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ОглавлениеIn der großen Stadt mit den großen Menschen durfte man sich keine Fehler gestatten. Aber der Geist des Büffels sprach immer noch, die Geister der Ahnen wiesen den Weg. Wie hätten sie und Mojo hier sonst überleben können? Ihre Füße mussten sie in Leder stecken, die Erde war nicht mehr zu spüren. Trotzdem war ihr beständig kalt. In den Nächten entzündeten die Menschen Feuer an den Hauswänden, doch nichts verbrannte, und die Wegweiser am Himmel zogen sich zurück. Menschen lebten in Kammern, was sie fahl und bleich machte wie das Gras in der Trockenzeit. Manche von ihnen kniffen ihr in die Wange: »Die Farbe geht doch nicht ab, du bist echt«, sagten sie dann und drückten ihr eine kleine Metallscheibe in die Hand. Zuerst hatte sie die Scheiben weggeworfen, doch Mamsell belehrte sie, dass man damit tauschen konnte. Mamsell war gut, der Geist der Mutter musste sie geschickt haben. Sie glaubte an den Geist und die Gesichter, die er ihr schickte. Die großen weißen Menschen besuchten oft hohe Häuser mit spitzen Dächern und Türmen, in denen sie zu ihrem großen Geist sangen, aber sie erwarteten keine Gesichter von ihm.
Heute durfte sie Mojo treffen, er diente dem Herrn der Fremden in dem gemauerten Würfel oberhalb der Stadt. Mamsell hatte sie gebeten, den Auftrag diesmal nicht abzulehnen. Doch warum auch? Der Geist des Büffels war ja in letzter Zeit still geblieben und hatte ihr keine Dolche gezeigt, wie an dem Abend, als die Zofe der Mamsell schluchzend vom Ort der Toten zurückgekehrt war.
Sie vermied heute trotz allem Straßen ohne Lichter. Mamsell fürchtete, dort würden Männer ihr Böses tun. Auch Gassenjungen verbargen sich in den finsteren Winkeln der engen Straßen. Hierher, wo die Menschen bunte, prächtige Stoffe trugen, wagten sie sich nicht vor. Um mit Mojo sprechen zu können, musste sie ihre Schritte beschleunigen. Er brauchte das, denn er diente dem mächtigen Herrn der Fremden. In dem großen Würfel sprach niemand mit ihm, sie redeten nur neben ihm. Was sie nicht wussten – er verstand alles, worüber sie sprachen. Denn Mamsell unterwies ihn in der Sprache dieser Menschen, wenn er heimlich aus dem großen Haus schlüpfte.
Mojo würde nach dem siebenten Schlag der Glocke aus einem Seiteneingang des Schlosses kommen und den breiten Slottsbacken rasch überqueren. Niemand würde Verdacht schöpfen, weil sein Herr oft sehr spät dinierte und man den Dienern vorher eine Rast gönnte. Das Treffen sollte in der Österlånggatan stattfinden, wo er leicht in einer der zahllosen Nebenstraßen untertauchen konnte. Adotja barg ihr Gesicht unter einer mit Fell gesäumten Kapuze vor der Kälte und den Gaffern. Bis jetzt war der Weg von ihrem Haus in der Johannesgatan in den Stadtteil zwischen den Brücken ohne Zwischenfall verlaufen. Das graue Schloss am grauen Meer wachte über die sich unter dünnen Rauchfäden duckende Stadt. Sie umrundete die Masse der wuchtigen Mauern und bog hinter der Storkyrkan in den Slottsbacken ein. Der letzte Schlag der Glocken war schon verklungen. Im dunstigen Licht der Laternen versuchte sie die zahlreichen Eingänge im Auge zu behalten. Aus einem musste gleich Mojo treten.
Die Göre verhielt sich zielstrebiger, als er annahm. Schon seit einiger Zeit schwärte in ihm der Verdacht, die stadtbekannte Prophetin, die über allem Verdacht erhabene Mamsell, stehe in Sivers Diensten. Was schadete es also, den Spitzel zu bespitzeln, ihn in seinem Revier zu stellen. Nach dem Erfolg am Friedhof – nun, man konnte über die Methoden streiten, bessere Leute als die beiden Schläger waren eben nicht zu kriegen – hatte er es den eitlen Gecken gezeigt. Den Revolutionären der Salons und der feinen Bälle. Dass die Göre am Humlegården den Lockungen der Marionettenbuden, der kandierten Früchte und der aus heißem Fett herausgebratenen Teigtaschen widerstanden und den direkten Weg über die Norrmalmbrücke zum Schloss genommen hatte, war ein klares Indiz: Sie hatte einen Auftrag. Jetzt stand sie gut sichtbar am Slottsbacken, wie auf einem Tablett – zum Schuss freigegeben.
Die fernen Portale und Fenster des grauen Würfels versanken im Nebel, grau wie das Element, aus dem er hervorkroch. Wo war Mojo? Vielleicht hatte er sie unter ihrer Kapuze nicht erkannt? Sie steckte ihre kleinen Fäuste tiefer in die Taschen. Sie fror erbärmlich. Als sie ihren Arm wieder herauszog, um die Kapuze ganz zurückzuschieben, fühlte sie eine warme Umklammerung um ihren Arm, fühlte sie die Hand. Es war Mojo, es ist Mojo. Er grinst unverschämt, einer, der seiner älteren Schwester Schrecken einjagt, weil er es darf, weil er im blauen Gewand des mächtigen Herrn steckt und goldenen Schmuck trägt, weil er nun sie behüten kann. Sofort fallen sie in die Sprache ihres Dorfes. Es ist ein gegenseitiges Beschnüffeln. Hin und zurück laufen die vertrauten Worte, so wie der Hund den Herrn freudig erkennt, von ihm wegspringt, um ihn dann umso freudiger zu begrüßen. Auf diese Weise wurde nichts gesagt und dann doch wieder alles. Am Ende schob Mojo ihr ein zweimal gefaltetes Blatt zu. »Der Auftrag«, flüsterte er und lachte wieder unverschämt.
Adotja wollte ihm schon einen Klaps verabreichen, aber etwas passte nicht, gehörte nicht zum Bild mit Schloss, Nebel, grauem Vorplatz und Bruder. Ein brauner Mantel, nichts Ungewöhnliches, ein Hut, tief heruntergezogen, warum hätte sie auch aufschrecken sollen. Aber der schwere Mantelzipfel fliegt nur dann auf, wenn wer einen hastigen Schritt tut, einen Schritt, um zuzupacken. Der Saum des Mantels ist scharlachrot, die Farbe passt entschieden nicht hierher.
Er stand näher bei ihnen, als er es erhoffen konnte. Vielleicht hätte er sogar einige Wortfetzen verstanden – aber das verfluchte Kauderwelsch der Wilden. Auch die zweite Gestalt hatte ein Gesicht wie Ebenholz. Das Treffen der beiden war kein Zufall. Ob das alles von Sivers ausging? Wer zog hier welche Fäden? Jetzt noch ein entschiedener Zugriff, und er konnte den Brief in seine Gewalt bringen. Wer würde ihn jetzt noch scheel ansehen, ihn, den Geizhals, den Landmenschen? Aber irgendetwas musste schiefgegangen sein. Als er den letzten Schritt tat, fuhren die beiden herum und starrten ihm direkt ins Gesicht. Die weißen Augäpfel traten ihnen vor Angst fast aus dem Schädel. Das Mädchen handelt völlig unverständlich. Langsam und gut sichtbar hebt sie das Blatt Papier, es nur mit zwei Fingern haltend, hoch über ihren Kopf und steckt es dann ebenso ruhig in eine Manteltasche. Dann duckt sie sich wie eine Katze und stürzt davon. Also auf ihren Begleiter? Der nutzt den kurzen Augenblick seiner Verwirrung und ist in der Schwärze der Nacht verschwunden. Ganz hinten, wo sich der Prospekt des Schlosses zum Meer senkt, bemerkt er einen gelblichen Lichtschein, der gleich wieder erlischt. Der Junge war gerettet. Die kleine Wilde aber war am königlichen Münzkabinett vorbei in die Bollhusgränd eingebogen – wie klug, dass er ihr den Weg in die Österlanggatan mit ihren Quergassen versperrt hatte.
Jetzt beginnt er zu laufen, die eisige Luft in seinen Lungen erquickt ihn, macht ihn lebendig und stark. Er lächelt. Bei diesem Angriff war kein feindliches Feuer zu fürchten wie vor Frederikshamn gegen die russischen Kanonen, keine Querschläger und Schrapnells, auch Pferde nicht, die mit aufgeschlitzten Bäuchen ihre Reiter abgeworfen haben und die eigenen Reihen zermalmen. Nein, er muss nur laufen, sicher, ruhig und gleichmäßig.
Mojo war gerettet, am Leben. Das Papier hat sie, der andere weiß das, ihr, nur ihr muss er folgen. Nicht umdrehen, sieh dem Leoparden nicht in die Augen, der dich jagt. Auf den ersten hundert Metern findet sie kein Schlupfloch, alle Tore sind verschlossen. Dann endlich die erste Quergasse nach rechts, die Schritte hinter ihr entfernen sich, werden leiser, dann eine Abzweigung nach links. Das Gassengewirr öffnet sich zu einem dreieckigen Platz. In dessen Mitte reckt ein Kastanienbaum seine Äste in den Himmel. Auf seiner hinteren Seite scheint ein verfallenes Bürgerhaus den Platz zu versperren. Seine Fassade zeigt die Spuren eines Brandes. Doch links und rechts von der Ruine tun sich zwei Gassen auf. Die Schritte sind wieder zu hören. Nicht denken, Adotja! Jage davon wie die Antilope.
Er war schon lange nicht mehr am Brända Tomten gewesen. So überraschte ihn der nach Auswurf und billigem Fusel riechende Platz. Die Rinde des Baumes war schwarz wie das verkohlte Haus hinter ihm. Die zwei schmalen Wege konnte er in ihrer ärmlichen Finsternis nicht einsehen. Nur schwarze Löcher, mehr nicht. Er entschied sich für den rechten Weg und wusste da schon, dass er einen Fehler begangen hatte. An dem Abend lächelte er nicht mehr.
Halb erfroren kletterte Adotja vom Fuhrwerk des Lumpensammlers, den sie im Viertel nur den Finnen nannten, der jeden Morgen das Gerümpel vom Brända Tomten gegen Almosen der besseren Quartiere einzutauschen hoffte. Mamsell hat auf sie gewartet mit süßem Kaffee und einem weichen Morgenmantel. Sie legt den Zettel Mamsell zu Füßen und trinkt gierig den ersten Schluck. Dann fängt sie den dankbaren Blick ihrer Herrin auf.
Mamsell an Sivers
Wir haben Namen, aber der Feind kennt uns, hat seine Augen und Ohren überall, das weiß ich schon seit dem Unglück am Jakobsfriedhof. Mit knapper Not entging meine Agentin ihrem Verfolger, erst am Brända Tomten wurde sie ihn los. Auf der Liste finden Sie die schon bekannten Personen, aber es sind auch einige Männer dazugekommen, die sich durch Wort und Verhalten zu Verdächtigen machten. Ich denke, Sie werden doch überrascht sein: Engeström, Ehrensvärd, Baron de Geer und ein Mitglied der königlichen Familie, das ich Ihnen nur unter vier Augen nenne, sind auch darunter. Jedermann kennt meine Quelle, sie ist gerade deswegen so gut wie unsichtbar. Vertrauen Sie mir! Ich werde Ergebnisse liefern – Sie wissen nun, wen ich bei der großen Soiree vorzufinden wünsche.
Sivers an Mamsell
Ich bestätige den Erhalt des Billetts. Ihre Agenten scheinen Verfolgungen geradezu anzuziehen, haben Sie darüber schon einmal nachgedacht? Bereiten Sie Ihr Appartement für den zahlreichen Besuch hochwohlgeborener Herrschaften vor. Wenn Sie es wünschen, kann ich mit Dienerschaft aushelfen. Was das Mitglied der königlichen Familie betrifft, so kann ich nur für Sie hoffen, dass Sie auch über Beweise und gute Freunde am Hof verfügen. Mehr möchte ich nicht wissen – auch nicht mündlich!