, je nach Sichtweise. Nördlich des Bahnhofs leben diejenigen, mit denen das Leben es nicht so gut meint. Im Essener Süden wohnen jene, denen es wirtschaftlich oft besser geht. Hier wird es zunehmend grüner, hier befinden sich in fußläufiger Entfernung die großen Kultureinrichtungen. Der Bahnhof ist die Grenze, hier vermischen sich die Milieus. In diesem Zwischenreich blühte die Konspiration.

Die Rolandstraße ist noch heute eine gute Adresse in Essen. Sie liegt nur ein paar hundert Meter südlich des Hauptbahnhofs im bürgerlichen Teil der Stadt. Heute blickt man von der Rolandstraße auf das Aalto-Theater, das Opernhaus der Revierstadt. Unmittelbar gegenüber begann die Geschichte der Firma „Kettel-Großküchen“. Auf der Website des Essener Unternehmens erscheint noch heute das Foto eines alten Schildes aus den Nachkriegsjahren: „Gustav Kettel G.m.b.H. Großkücheneinrichtungen“. Doch die Firmengeschichte beginnt auf der Homepage erst nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Dabei hatte die Firma ihre Wurzeln mehr als ein Jahrzehnt früher. Ruhrkonzerne wie Krupp oder Stinnes waren die Abnehmer ihrer Geschirrspülmaschinen und anderen Großküchengeräte. Aber auch nach Kattowitz und Breslau wurden ganze Küchenausstattungen geliefert.105


Der Essener Hauptbahnhof Ende der 1920er-Jahre

Die pure Not hatte Gustav Kettel 1934 zurück ins Revier getrieben, wo er am 12. März 1903 in Essen-Werden geboren worden war. Als bekannter Antifaschist hatte er nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten in Bad Ems keine Chance mehr gehabt, Arbeit zu finden. Kettel mietete in Essen für 15 Mark im Monat eine unbeheizte Mansarde und fristete seinen Lebensunterhalt als Vertreter für Versicherungen, später für Spülmittel und Gasgeräte. Im Jahr 1938 ließ er eine Firma in der Rolandstraße 24 handelsgerichtlich eintragen. Das Handelskontor in der Nähe des Essener Hauptbahnhofs war sehr hilfreich für das, was Kettel tat, wenn er gerade keine Industrieküchen einrichtete. Denn Gustav Kettel reiste viel im Land umher, um Kontakte zu Antifaschisten zu knüpfen. In den benachbarten Niederlanden traf er politische Freunde, die ins Exil gegangen waren. Bei einer Reise nach Sachsen wurde Kettel verhaftet und in einem Lager bei Dresden misshandelt. Nachdem es ihm gelungen war, aus dem Lager herauszukommen, plante Kettel eine Flucht in die Niederlande, doch holländische Grenzpolizisten hinderten ihn an der Einreise.

Nach einer Weile kehrte er ins Ruhrgebiet zurück, wo er sich einem pazifistisch-sozialistischen Widerstandskreis anschloss, der sich vor allem in Dortmund traf. Zu dieser Gruppe gehörte etwa Emil Figge, nach dem Krieg Leiter der Pädagogischen Hochschule Ruhr, die später in der heutigen TU Dortmund aufging. Oder der Sonderschullehrer Friedrich Kayser aus Schwerte an der Ruhr, der später als „Prokurist“ in Kettels Großküchen-Unternehmen arbeitete. Kayser nutzte diese Stellung, um konspirative Fäden zu katholischen Kulturpolitikern zu knüpfen oder mittels Kurierdienst über die niederländische Grenze hinweg republikanische Kämpfer im Spanischen Bürgerkrieg zu unterstützen.

Nach 1942 stieß Gustav Kettel über die Dortmunder Widerstandsgruppe zum Kreis um Wilhelm Leuschner und reiste fortan als Kurier für die Untergrundaktivitäten ständig zwischen dem Ruhrgebiet, Frankfurt am Main, Neu-Isenburg und Darmstadt hin und her. Seine Hauptaufgabe bestand darin, „die einzelnen Widerstandsgruppen zusammenzuschließen, um eine gewisse Schlagkraft zu erzielen“.106 Spätestens ab Frühjahr 1944 beschäftigte sich Kettel intensiv mit den Vorbereitungen auf den Tag des geplanten Hitler-Attentats. Über die Terminplanung war er gut informiert. Seit dem 12. Mai 1944 hielt er sich für den Staatsstreich bereit, während sein von der Wehrmacht ausgemusterter Bruder in seinem Auftrag weitere Reisen unternahm.107

Unmittelbar vor dem geplanten Attentat trafen sich die Revier-Verschwörer mehrmals in Dortmund und bei Kettel in Essen.108 Um die Basis für den Staatsstreich zu verbreitern, suchte man Kontakt zur Bekennenden Kirche, zum Erzbischof von Köln sowie zu Clemens August Graf von Galen, dem Bischof von Münster, der 1941 öffentlich die NS-Euthanasiemorde mit aufrüttelnden Worten angeprangert hatte:

„Jene unglücklichen Kranken […] müssen sterben, weil sie nach dem Urteil irgendeines Arztes, nach dem Gutachten irgendeiner Kommission lebensunwert geworden sind, weil sie nach diesen Gutachten zu den unproduktiven Volksgenossen gehören. […] Wenn man die unproduktiven Mitmenschen töten darf, dann wehe uns allen, wenn wir altersschwach werden!“109

Die Kontaktaufnahme zu Galen scheiterte letztlich an der starken Beschattung durch die Gestapo. Zum sogenannten „Kölner Kreis“ von katholischen Widerständlern unterhielt Wilhelm Leuschner allerdings über die christlichen Gewerkschafter Jakob Kaiser und Bernhard Letterhaus schon seit Jahren Verbindungen.110 Auch Carl Friedrich Goerdeler knüpfte weitere illegale Kontakte zu katholischen Politikern: „Und von katholischen Politikern zur Kirche ist es nicht weit. Und ohne kirchliche Politiker ging es nicht, weil eine Tyrannis nur durch Majoritäten und nie durch Minoritäten zu stürzen ist. Die Majoritäten aber besitzt man durch ihre Eliten. Die Massen selbst sind in allen Despotien passiv.“111

Ob die Massen im entscheidenden Moment jedoch dem Ruf ihrer Eliten folgen würden, war zweifelhaft, denn, so Henk: „Der Tod ist ein ernstes politisches Argument.“112 Der Katholik Letterhaus entging dem Tod nicht, denn er stand auf einer Ministerliste der Attentatsplaner, die den Nationalsozialisten in die Hände fiel. Er war als Minister für Wiederaufbau vorgesehen und wurde nach dem gescheiterten Attentat am 14. November 1944 in Berlin-Plötzensee hingerichtet. Über den „Kölner Kreis“ versuchten die Widerständler auch, den früheren Zentrumspolitiker und saarländischen Regierungsbeauftragten Bartholomäus Koßmann als Verantwortlichen für den Wehrkreis Wiesbaden zu gewinnen, der auch das Saarland umfasste.113 Der Leuschner-Kreis im Revier diskutierte unterdessen, wer Polizeipräsident in Bochum werden könnte. Kettel sollte nach einem geglückten Attentat die kommissarische Verwaltung des Regierungspräsidiums in Düsseldorf übernehmen.114

In der Topografie des Leuschner-Netzwerks sind das rheinischwestfälische Industriegebiet und der Rhein-Main-Neckar-Raum im Südwesten eng miteinander verknüpft. Republikanische Geschichte und radikaldemokratischer Geist, die sich in Kettels Entscheidung für den Decknamen „Camphausen“ widerspiegelten, sowie die Verkehrswege entlang des Rheins und biografische Prägungen der Protagonisten bildeten das Fundament einer funktionierenden Untergrund-Organisation.

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