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Bahnhöfe in Frankfurt am Main, Essen, Heidelberg –
Fries, Kettel und Henk

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„Der gute Nachbar: Werde der Unauffälligste. Wenn du jemand liebst, verlass ihn. Wenn du jemand traust, so hast du einen Fehler gemacht, vertraue nur uns in der Welt. Werde der Unauffälligste, der Jedermann, werde der Herr Niemand von überall. Werde kalt, still, bescheiden, du bist ein Pfennig in der Bewegung, bis sie dein Silber entdecken.“

Günther Weisenborn, Die Illegalen31

Bahnhofsviertel großer Städte verändern sich ständig. In Frankfurt am Main treffen sich heute die schick gekleideten Banker aus den nahe gelegenen Hochhaustürmen zur Mittagspause in den unzähligen Restaurants verschiedener Migrantengruppen. Gleich nebenan behaupten sich das Rotlicht-Milieu und die Drogenszene. In Essen ist der Bahnhof auf der einen Seite vom tosenden Verkehr auf dem Ruhrschnellweg begrenzt, während auf der anderen die alten Einkaufsstraßen in Zeiten des Online-Handels ums Überleben kämpfen müssen. In Heidelberg entwickelt sich zur Zeit der Entstehung dieses Buches direkt hinter dem Bahnhof ein ganz neues Viertel, die Bahnstadt. Am Vordereingang stapeln sich die Fahrräder der Studierenden, bevor man nach wenigen Metern in ruhigere Straßen mit alten Bürgerhäusern gelangt. Doch eines ist überall gleich: Bahnhöfe und ihr Umfeld sind Sammelpunkte für heterogene Gruppen, bieten billige Restaurants und Bars als Treffpunkte, dazu eine gewisse Anonymität in der Masse – heute, aber auch damals, als die Konspirateure unterwegs waren.

Der Medikamentenhersteller und Arzneimittelhändler Emil Henk bewegte sich so unauffällig im Raum, als folgte er den Empfehlungen des guten Nachbarn aus Weisenborns Stück. Henks Tarnung – ein „Pfennig in der Bewegung“ – blieb bis Kriegsende bestehen. Er war der perfekte „Herr Niemand von überall“. „Dass er die Folgen des gescheiterten Attentats vom 20. Juli überlebte, ist fast ein Wunder, war Henk doch als Landesverwalter für Baden vorgesehen. Mag sein, dass man ihn nicht aufspürte, weil er meistens unterwegs war“,32 so Fabian von Schlabrendorff, der als enger Vertrauter Stauffenbergs nach dem 20. Juli 1944 verhaftet und gefoltert wurde.

Dass Henk unentdeckt blieb, lag auch an der weit verzweigten Topografie des Leuschner-Widerstandsnetzes. Belebte Verkehrsknotenpunkte, vor allem die Bahnhöfe großer Städte, in deren Nähe Kneipen, Privatwohnungen oder Geschäftsräume lagen, dienten den Verschwörern als Treffpunkte. Gustav Kettel, einer der wichtigsten Kuriere der Untergrundorganisation, wählt bei seinen Reisen mit der Bahn den Decknamen „Camphausen“, zweifellos eine Hommage an Ludolf Camphausen, den rheinischen Liberalen aus dem Vormärz und Unternehmer, der das Projekt des sogenannten „Eisernen Rheins“ – den Bau einer Eisenbahnlinie von Köln nach Antwerpen – maßgeblich vorantrieb. Auch grenzübergreifend war Kettel für das Leuschner-Netz unterwegs. Der Bahnknotenpunkt Mainz sollte nach dem geglückten Attentat auf Hitler Ausgangspunkt für einen Eisenbahnerstreik werden, „einige Reichsbahn-Inspektoren hatten alle Vorbereitungen getroffen“.33 Auch die Bahnwaggons selbst waren Schauplätze konspirativer Treffen. So erinnert sich Ernst Müller, ein Dortmunder Mitglied des Netzwerks, an ein Gespräch mit Wilhelm Leuschner im Nachtzug zwischen Hagen und Kreiensen.34 Doch so sehr Menschenmassen in Zügen und auf Bahnhöfen Schutz boten: Die Stationen wurden überwacht. Und wer viel reiste, musste gute Gründe angeben können, insbesondere, wenn man den NS-Behörden bereits als Oppositioneller bekannt war.


Max Beckmanns Gemälde „Frankfurter Hauptbahnhof“ entstand 1942 im Exil in Amsterdam, zehn Jahre nachdem Beckmann die Stadt verlassen hatte.

In mehreren Großstädten entlang der Rheinschiene befanden sich über lange Jahre Treffpunkte und Anlaufstellen des Netzwerkes nur wenige hundert Meter vom jeweiligen Bahnhof entfernt. Emil Henks Wohnung lag in der ruhigen Kaiserstraße (Hausnummer 33, das Haus existiert heute noch) unweit des Heidelberger Hauptbahnhofs. Auch das Essener Kontor des Großküchenverkäufers Gustav Kettel, in dem sich Angehörige des Widerstandsnetzes trafen, befand sich in der Nähe des Hauptbahnhofs in der Rolandstraße 24. Ein Großküchen-Geschäft „Kettel“ existiert heute noch in Essen, allerdings liegt es nicht mehr in unmittelbarer Nachbarschaft des Hauptbahnhofs.

Im Falle Leuschners war der Weg von der Fabrik für Zapfanlagen in Berlin-Kreuzberg zu gleich mehreren Bahnhöfen ebenfalls nicht weit. In Frankfurt am Main war das Bahnhofsviertel ein Hauptaktionsraum der örtlichen Gruppe des Netzes um den Kripo-Beamten Christian Fries. Dort gab es mindestens zwei konspirative Treffpunkte: das Hotel mit Restauration Zimmermann und ein Wettbüro. Das Hotel wurde Anfang 1944 zerstört.

Die Kaufleute nutzten ihren Bewegungsspielraum für enge Kontakte. Dabei kam der dringende gesellschaftliche Bedarf an Lebensmitteln und dazugehöriger Technik den Untergrundaktivitäten entgegen. Auch wenn die Nationalsozialisten den Händlern aufgrund ihrer politischen Vorgeschichte misstrauten – ihre Betriebe waren zu wichtig für die Kriegswirtschaft, als dass man auf ihre Dienste hätte verzichten können. Es galt, die Versorgung der Bevölkerung mit Nahrung und Dingen des alltäglichen Bedarfs sicherzustellen. Zu Letzteren gehörten auch Reinigungsgeräte, die ein weiterer Widerständler, Ernst Volkmann, erfolgreich von Bochum aus vertrieb. Der Dortmunder Mitverschwörer Müller handelte mit Unterrichtsmitteln für Schulen, später verkaufte er Särge.35

Die Handlungsreisenden organisierten den illegalen Widerstand parallel zu ihren legalen Geschäften – und passten ihr Netzwerk der Mobilität der Akteure an. Dass die zivile Verschwörung des 20. Juli 1944 im Vergleich zu ihrem militärischen Pendant besser funktionierte und viele ihrer Beteiligten nach dem Scheitern des Attentats unentdeckt blieben, lag auch daran, dass sie oft schlecht auffindbar waren: immer unterwegs, nicht dort anzutreffen, wo man sie suchte, abgetaucht, wenn nötig – um dann neu aufzutauchen. Man arbeitete nicht ad hoc zusammen, sondern langfristig und mit dem Ziel eines staatlichen Neuaufbaus. An dem nötigen Selbstbewusstsein mangelte es den zivilen Akteuren des Leuschner-Netzwerks nicht, wie eine Äußerung von Emil Henk belegt: „Militärs sind schlechte Konspiratoren. Es gehört zu ihrem Beruf. Es wird sich immer wieder zeigen: sie verstehen etwas vom Krieg. Vom Staat, von einer Revolution verstehen sie nichts.“36

Zur urbanen Topologie des Leuschner-Netzes am Rhein gehörte auch ein Umland. Kleine Verstecke des Netzwerks lagen oft außerhalb der Städte und waren teils ausgesprochen schwer zugänglich. So nutzten die zivilen Verschwörer einen Bauernhof in der Eifel, einen Privat-Unterschlupf in einem kleinen Weindorf bei Mainz, ein unauffälliges Wohnhaus am Stadtrand von Bochum oder ein Erdloch auf einem Klosterareal an der Hessischen Bergstraße als Rückzugsorte.

Die Peripherie oder auch Grünzonen – Angehörige des Netzwerks wichen beispielsweise in die Wälder südlich von Frankfurt am Main aus, um dort bei langen Spaziergängen das Notwendige zu besprechen – wurden in dem Moment wichtig, wo der Verfolgungsdruck in der Stadt sich erhöhte. Sowohl Gustav Kettel als auch Christian Fries tauchten nach dem Scheitern des Attentats vom 20. Juli 1944 zeitweilig im Frankfurter Umland unter.

Darüber hinaus bewegten sich die Mitglieder des Netzes auch im benachbarten Ausland. Ohne sich damit aus den Widerstandsstrukturen zurückzuziehen, hielten sie sich etwa in der Schweiz oder in den Niederlanden auf. Der Bochumer Widerständler Josef „Jupp“ Kappius reiste 1940 nach Großbritannien aus und kehrte später auf ungewöhnlichem Wege nach Deutschland zurück: Er sprang über dem Emsland aus einem britischen Flugzeug mit dem Fallschirm ab und begab sich ins Ruhrgebiet. Seine Frau Änne Kappius agierte von der Schweiz aus und riskierte ihr Leben als Kurierin. Sie war mit der Eisenbahn zwischen dem Genfer See und dem Ruhrgebiet unterwegs.

Ein pressefotografischer Zufall zeigt uns übrigens einen Bahnhof auch als Ort, an dem einer der nach dem Krieg noch zeitweilig inhaftierten Verschwörer, Christian Fries, nachdem die Gefahr vorüber war, seine Rehabilitierung genoss. Es ist ein Sonntagmorgen im Sommer 1949: Prominenter Besuch aus den USA, Thomas und Katja Mann, steigt um 8.50 Uhr am Frankfurter Hauptbahnhof aus dem Schlafwagen des Basel-Hamburg-Express. Eine Gruppe Kriminalbeamter ist vor Ort, um die Sicherheit des Paars zu gewährleisten, unter ihnen Frankfurts neuer Kripo-Chef Christian Fries. Ob das Foto auch ihn zeigt, ist allerdings nicht eindeutig belegbar. Später bewachen die Beamten das Paar auch in einem Gästehaus der Stadt Frankfurt am Main im Taunus und in der Frankfurter Paulskirche. Dort erhält Thomas Mann zur Feier des Geburtstags von Johann Wolfgang von Goethe am 28. August den Goethepreis der Stadt. Fries gibt sich an diesen Tagen keineswegs reserviert. Vielmehr lässt er sich von einem Reporter des Spiegel einen Tag lang begleiten und bei seiner Tätigkeit als Landesbeamter in der neuen Bundesrepublik über die Schulter schauen. Glaubt man dem Zeitungsreporter, so fand Fries durchaus Gefallen an seiner Rolle als Leibwächter: „Niemand konnte feststellen, ob Fries seine Augen überall oder nirgends hatte, er hatte sie nämlich durch eine blaue Sonnenbrille raffiniert getarnt. Aus der Gästehausküche erreichte ihn ab und an ein kühles Helles.“37

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