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Darmstadt, Künstlerkolonie Mathildenhöhe –
Wilhelm Leuschner

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„Sie werden dich warnen.

Du wirst erschrecken und eine Minute stillstehen.“

Günther Weisenborn, Die Illegalen61

Es ist ein kleines Wunder der Moderne. Eine politisch recht unbedeutende Residenzstadt ein paar Kilometer südlich von Frankfurt am Main wird Ende des 19. Jahrhunderts zu einer europäischen Hauptstadt der Form-Veränderung. Weil ein aufgeklärter Fürst es will und die modernsten Köpfe seiner Zeit nach Darmstadt lockt. Die Arbeiter, die für die Umsetzung dieser Design-Utopie gebraucht werden, sind keine Industriearbeiter. Es sind Kunsthandwerker, Meister eines neuen Stils. Später werden sie diese Kreativität in den Dienst der Konspiration stellen.

In der Topografie des zivilen Widerstandsnetzes im Umfeld des 20. Juli 1944 spielt die ehemalige hessische Landeshauptstadt Darmstadt eine besondere Rolle. Hier hatte der Sozialdemokrat Wilhelm Leuschner als früherer hessischer Innenminister seine wichtigsten politbiografischen Wurzeln. In Darmstadt und Umgebung kannte er seit Jahrzehnten Leute, auf die im Moment des Umsturzes Verlass war und die zentrale Aufgaben in seiner Geheimorganisation übernehmen konnten. Darmstadt war geistig wie praktisch-organisatorisch einer der Knotenpunkte des Leuschner-Widerstandsnetzes. „Hat die Liberalität in jedem Sinn, die geistige, politische und wirtschaftliche, die seit zwei Jahrzehnten damals in Darmstadt und von Darmstadt aus herrschte, den aufstrebenden Arbeitersohn angezogen?“, fragte Eugen Kogon in seinem politischen Porträt, das er in 1970er-Jahren Wilhelm Leuschner widmete.62 Leuschner, der am 15. Juni 1890 in Bayreuth geborene Sohn eines Ofensetzers, wurde in Franken zum Holzbildhauer ausgebildet. Anschließend studierte er mit Bestnoten die Fächer Freihandzeichnen, Ornament- und Pflanzenmodellieren, Stillehre oder auch „Geschichte der technischen Künste“ an der Nürnberger Akademie der Bildenden Künste.


Gruppenaufnahme mit Darmstädter Bildhauerkollegen in der Werkstatt, Wilhelm Leuschner stehend 1. v.r. Datierung 1908

Absolventen wie Wilhelm Leuschner konnte der Darmstädter Möbelfabrikant Julius Glückert gut gebrauchen. Denn in der liberal gesinnten südhessischen Residenzstadt nahm um 1900 ein aufregendes ästhetisches Experiment Gestalt an, das Glückert unterstützte: die Künstlerkolonie Mathildenhöhe. Hier sollte eine neue Architektur- und Designbewegung beginnen, die auf ganz Europa ausstrahlte. Der Jugendstil verlor seine idyllische und folkloristische Seite, die Darmstädter Architektur und das Industrie-Design wurden zum Vorläufer des Bauhauses. In Glückerts Fabrik wurden die Möbel hergestellt, die auf der Mathildenhöhe entworfen wurden.

Julius Glückert arbeitete eng mit den ersten Kreativen der Darmstädter Mathildenhöhe zusammen und erwarb gleich zwei Häuser in der Künstlerkolonie. Joseph Maria Olbrich, der von Wien nach Darmstadt kam, verkaufte dem Industriellen zwei von ihm konzipierte Gebäude. In einem der beiden Olbrich-Häuser wurden die Design-Produkte ausgestellt, an denen wenig später auch Wilhelm Leuschner arbeitete. Nicht zuletzt durch das Engagement Glückerts und seiner Arbeiter entwickelte sich die Mathildenhöhe zu einem Ausgangspunkt des modernen Industriedesigns. Bis heute ist die Künstlersiedlung augenfälliger Ausdruck dessen, was Eugen Kogon meinte, als er von Darmstadt um 1900 sprach: „Das Großherzogtum Hessen, konstitutionelle Monarchie, [war] unter der Führung des Großherzogs Ernst Ludwig (…) der fortschrittlichste Bundesstaat des Deutschen Reiches.“63

Auch Carlo Mierendorff, später einer der wichtigsten Vertrauten Leuschners, wurde durch den offenen Geist der kleinen Residenzstadt gut 30 Kilometer südlich von Frankfurt am Main stark geprägt. Darmstadt stand im Ruf eines intellektuellen Zentrums und galt als Hort kritischer Geister. Beispielhaft dafür ist die anarchistische Vormärz-Satire Datterich von Ernst Elias Niebergall, bis heute ein identitätsstiftendes Bühnenstück für Darmstadt und Umgebung.

Leuschner und Mierendorff kannten sich wohl noch nicht, als sich vor dem Ersten Weltkrieg in Darmstadt ein Kreis bildete, der im Kern – nämlich in Gestalt der Freundschaft Mierendoffs mit Theodor Haubach, die in der Dachstube der Hoffmannstraße 19 entstand – bis zum Kreisauer Kreis und zu den Vorbereitungen des 20. Juli 1944 Bestand haben sollte. Mierendorff, der einem „aktivistischen Idealismus“ anhing, sah seine Aufgabe darin, Menschen zu revolutionieren und für eine Einheit von Politik und Literatur zu kämpfen. Die von ihm herausgegebene Zeitschrift Das Tribunal stand programmatisch in der Tradition von Georg Büchners Hessischem Landboten.64

Zur gleichen Zeit, als seine späteren Mitverschwörer in der Darmstädter Dachstube ihre ersten literarischen Fingerübungen machten, trat Wilhelm Leuschner am 5. April 1913 als 23-Jähriger in die SPD ein.65 Etwas mehr als ein Jahr später begann der Erste Weltkrieg. Ein Foto zeigt Leuschner in Uniform. Er trägt einen Schnurrbart, und sein Haar verschwindet komplett unter einer Soldatenmütze. Er wurde 1916 zu einem Schallmesstrupp der Artillerie eingezogen und musste bis Kriegsende dienen.66 Die Schikanen und Willkür der Vorgesetzten sowie das Leid, das er in Russland und Frankreich erlebte, dämpften von Anfang an seine Kriegsbegeisterung. Am 25. Mai 1917 notierte er in seinem Kriegstagebuch: „Jeder ist froh, wenn der Schwindel ein Ende hat, ganz gleich, auf welche Art.“ Unmittelbar nach dem Waffenstillstand am 12. November 1918 wurde Leuschner von seinen Kameraden zum Vorsitzenden des Arbeiter- und Soldatenrates der Einheit gewählt. In dieser Funktion führte er die Truppe in die Heimat zurück.67

Der Sozialdemokrat Leuschner engagierte sich unmittelbar nach Kriegsende nicht nur in Gewerkschaft und Partei, sondern nahm sich auch immer wieder Zeit für die Künstler, die in Darmstadt lebten oder auf der Durchreise dort Station machten. So schaffte er es, den indischen Literaturnobelpreisträger Rabindranath Tagore bei dessen Darmstadt-Besuch 1921 dazu zu bewegen, im Garten des Gewerkschaftshauses zu den dort versammelten Arbeitern zu sprechen. Schriftsteller wie Kasimir Edschmid und Carl Zuckmayer zählten ebenso zu Leuschners Freunden wie der Generalintendant des Darmstädter Landestheaters Gustav Hartung und vor allem Theodor Haubach. Leuschner gehört zu den Mitbegründern der Darmstädter Volkshochschule, als Abgeordneter und Vizepräsident des hessischen Landtags bis 1928 war er einer der Initiatoren des Theaterausschusses des Parlaments.

Im Februar 1928 wurde Leuschner Innenminister des „Volksstaates Hessen“ in einer Koalition aus SPD, Zentrum und Deutscher Demokratischer Partei (DDP). Seine Amtszeit lässt sich in zwei Abschnitte gliedern, einen ersten bis zum Herbst 1931, in dem er einige bemerkenswerte gesetzgeberische Initiativen auf den Weg brachte, und einen zweiten bis April 1933, der im Zeichen eines immer zeitraubender und auswegloser werden Kampfes gegen die extremistischen Gegner der Weimarer Demokratie stand.68 Als Mitarbeiter holte Leuschner sich zwei demokratische Sozialisten aus bürgerlichem Hause, den rheinhessischen Regierungsrat Ludwig Schwamb, den er zu seinem persönlichen Referenten machte, und den 32 Jahre alten politischen Publizisten Carlo Mierendorff als Leiter der Presseabteilung. Schwamb schlug eine umfassende Reform der hessischen Städte- und Gemeindeordnung vor, um das Rhein-Main-Gebiet den neuzeitlichen technischen und wirtschaftlichen Erfordernissen anzupassen. Zu seinen Plänen gehörten eine Autobahn durch Hessen von Hamburg bis Basel und der Bau eines Luftschiffhafens im nebelfreien Darmstadt-Griesheim für den Südamerika-Zeppelinverkehr. Die Autobahn gibt es bekanntlich noch heute, die „Luftschifffahrt“ findet ein paar Kilometer weiter nördlich auf dem Frankfurter Rhein-Main-Airport statt.

Der zweite Abschnitt der Regierungsarbeit Leuschners bis April 1933 sowie sein Schicksal in der NS-Zeit sind mehrfach beschrieben worden.69 Leuschner machte sich zu Kriegsbeginn keine Illusionen, wie schwer es werden würde, Hitler zu Fall zu bringen. Am 20. August 1939 schrieb er an einen Freund im Ausland:

„Frankreich und England haben erst begonnen, sich auf den Krieg vorzubereiten. Sage unseren dortigen Freunden, besonders Walter Citrine [damals Generalsekretär des britischen Gewerkschaftsbundes], dass wir sind, was wir waren. Aber wir sind gänzlich unfähig, die Katastrophe zu verhindern. Wir sind Gefangene in einem großen Zuchthaus. Zu rebellieren, wäre genauso Selbstmord, als wenn Gefangene sich gegen ihre schwerbewaffneten Aufseher erheben würden.“70

Leuschner wusste, dass er für einen erfolgreichen Aufstand die Militärs brauchte. Bereits in den ersten Kriegsjahren knüpfte er daher Kontakte zu konservativen Oppositionskräften um den ehemaligen Generaloberst Ludwig Beck und den früheren Oberbürgermeister von Leipzig, Carl Friedrich Goerdeler. Allerdings schätzte er die Erfolgsaussichten nüchtern ein:

„Keine dieser Gruppen freilich hatte zu dieser Zeit Zugang zur Macht. […] Die Art der Planung, das heißt eines militärisch vorbereiteten Vorgehens, das viele Nichtwisser zu Mitverschwörern gemacht hätte, brachte es mit sich, dass in breiter Front kaum etwas vorbereitet werden konnte. Es ist die Tragödie des deutschen Widerstands, dass er in der Zeit, in der ein Erfolg möglich gewesen wäre, nicht den Zugang zum innersten Machtzentrum fand.“71

Wilhelm Leuschner gab nicht auf. Er dachte bereits über das Kriegsende hinaus. Sammelte Leute, die nach dem Sieg der Alliierten in entscheidenden Positionen das Land wieder aufbauen könnten. Arbeitete an der Erweiterung der noch vorhandenen Widerstandsstrukturen. All das blieb den Westalliierten nicht verborgen. Anfang Februar 1943 wurden in den USA bereits die Namen wichtiger „Breakers“, zum Umsturz bereiter Regimegegner, bekannt. Zu ihnen gehörten Generalmajor Hans Oster, der schon an der Septemberverschwörung des Jahres 1938 beteiligt gewesen war, 1943 aber wegen eines angeblichen Devisenvergehens eines seiner Mitarbeiter zunächst vom Dienst suspendiert und am 31. März 1944 aus der Wehrmacht entlassen worden war, sodann Goerdeler, der als „fähiger Organisator“ galt, sowie der „Sozialistenführer Leuschner“.72 Wenn allerdings schon Washington um die herausragende Rolle Leuschners im Widerstand wusste, dann waren aller Wahrscheinlichkeit nach auch die Nationalsozialisten längst im Bilde. Dennoch war der „Sozialistenführer“ nicht in jedes Detail eingeweiht, das Stauffenberg und seine engsten Vertrauten planten. Von dem Coup der Militärs, mit dem er erst zehn bis 14 Tage später rechnete, wurde er offenbar überrascht. Anders ist nicht zu erklären, dass er am Morgen des Attentats noch einen Eingriff beim Augenarzt vornehmen ließ.

Nach dem gescheiterten Attentat tauchte Leuschner Anfang August 1944 unter, wurde aber am 16. August gefasst. Seine Frau Elisabeth war bereits am 4. August verhaftet und verhört worden, erst Anfang Oktober wurde sie wieder auf freien Fuß gesetzt. Wenige Tage vor ihrer Entlassung, am 29. September, wurde Wilhelm Leuschner hingerichtet. Noch kurz vor dem 20. Juli sei Leuschner wieder in seine langjährige Heimatstadt Darmstadt zurückgekommen, berichtete nach dem Krieg der südhessische Sozialdemokrat Ludwig Metzger. Leuschner habe ihn und „Dr. Bergsträsser, den späteren Regierungspräsidenten von Darmstadt gefragt, ob wir bereit seien, uns im Falle eines Umsturzes zur Verfügung zu stellen. Er hat auch mit anderen gesprochen. Trotz Folter hat er nach seiner Verhaftung keinen seiner Vertrauten den Nazis preisgegeben.“73

Darmstadt blieb für Wilhelm Leuschner also bis zuletzt ein Knotenpunkt seines konspirativen Netzes. Die südhessische Residenzstadt war kein Zentralort wie seine Fabrik in Berlin, wo sicher die meisten Fäden zusammenliefen. Und in Darmstadt existierte nach allem, was wir heute wissen, auch keine Widerstandsgruppe, die es an Kampfkraft mit der in Frankfurt am Main aufnehmen konnte. Dennoch war die ehemalige Hauptstadt des Volksstaates Hessen ein geistiger und organisatorischer Nukleus für die Struktur der Leuschner-Konspirateure.

Die Konspirateure

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