Читать книгу Unter Masken - Ludwig Fladerer - Страница 11
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ОглавлениеDie Magd hatte sich mit dem Auftragen des Nachtmals länger als üblich Zeit gelassen. Warum machte sie so ein Getue um die fade Grütze und den zu weichen, aber versalzenen Hering? Endlich drückte sich niemand mehr in der Dienstbotenküche herum. Auch der Korridor zum Innenhof mit den fünf stattlichen Remisen für die besten Mietkutschen und Schlitten Stockholms war leer. Von dort konnte er unbemerkt durch den Hintereingang auf die Straße schlüpfen. Die quietschenden Türangeln hatte er am Vortag sorgsam mit Wagenschmiere eingefettet.
Eisiger Windhauch trieb ihm Wasser in die Augen. Er schlug den Rockkragen hoch und knotete das Halstuch fester. Hätte sich nicht der Turm der Finska Kyrkan vom Nachthimmel abgehoben, wäre er vom Weg zur Jakobikirche abgekommen. So tastet er sich behutsam von einem Lichtkegel zum nächsten, den die wenigen und traurigen Fackeln auf die gepflasterte Straße warfen. In seiner Heimat in Finnland war ihm diese Dunkelheit fremd, denn selbst in der sternenfinsteren Winternacht barg der kristallene Schnee noch die Funken der untergegangenen Sonne. Hier aber nur Matsch und Schlamm, der sich an seine Fuhrmannstiefel legte und die Schritte schwer machte. Immerhin war sonst niemand zu sehen. Er befühlte seine Brusttasche. Beruhigt ertastete er den Plan, den er nach dem Gedächtnis in unbeobachteten Stunden von der Altstadt gezeichnet hatte. Dieses Stockholm glich einem Labyrinth, es bereitete ihm Angst und Lust zugleich.
Nie wäre er hierhergekommen, wenn ihm der Feldzug etwas eingebracht hätte. Aber wenn man den Kugeln der Russen und der Ruhr entkommen war, blieb entweder nur die Entlassung ohne Sold oder die Schikanen in einer verlausten Garnison unter Offizieren, die sich über seinen Herrn, den König, die Mäuler zerrissen, bevor sie ihren Hass in Branntwein ersoffen. Doch genau dieser König hatte in seinem Kanonenboot vor Wiborg einen Ruderer, dem eine Kugel den Arm weggerissen hatte, mit seiner seidenen Schärpe verbunden. Die Herren trugen an allem Unglück Schuld, nicht der König. Was konnte es schaden, ihnen eins auszuwischen und auch noch in barer Münze bezahlt zu werden. Er griff in die andere Tasche, die Reichstaler waren kein Hirngespinst. Ein paar Aufträge noch für seine Dame, die ihr Gesicht immer hinter einem Schleier verbarg, und er konnte den kleinen Hof bei Savitaipale kaufen. Die Magd würde dann wohl mitgehen. Die Bedingung war nur, er musste das Maul halten.
Das Riddarhuset lag jetzt schon hinter seinem Rücken. Er zwang sich, aufrecht zu gehen. Um keinen Preis auffallen. Zwischen den Palästen und vornehmeren Kaffeehäusern herrschte ein eifriges Kommen und Gehen. Wer würde hier schon nach ihm schielen. Auf der Norrbrogatan machte er unter einer Laterne Halt, um ein letztes Mal seine Karte zu studieren. Die Pfeiler der noch unfertigen Steinbrücke daneben ragten wie Riesen, die nach dem fehlenden Gewölbe griffen, aus dem Strömmen. Nach der Brücke wandte er sich nach rechts und ging dann die Kungsträdgårdsgatan hinauf. Von dort konnte er durch eine unverschlossene Pforte in den Friedhof der Jakobikirche schlüpfen. Dort würde er sich auf den Spürsinn des Mittelsmannes verlassen, der ihn erkennen musste. Er faltete den Plan sorgsam zusammen und bemühte sich um einen unauffälligen Schritt. Ob ihm jemand folgte? An der Einmündung der Kungsträdgårdsgatan drehte er sich endlich um. Zwei grobschlächtige Kerle, vermutlich Knechte wie er, begannen wild gestikulierend miteinander zu streiten. Das Geläute der Jakobikirche verhallte direkt über ihm. Schlag neun Uhr, das Ziel war pünktlich erreicht. Tatsächlich hob sich eine dunkle Vertiefung von der Umfriedung des Friedhofs ab. Die Pforte war nur angelehnt, er schob seinen Fuß in den Türspalt. In dem Moment durchbrach Mondlicht die zerschlissenen Wolken. Grabsteine, aufrecht wie Gardesoldaten, hielten hier Wache. Am Ende des Weges löste sich ein Schatten unsicher aus dem Spalier der Gräber. Er wollte gerade das Erkennungszeichen aus der Hose holen, als ein Sausen in der Luft ihn herumfahren ließ. So klang es, wenn er mit seinem Vater und den Brüdern den harten Boden von Savitaipale von Wurzeln und Baumstümpfen befreite, mit mächtigen Armen die Spitzhacke schwingend. Der letzte Gedanke in seinem Leben galt seinem eigenen Hof, bevor ihm der Schädel zermalmt wurde.
Rapport des Polizeihauptmanns Lundquist an Polizeiminister Sivers
Der Postenkommandant des Kreises Norrköping meldet, dass der aufständische Bauer Ihrer Anweisung entsprechend vom Ende der Predigt bis zum Sonnenuntergang auf das Spanische Pferd verbracht wurde. Am nächsten Morgen entdeckten ihn Knechte des Grafen Horn erhängt an einer Birke, der Tod war bereits eingetreten.
Am ersten Dezember fand ein Aschenträger an der Böschung des Strandvägen den am Kopf schwer malträtierten Korporal Johann Jacobson vom Königlichen Artilleriebataillon Major Hartmannsdorf. Besagter Korporal verstarb während seines Abtransports in das Militärlazarett. Strenge Inquisition in den angrenzenden Kneipen hat ergeben, dass der Korporal mit seinem Kameraden, dem Artillerieunteroffizier Olof Rosenschütz, auf Zechtour war und zuletzt mit dem amtsbekannten Vagabunden Klaus Peterson gesehen wurde. Peterson konnte noch in derselben Nacht mit einem Betrag von neun Reichstalern im Freudenhaus des Moskowiten Nikita Sobolew aufgegriffen und verhört werden. Er will mit dem Totschlag nichts zu tun haben. Er erklärt, Rosenschütz habe ihm zehn Taler gegeben. Rosenschütz streitet das ab, er habe mit Jacobson und Peterson auf den Sieg über die Russen getrunken. Er erklärt, nichts über irgendwelche zehn Taler zu wissen. Ich erbitte um Weisung zu untertänigster Befolgung.
In einem offenen Grab am Friedhof bei der Jakobikirche wurde eine männliche Leiche gefunden. Der Stadtphysikus Elias Salomon stellte im Zuge der amtlichen Untersuchung eine schwere Kopfverletzung fest, die von einem harten und stumpfen Gegenstand herrührt. Die Personalia des Erschlagenen sind unbekannt. Die vom Stadtphysikus und einem beeideten Amtsdiener durchgeführte Leibesvisitation brachte folgende Gegenstände zu Tage: ein Kamm aus Horn, ein Sechskant Schraubenschlüssel, ein handgezeichneter Plan des Viertels um die Jakobikirche und ein in der Mitte abgebrochener Schilling.
Bericht des Polizeiministers Sivers an Graf Armfelt
Exzellenz, es freut mich, Ihnen melden zu dürfen, dass keine Indizien für bevorstehende politische Unruhen in Stockholm und den benachbarten Landkreisen vorliegen. In Norrköping hat sich der aufrührerische Rädelsführer beim Überfall auf den Schlitten des Grafen Horn selbst gerichtet. Zwei Fälle von Totschlag unter dem üblichen Gesindel stehen kurz vor der Aufklärung.
Der Erste Kammerherr Hans von Essen hat die Pagen betreffend der verbotenen dreifarbigen Kokarde belehrt und ist von ihrer Reue überzeugt. Der junge Herr Carl Klingspor hat sich allerdings krankgemeldet und wurde seit dem Vorfall in Stockholm nicht mehr angetroffen.
Hinter der Agentin mit dem Decknamen Mamsell steht die Wahrsagerin Ulrica Arfvidsson. Sie ist das Medium, das auch Mitgliedern des königlichen Hauses das Schicksal entschleiert. Sie fragen, warum wir ihr trauen sollen? Ob ich sie in der Hand habe, mit welchen Methoden? Ausnahmsweise muss ich passen. Ulrica Arfvidsson findet sich in keiner unserer Akten. Es existiert keine flüchtig hingekritzelte Notiz meiner Agenten, die in Leben emporheben oder in die Tiefe schleudern kann, kein Vermerk, der Personen, die von höherer Geburt sind als ich, zwingt, mir zu Diensten zu sein. Nein, die Arfvidsson ist frei von Schuld, vielmehr wurde ihr Leid angetan.
Ihr Stiefvater, nach dem sie sich nennt, hatte als Hofkoch die besten Referenzen und förderte die talentierte Ulrica in Musik und Sprachen. Mit ihrer Mutter lebten die drei im Schloss, waren überall gern gesehen. Das Mädchen wuchs zu einer Schönheit heran, die hohen Herren wurden auf sie aufmerksam – Galanterie wandelte sich zur Leidenschaft. Ja, man machte ihr, der Tochter des Kochs, den Hof. Der wusste, was kommen würde, und grämte sich. Dem schönen Kind verbot er das Tageslicht, zwang sie, in den Kellergewölben des Schlosses zu bleiben, während er Dienst tat. Das Mädchen fügte sich, bis es eines Tages verschwand. Mutter und Stiefvater vergingen vor Kummer. Wenn sie sich bei sämtlichen Hofstellen erkundigten, erhielten sie nie mehr als ein süffisantes Lächeln zur Antwort. Nach drei Tagen fand man Ulrica, halb entblößt, mit zerrissenem Gewand. Es war im dämmrigen Keller mit seinen hohen Gewölben geschehen, zwischen geräuchertem Fisch und eingelagerten Kartoffeln. Einer der Galane – Sie verstehen. Natürlich wurde der Schuldige nie gefunden. Dem Stiefvater empfahl man den Abschied mit einer großzügigen Pension. Der Koch nahm an und verstarb bald danach. Das Mädchen erbte alles, man munkelt von 4000 Reichstalern. Ihre Mutter verheiratete sich neu.
Als Gras über die Affäre gewachsen war, trat Ulrica als Medium in Erscheinung, sie begann, aus dem Kaffeesatz die Zukunft vorauszusagen, was ihr gute Münze einbringt. Sie lebt frei und unabhängig, sie scheint mir eine der wenigen nicht korrupten Personen in unserer Residenz zu sein. Ihre einzige Vertrauensperson ist eine schwarze Dienerin namens Adotja. Liebhaber gibt es keinen. Die Neugier führt vom Matrosen bis zum Herzog ganz Stockholm zu ihr. Wenn auch Ulrica, die man nur mehr Mamsell nennt, das Schicksal verkündet, lebt sie doch nur für den einen Gedanken, unter ihren Besuchern einst jenen Mann zu entlarven, der ihr die Unschuld genommen hat. Wüssten Sie irgendjemand, der uns bessere Dienste leistet?
Graf Armfelt an Polizeiminister Sivers
Mein lieber Sivers, verschonen Sie mich mit Details aus der Welt Ihrer Totschläger. Angesichts der patriotischen Begeisterung, die ich im Beisein unseres Landesherrn erleben durfte, sind das doch alles Kinkerlitzchen. Sagen Sie mir lieber, wo man angesichts der Hafenblockade für französische Schiffe noch einen vernünftigen Champagner kriegen kann.
Die Arfvidsson, sieh an! Ihr Schicksal bedaure ich zutiefst. Das alles hat sich freilich vor meiner Zeit am Hof zugetragen. Weben Sie nur an Ihrem Spinnennetz und hoffen wir, dass es nicht zerreißt.
Polizeiminister Sivers an Mamsell
Hochverehrte Madame, ich darf Ihnen mit diesem Billett das von Exzellenz Armfelt bewilligte Honorar von 200 Reichstalern in barer Münze übermitteln. Um uns die Gunst des Grafen weiterhin zu sichern, bitte ich Sie um rascheste Hilfe: Wir hatten in der letzten Nacht zwei Mordfälle, die mir nicht zu den üblichen Messerstechereien unter Saufkumpanen zu passen scheinen. Anbei sende ich Ihnen eine Abschrift des Rapports von Polizeihauptmann Lundquist. Besonders der Erschlagene am Friedhof bereitet mir Sorgen. Sie wissen so gut wie ich, dass sich dort oft Herrschaften der feinen Gesellschaft einfinden, um im gotischen Ambiente der Grabmäler aus dem Ossian zu zitieren. Noch ist die Exzellenz voller Optimismus. Ich kann ihn hinhalten. Der Eilbote ist verlässlich, bitte geben Sie ihm Ihre Antwort brieflich mit. Kodierung ist nicht erforderlich, die Zeit drängt. Ich vertraue Ihnen.
Mamsell per Eilboten an Polizeiminister Sivers
Herr Minister, ich fasse mich kurz. Die Situation ist äußerst besorgniserregend. Beim Erschlagenen am Friedhof handelt es sich um einen meiner Agenten, den ich als Knecht beim Wagnermeister Engzell am Stortorget untergebracht habe. Weil er seine Fuhrwerke vor allem an die hochgestellten Herren vermietet, konnte ich so deren Bewegungen und Zusammenkünfte verfolgen. Am Tage seiner Ermordung sollte sich der Agent mit meiner Zofe treffen, ich selbst war zu einer Soiree des Herzogs Carl gebeten. Da sich die beiden nicht kannten, war als Erkennungszeichen ein halbierter Schilling vereinbart worden. Schlag neun Uhr abends sollte er meiner Bediensteten die Informationen übergeben. Der Agent erschien auch – um dann vor den Augen meiner Zofe erschlagen zu werden. Erwarten wir von ihr keine verlässlichen Informationen! Halb verrückt vor Angst lief sie durch die Stadt. Erst gegen Mitternacht ist sie heimgekommen.
Uns bleibt nur eine undeutliche Spur – der Unteroffizier. Auch wenn ich seinen erschlagenen Kameraden nicht auf meiner Liste der Verdächtigen führe, machen mich die zehn Reichstaler doch stutzig. Wie kommt ein Soldat zu einem Monatssold? Vielleicht gelingt es uns, die getrennten Fäden zu einem Bild zu verknüpfen.
Ich schlage Ihnen somit vor: In einer Woche veranstalte ich die nächste Soiree. Verschaffen Sie dem Unteroffizier eine Einladung – er wird sie nicht abschlagen. Alle Welt möchte ja mit den Mächten der Unterwelt einen Blick in die Zukunft werfen. Außerdem werden höchste Persönlichkeiten anwesend sein – das sollten Sie ruhig durchblicken lassen. Nehmen Sie die Sache ernst, mich plagen böse Visionen!
Weisung des Polizeiministers Sivers an Polizeihauptmann Lundquist
Sie haben bis auf Widerruf strengstes Stillschweigen über die Mordfälle zu wahren. Der Artillerieunteroffizier ist als Angehöriger der siegreichen königlichen Armee unverzüglich aus der Haft zu entlassen. Der Landstreicher Peterson kommt als einzig Verdächtiger in strenge Einzelhaft. Weitere Verhöre dieser Person erfolgen erst auf meine persönliche Anordnung hin. Dem Post-Tidningar soll eine Notiz über die Verhaftung Petersons übermittelt werden. Es wäre schön, könnte die Nachricht schon in der morgigen Ausgabe erscheinen.
Aus verlässlicher Quelle habe ich Nachrichten, dass sich in einer Schauspielertruppe auf dem Weg nach Göteborg verdächtige Elemente mit jakobinischer Gesinnung befinden. Ich erwarte Nachrichten über die Reisestationen der Kompagnie. Sie werden die Polizeidiener anweisen, die Ausreise zu beschleunigen und nur im äußersten Notfall Verhaftungen vorzunehmen. Chef der Kompagnie ist Monvel, der Lieblingsschauspieler Seiner Majestät, an dessen Loyalität kein Zweifel besteht. Bringen Sie etwas über eine Tanzveranstaltung im Solnaer Holz in Erfahrung, bei der es einen Affront gegen Damen und Herren der Gesellschaft gegeben haben soll.