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Frankfurt am Main, Moselstraße 18 –
Gustav Weigel

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„Spatz: Ich habe Angst, Angst – Bulle (winkt hinaus): Komm, wir müssen weiter. Wir haben noch 21 Blätter anzukleben, und bald kommt der Mond über Plötzensee rauf.“

Günther Weisenborn, Die Illegalen115

Viele kleine Ladenlokale nebeneinander. Schuhe kann man hier reparieren lassen, mittags eine Kleinigkeit essen, ein klassischer Schreibwarenladen an der Ecke bietet sogar noch Dinge aus dem vor-digitalen Zeitalter an. Im Asia-Imbiss war früher ein Wettbüro. Aber gewettet werden kann dennoch überall, die alten Ladenlokale weisen nun in die Welt des Internet-Spiels. Das bunte Treiben der Händler und Dienstleister bietet auch Schutz vor dem wachen Auge des Staates.

Das Quartier östlich des Frankfurter Hauptbahnhofs war immer schon ein belebtes und zum Teil unübersichtliches Areal. Das Rotlichtmilieu, Einzelhändler und Restaurants mit internationaler Küche prägen heute ebenso das Bild wie Hinterhofmoscheen oder Büromenschen, die ihre Mittagspause in hippen Restaurants verbringen. In der NS-Zeit gab es neben dem Hotelrestaurant „Zimmermann“ noch einen zweiten Ort in diesem Viertel, der für die Fries-Gruppe des Leuschner-Widerstandsnetzes wichtig war: die Moselstraße. In den Kriegsjahren befand sich im Haus Nummer 18 ein Wettbüro. Betrieben wurde es von einem Mann, dessen Name sich ebenfalls auf der Liste der Mitverschwörer des 20. Juli 1944 befindet, die Christian Fries nach Kriegsende anfertigt: „Gustav Weigel, wohnhaft Frankfurt/M, Textorstraße 17“.116

Weigels Wettbüro war ein idealer Treffpunkt für die Mitglieder der Fries-Gruppe und ihre Kuriere, ein „Ort, an dem immer Leute aus- und eingingen und der beim unauffälligen Informationsaustausch nützlich war“.117 „Der Weigel war eine zentrale Figur“, erinnert sich Irene Fengler, die als junges Mädchen während des Krieges teilweise die Gespräche ihrer Eltern mit dem Ehepaar Weigel mithören konnte. Gustav Weigel sei sehr vermögend und „prominent“ in Frankfurt am Main gewesen, einer der Mäzene des Opernhauses, ihre Mutter habe des Öfteren von ihm Opernkarten zugesteckt bekommen.118 Die beiden Ehepaare waren auch privat miteinander befreundet, und diese Freundschaft hatte eine dramatische Vorgeschichte. Der „staatlich konzessionierte Buchmacher“ Gustav Weigel war ein Mann, der auch während der NS-Zeit in den Cafés des Bahnhofsviertels bisweilen kein Blatt vor dem Mund nahm. Zwar trat Weigel, der zuvor SPD-Mitglied war, 1933 in die NSDAP ein, weil er sonst sein Wettbüro wohl nicht hätte weiterbetreiben können, was ihn jedoch nicht daran hinderte, in Gesprächen mit Kollegen seine regimekritische Haltung laut kundzutun. Und 1934 zeigten zwei andere Buchmacher ihn bei der Gestapo an. Weigel hatte Glück im Unglück. Die Anzeige landete auf dem Schreibtisch des Gestapobeamten Gottholf Fengler. „Fengler erreichte dann, dass mein Fall, der bereits der Staatsanwaltschaft vorlag, nach Ablauf eines Jahres niedergeschlagen wurde“, gibt Weigel nach dem Krieg zu Protokoll.119

Es war der Beginn einer großen, wagemutigen Freundschaft, der zahlreiche Frankfurter Juden ihr Leben verdankten. Weigel war nach eigener Aussage „mit vielen jüdischen Familien eng befreundet, welchen ich, während der Naziterror gegen sie wütete, oft unter eigener Gefahr tatkräftige Hilfe leistete, indem ich sie, die zum Verhungern verurteilt waren, vor allem laufend mit Lebensmitteln versorgte“.120

Karl Herxheimer, ein greiser Medizinprofessor – einst Mitbegründer der Frankfurter Universität und „eine der herausragenden Gestalten in der Gründungsphase der deutschen Dermatologie“121 – war ein besonderer Schützling Weigels. An einer spektakulären Aktion, die der Buchmacher schließlich zur Rettung Herxheimers initiierte, waren auch die Polizisten Fries und Fengler beteiligt. Die drei versuchten 1942, Herxheimer mit gefälschten Pässen, die Fengler besorgt hatte, über die Grenze in die neutrale Schweiz zu bringen.122 Fries „entnahm und vernichtete damals in der Fahndungsdatei der Kriminalpolizei“ Pass-Sperrvermerke der Gestapo für die jüdischen Frankfurter Geheimrat Herxheimer und Frau Rosenthal. Nach dem Krieg schildert Weigel einer Entnazifizierungs-Spruchkammer die gewagte Fluchthilfe-Aktion:

„Mitbeteiligt an diesem Plan waren Frau Gertrud Ehrhardt und deren Gatte, Frankfurt am Main, Arndtstr. 51, sowie der schon erwähnte Gestapobeamte Fengler, auf den ich in der Zwischenzeit großen Einfluss gewonnen hatte. Derselbe sollte Herrn Geheimrat und dessen Hausdame Frau Rosenthal zum Schein verhaften und dann im Kraftwagen von hier wegbringen. Der Transport wäre durch den Gestapo-Dienstausweis gedeckt gewesen. Auf Schweizer Boden wartete an verabredeter Stelle im Kraftwagen Herr Prof. Blum, der Vetter von Frau Ehrhardt. Durch eine Ungeschicklichkeit der Hausdame, Frau Rosenthal, wurde der Plan vereitelt. Dieselbe hat einen Teil der von mir besorgten Lebensmittel an ihren Bruder nach Berlin geschickt. Das Paket war abgefangen worden, Frau Rosenthal wurde sofort verhaftet und einige Tage darauf mit Herrn Geh. Rat nach Theresienstadt abtransportiert. In diesen Tagen erwartete ich auch ständig meine Verhaftung.“123

Doch Weigel wurde im Spätsommer 1942 nicht verhaftet. Frau Rosenthal verriet bei der Gestapo keine Namen. Im Rahmen der Fluchtvorbereitungen für Herxheimer dachte die Frankfurter Widerstandsgruppe um Fries, Fengler und Weigel darüber nach, wie man die von der Gestapo bedrohten Juden der Stadt noch effizienter schützen könnte, wie man an Geheimakten herankommen könnte und an Informationen über „SS- und Parteizugehörigkeit der Beamten“. Erwogen wurde die Parteimitgliedschaft eines engen Fries-Vertrauten, des Kriminalbeamten Johann Gorius, „um als getarntes NSDAP-Mitglied gegen die NSDAP zu arbeiten“.124 Fengler stellte am 12. März 1942 einen Antrag zur Aufnahme in die Waffen-SS. Auch Weigel streckte seine Fühler in Richtung SS aus:

„Im Interesse meiner jüdischen Freunde ließ ich mich später auf Anraten eines Vetters von mir, welcher Bekannte in SS-Kreisen hatte, als förderndes Mitglied der SS aufnehmen, da ich hoffte, durch näheren Kontakt mit diesen Kreisen von etwaigen geplanten Aktionen gegen Juden rechtzeitig Kenntnis zu erhalten, um meine Freunde zeitig genug warnen zu können, was mir auch später in mehreren Fällen gelang.“125

Nicht jedoch im Fall von Herxheimer, obwohl dieser schon kurz nach der NS-Machtübernahme Weigel nahegelegt hatte, sich zum Schein auf eine NSDAP-Mitgliedschaft einzulassen. Das bestätigt Herxheimers Großnichte Lene Ullmann am 2. August 1945 in einem Brief an Weigel im Entnazifizierungsverfahren. Sie wisse, dass Herxheimer ihn „aus reinen Utilitätsgründen dazu aufgefordert hat, der Partei beizutreten, zumal damals, als Sie sich durch ihre allzu offenen Äußerungen über Hitler schwer gefährdet sahen und bereits angezeigt waren“. Gerade Weigels NSDAP-Mitgliedschaft habe ihm ermöglicht, „viel ungehinderter für ihre Freunde einzutreten“ und etwa auch bei dem Versuch zu helfen, später ihren eigenen Mann aus Buchenwald zu befreien. Und Weigel habe etwas getan, wozu den meisten Deutschen wohl der Mut gefehlt habe, nämlich während der NS-Zeit Juden, die mit dem gelben Stern gekennzeichnet waren, demonstrativ im öffentlichen Raum per Handschlag zu begrüßen. Ullmanns Aussage im Entnazifizierungsverfahren gegen den inzwischen nach einem Schlaganfall gelähmten Gustav Weigel reicht nicht ganz. Die aus dem Regierungsrat Paul Kirchhof und seinen Beisitzern Anton Hauer (CDU) und Valentin Sieling (SPD) zusammengesetzte Spruchkammer verurteilt Weigel am 6. Januar 1947 als „Mitläufer der Gruppe 4“ zu einer Sühne von 500 Mark für den Wiedergutmachungsfond. Ein formaler Akt. Gleichzeitig eine himmelschreiende Ungerechtigkeit.

Unter denjenigen, die das Ladenlokal des Buchmachers Gustav Weigel ansteuerten, war höchstwahrscheinlich auch Gustav Kettel. Seit Frühjahr 1942 pendelte Kettel regelmäßig zwischen dem Ruhrgebiet und dem Rhein-Main-Raum, um die Kommunikation der Widerstandszellen aufrechtzuerhalten. Und ab Herbst 1942 pflegte er den Kontakt zu oppositionellen Kreisen in den Niederlanden.

Wegen ihrer pazifistischen Grundhaltung tat sich Kettels politische Bezugsgruppe vor allem im östlichen Ruhrgebiet zunächst schwer, mit den Militärs um Stauffenberg zusammenzuarbeiten. Auch erkannte man klar „die konservative Grundstimmung des militärischen Widerstands“.126 Und einige Freunde Kettels lehnten „eine Kooperation mit den ehemaligen antipazifistischen Scharfmachern Goerdeler und Beck rigoros ab“.127

Gustav Kettel hingegen entschied sich, die geplante Erhebung der Offiziere aktiv zu unterstützen. Dass auch dem Militär grundsätzlich kritisch gegenüberstehende politische Freigeister wie Kettel den Aufstand mittrugen, dürfte Stauffenberg nur recht gewesen sein, der keinen gewöhnlichen Militärputsch wollte.128 Vielmehr sollte die Militärdiktatur nur einige Tage dauern. „Stauffenberg zeigte sich beeindruckt von der Haltung der SPD im Reichstag im März 1933. In der Republik sei eine Chance versäumt worden. Deshalb suche er das Gespräch mit Gewerkschaftsführern wie Sozialisten. Peter Graf Yorck vermittelte im Herbst 1943 Stauffenbergs Verbindung mit Julius Leber.“129

Während in Berlin der militärische und der sozialdemokratische Flügel der Verschwörung des 20. Juli 1944 enger zusammenrückten, trafen sich in einem Waldgebiet südlich von Frankfurt am Main regelmäßig Angehörige des politischen Untergrunds. Das Gasthaus „Oberschweinstiege“, mitten im Wald zwischen Frankfurt-Sachsenhausen und Neu-Isenburg gelegen, war schon damals ein beliebter Ausflugsort für die Frankfurter.

Auch mit Karl Herxheimer trafen sich die Fluchthelfer um Weigel, Fengler und Fries im „Oberschweinstiege“ und erörterten auf Waldspaziergängen den Fluchtplan.130 Nachdem das Attentat am 20. Juli 1944 gescheitert war, begab sich ein Teil des Frankfurter Leuschner-Netzwerks abermals in den Grüngürtel südlich von Frankfurt. Doch diesmal endete ihr Spaziergang nicht an dem besagten Gasthaus, sondern ein paar Kilometer weiter südlich in Neu-Isenburg. Dort fanden einige Illegale einen Rückzugsraum, während die Gestapo in Berlin, Frankfurt am Main und anderswo zuschlug. Der Frankfurter Grüngürtel war in gewisser Weise der „Gegenort“ zum belebten Bahnhofsviertel mit den konspirativen Treffpunkten an öffentlichen Orten. Die stadtnahen Wälder spielten eine wichtige Rolle in der Topografie des Leuschner-Netzes gerade im Rhein-Main-Raum, an einem Knotenpunkt des Widerstands im Westen. Und die Frankfurter Gruppe des Leuschner-Widerstandsnetzes beherrschte die Pendelbewegung zwischen urbanem Raum und peripheren Arealen über Jahre perfekt.

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