Читать книгу Unter Masken - Ludwig Fladerer - Страница 8

2

Оглавление

Carl Pontus Lilljehorn, Oberstleutnant der königlichen Leibgarde, war ein empfindsamer Mensch. Wie er die Monotonie des Militärdienstes verabscheute, so liebte er die Dichtung. Denn die große, erhabene Heimat fand er in den Versen Shakespeares, Ossians und Goethes. Nicht weniger liebte er seinen König Gustav III., der doch selbst Dichter war, und dessen Größe er nicht nach den Siegen auf dem Schlachtfeld, sondern nach dem Esprit seiner Dramen und Opern bemaß. Vielleicht schätzte der König ihn als seinesgleichen, denn eine geheime, segensreiche Macht hatte ihn, den unbedeutenden Freiherrn, über alle Intrigen hinweg immer wieder befördert. Konnte es Zufall sein, dass er im Russischen Krieg nie einen Angriff führen, nie meuternde Truppen zur nächsten Attacke zwingen musste? Während andere, ehrgeizigere Kameraden an dieser Tatenlosigkeit zerbrochen wären, sehnte sich Lilljehorn nach dem nächsten Sonett. Freilich – hinter seinem Rücken zerrissen sie sich die Mäuler: Lilljehorn sei Protegé des Königs, weil die ­Königinwitwe Lilljehorns Mutter zur Amme Gustavs bestimmt habe – Milchbruder Lilljehorn! Was wussten sie schon von der Macht der Poesie, davon, dass der König ihn sicherlich für höhere Aufgaben vorhergesehen hatte im unsterblichen Reich des Lichts und der Gedanken.

So dachte Lilljehorn, der im Grunde seines Herzens nicht nur ein empfindsamer, sondern auch ein einfacher Mann war. An diesem späten Novembermorgen des Jahres 1791 spähte er durch das Fenster in den Innenhof, ob Fritz sich nicht schon mit seinem Frühstück zeigte. Der Tag zog nebelig durch die Arkaden und Winkel des Schlosses. Ein paar Happen Zwieback und heißer Kaffee konnten da vor dem lästigen Besuch des Grafen Ribbing nicht schaden. Die Übersetzung von Goethes Werther ins Schwedische war ihm bis auf ein paar Tintenklecksern heute noch nicht gediehen, also wozu Konvention und liebenswürdige Artigkeiten.

Endlich stapfte Fritz die Treppe herauf, doch Lilljehorn unterschied auch andere Schritte, und ihm war klar, dass Frühstück und Werther für heute verloren waren. Rasch postierte er sich hinter seinem Schreibpult und kritzelte immer noch Wort und Wörter, als der Offizier schon längst salutiert hatte. Er meldete ihm die Ankunft von Graf Adolf Ludwig Ribbing und Gräfin Carlotta de Geer. Man lässt bitten, aber Ribbing steht schon da. Er füllt den Raum der Kommandantur. Der feine Zobel seines Mantels reflektiert die Schneekristalle, die gleich als Wassertropfen zu Füßen des Grafen eine Pfütze bilden würden. Lilljehorn, von dem ironischen Lächeln des Grafen und der anschwellenden Wasserlache gleichermaßen verunsichert, bleibt hinter seinem Pult.

»Verehrter Lilljehorn, es ist mir eine vorzügliche Ehre, Ihnen die Gräfin De Geer vorstellen zu dürfen. Ich habe ihr schon oft vom dichtenden Offizier erzählt, unserem Homme de lettres unter den Augen und Ohren des Königs.«

Lilljehorn brachte trotz der Enge der Stube einen passablen Kratzfuß zustande, obwohl – worauf spielte Ribbing an?

»Mein lieber Oberstleutnant«, die Gräfin legte ihre Hand auf seinen Unterarm, »schon seit Tagen freue ich mich auf das Vergnügen, mit Ihnen die Schönheit unserer Heimat zu empfinden. Mein Gefährte hat von einer Tour gesprochen. Aber Sie sind noch in Uniform?«

Es war das erste Mal, dass Carlotta ihn sah und gleich »lieber Oberstleutnant« nannte. Es stimmte. Ribbing hatte ihn am Montag, als sich abzeichnete, dass die harte Schneedecke eine Schlittenfahrt erlauben würde, zu einer Tour in das Solnaer Holz eingeladen. Eine Begleitung der Gräfin war aufgrund ihrer Verpflichtungen am Hof aber nie erwähnt worden.

Zu Ribbing gewandt: »Aber Graf, bedrängen Sie den Oberstleutnant nicht mit Ihren Komplimenten. Die Herzen der Dichter lieben den Schleier des Verborgenen. Und überhaupt – dichtender Offizier, ist das nicht etwas degoutant, da wir unter einem dichtenden König leben?«

»Meine Freundin, Sie sind wie immer im Recht« – er deutet einen Handkuss in Richtung Carlotta an. »Streiten wir uns nicht, sonst verkommt uns Lilljehorn noch hier in seiner Stube. Also, mein Freund, hinaus in die Freiheit!«

Lilljehorn schloss das Tintenfass und sperrte das Manuskript in den Sekretär. Fritz half seinem Herrn in die Stiefel, richtete Pistolen und Mantel. Als die Herrschaften aufgebrochen waren, suchte er einen Lappen, um den verschütteten Kaffee aufzuwischen.

Der Schlitten des Grafen wartete unmittelbar vor dem Eingang zur königlichen Wache. Sein schneebedecktes Verdeck hob sich im fahlen Vormittagslicht kaum vom Innenhof des Schlosses ab. Nach einem farbentrunkenen Herbst war in diesem November des Jahres 1791 der Winter rasch und hart gekommen. Ribbing hatte sich für den Freitag im Mietsstall des Olof Engzell einen Zweispänner reserviert und am Vortag seinen Knecht Norberg mit zwei Pferden von seinem Gut nach Stockholm vorausgeschickt. So war alles vereinbart worden, doch warum hatte er die Gräfin mitgebracht? Ihr »lieber Lilljehorn« begleitete den Oberstleutnant an den Wachposten vorbei, dämpfte den Peitschenknall Norbergs. Auf weißer Watte glitt der Schlitten vom Slottsbaken über den Vedgardsbron hinunter nach Norrmalm. Carlotta saß Lilljehorn gegenüber. Ihre Blicke ruhten auf dem Oberstleutnant, zwei grüne Augen, zwei Degenstiche.

Lilljehorn schenkte den winterlichen Gassen der Königsstadt keine Aufmerksamkeit. Was hätte er in Norrmalm schon gesehen? Die Steinblöcke vor dem neuen Opernhaus warteten auf ihre Verwendung für ein weiteres Theater, ein Handelskontor oder für das neue Schloss des Königs in Haga, das die Pracht seiner dorischen Fassade auf den Brunnsviken werfen und ihn endgültig zu einem Heiligtum der Schönheit adeln würde. Dann Schankjungen, kaum älter als zwölf, die wie jeden Morgen vor ihren Kneipen den Schnee fegten, umgeben von einem Gestank aus Aquavit und Erbrochenem. Eine farblose Herde von Dienstboten mit ihren Wäschebutten und Holzkörben, Bettler, die sich um offene Feuerstellen drängten und sich mit Tritten gegen Straßenköter zur Wehr setzten. Herren von Stand in Pelz und Seide auf dem Weg zur morgendlichen Aufwartung in den hohen Häusern. In den besseren Schenken servierten die Mägde Kaufleuten aus Stockholm, Danzig und England Kalte Platten mit Austern.

Am Ende von Norrmalm führte die Straße nach dem Stalmastergarden in einer weit gezogenen Linkskurve ins Weide- und Bauernland. Der Kutscher hatte Mühe, die Pferde in der Mitte des Weges zu halten, um dem Straßengraben auszuweichen. Sie fuhren langsamer. Bauernhäuser mit rot gestrichenen Holzbrettern unterbrachen das weiße Einerlei, mit ihren klapprigen Zäunen bildeten sie lächerliche Verwerfungen in der weißen Weite.

Ribbing holte aus dem Korb zu seinen Füßen eine Flasche Champagner hervor. »In Frankreich, sagt man, köpft man sie mit dem Säbel, aber hier ist es für einen Hieb wohl zu eng. Wie überhaupt in Schweden.« Den Knall des Korken milderte er mit seinem Bisammuff. »Courage, mein schweigsamer Colonel! Dieser Tropfen wird Sie inspirieren.«

»Sie erwähnen Frankreich. Alle Welt blickt derzeit dorthin, aber wenn ich durch unser armes Schweden fahre, will mir die parfümierte Aufgeregtheit dieses Volkes doch exotisch erscheinen. Man kommt ins Grübeln. Sehen Sie da draußen die einfachen Häuser armer Leute. Meinen Sie, Rousseau, Voltaire, Raynal, und wie sie alle heißen, haben jemals für ein Volk empfunden? Ja, sie denken über Völker nach, aber im Grunde ist ihnen doch ein geschliffenes Bonmot mehr wert als ein ganzes Dorf. Als Günstlinge des Adels spucken sie in die Hand, die sie füttert. Auch unser König hat das erkannt. Das Neue muss aus dem Volk kommen, aus seinen tiefen Empfindungen. Daher seine schwedischen Theater, seine Akademie.«

»Aber Lilljehorn, Sie reden sich in Rage. In Frankreich geht es den alten Zöpfen nun an den Kragen, man atmet freiere Luft. Und bei uns, was ist denn besser geworden? Am letzten Reichstag hat unser erlauchter Landesherr den Adel entmachtet. Will er denn mit Bauern regieren? Wer sind denn Ihre schwedischen Bauern? Blicken sie geistig über ­Uppland hinaus?«

»Mon cher Louis«, ließ sich Carlotta vernehmen, »Sie reden ja wie einer dieser Poeten aus Deutschland. Aber im Ernst, was kann man denn tun, als Haltung zeigen, wenn sich der Pöbel rührt. Sollten sie mir den Kopf abschlagen, so hoffe ich doch, dass ich ein harmonisches Ensemble für mein Büßerkleid gewählt habe. Apropos Farbe, mein lieber Lilljehorn, Ihr blauer Frack mit gelber Weste nach der Fasson des armen Werther – Sie erlauben meine offenen Worte –, doch sehr direkt, nicht wahr?«

Lilljehorn hätte sich den Kopf vor Wut einstoßen mögen. Erst jetzt fiel ihm das changierende Resedagrün des Kleides der Gräfin auf, vor dem sich ihr weiß gepudertes Dekolleté makellos abhob.

»Lassen Sie uns von angenehmeren Dingen sprechen, meine Herren. Graf Armfelt soll ja Herzog Carl nun endgültig in der Gunst bei Madame Rudenschöld übertroffen haben. Der Herzog trägt’s mit Fassung, seine Gattin weniger, da er seine Aufmerksamkeit nun ganz ihr zuwendet, was sie doch einigermaßen langweilt. Vergleicht man Carl mit seinem Bruder Frederik, dann ist dieser doch ein armer Tropf: Er gab den zerknirschten Jüngling, als ihn die Fersen sitzen ließ, wirklich sitzen ließ. Stellen Sie sich die Komödie vor: Frederik geht zum älteren Bruder, unserem Gustav, bittet ihn, sechsspännig bei den Fersens vorzufahren und den Brautwerber zu spielen. Der König tut ihm den Gefallen, kommt zu den Fersens. Dort ist man loyal, der alte Fersen bittet die Majestät mit Brüderchen devot zum Tee. Frederik und die Fersen verschwinden in ihrem Boudoir, der Prinz kommt errötet zurück, die Fersen will nicht ins Königshaus heiraten. Der alte Fersen fragt, ob man Majestät noch Zucker reichen dürfte, die Jugend sei eben eigensinnig, da ließe sich nichts machen. Die Fersen bleibt in ihren Gemächern, König und Brüderchen fahren zurück ins Königsschloss, Vorhang fällt. Darüber sollten Sie schreiben, Lilljehorn!«

Lilljehorn versuchte eine Entgegnung, hatte sich die Worte auch schon zurechtgelegt, als der Schlitten sich stark nach rechts neigte und völlig zum Stehen kam.

»Norberg, du versoffener Tölpel!«, brüllte Ribbing, »kannst du nicht auf dem Weg bleiben?«

»Verzeihen Sie, Herr, der Schlitten ist mir auf einer Schneewechte weggerutscht.«

Ribbing und Lilljehorn kletterten aus dem Fuhrwerk. Sie befanden sich jetzt mitten im Solnaer Wald, aus dem sich der Morgennebel noch nicht gehoben hatte. Mitten auf dem Weg türmte sich ein Hügel aus Eis und Schnee auf – braun gesprenkelt und härter als der umliegende Neuschnee. Der Oberstleutnant kniete nieder, um sich ein Bild zu machen, wie man den Schlitten wieder in die Spur heben könnte. »Wir waren nicht die Ersten. Sehen Sie die Mulden im weichen Schnee, die Vertiefungen, die Fußspuren? Wir tun gut daran, rasch wegzukommen. Der Schneehügel wurde absichtlich zusammengetragen. Man will unvorsichtigen Fuhrwerken auflauern.«

»Ich führe immer zwei Pistolen mit mir«, entgegnete Ribbing, »und werde den Banditen mit meinem Blei die Haut gerben.«

»Ich möchte Sie schon im Interesse der Gräfin bitten, zuerst den Schlitten flottzubekommen.«

Auf einen Wink Ribbings versuchte der Kutscher mit einem Fichtenast als Hebel den Schlitten so weit zu heben, dass die Pferde ihn ein Stück zur Wegmitte ziehen konnten. Doch beim ersten Versuch brach der Ast an der Stelle entzwei, wo Norberg ihn am Schlitten angesetzt hatte. Als Ribbing dem Kutscher eine Ohrfeige geben wollte, ertönte der erste Pfiff. Ein kurzes, sich einmal senkendes, dann wieder steigendes Signal. Was der Kutscher nun tat, hätte niemand erwartet, am allerwenigsten die Gräfin, deren Kopfschmuck am Fenster sichtbar wurde. Bedächtig lehnte Norberg sich mit dem Rücken gegen den Schlitten, vergrub beide Hände im Schnee, fasste die eingesunkene Kufe und hob das Fahrzeug langsam in die Waagrechte. Für einen Augenblick verschwand die Perücke der Gräfin vom Fenster. Zweiter Pfiff. Lilljehorn ließ geistesgegenwärtig die Peitsche über den Pferden knallen. Sie fassten Fuß und zogen den Schlitten ruckartig in die Spur. Die Tiere dampfen, der Kutscher sitzt schon auf dem Bock. Ribbing und sein Gast schwingen sich auf das Trittbrett des jäh anfahrenden Schlittens. Da lösen sich aus dem nebeligen Umkreis der Baumriesen konturlose Gestalten. Sie johlen, pfeifen. Es fliegen Äste und Knüppel, die aber die Kutsche verfehlen. Ribbing feuert seine Pistolen ab. Die Pfiffe werden leiser.

Was Lilljehorn in Erinnerung blieb, waren weniger die unflätigen Beschimpfungen als der ohnmächtige Hass, der dem Schlitten und seinen Insassen noch anhaftete, als die Reisenden ihr Ziel, die Schenke »Zum Bacchusjünger«, schon sicher erreicht hatten.

Bericht des Polizeimeisters Sivers an Graf Armfelt

Exzellenz, meine Informanten berichten von Unruhen in der Provinz Östergötland. Bauern haben auf dem Fahrweg des Grafen Horn Seile gespannt, um seinen Schlitten aufzuhalten. Der Graf konnte sich mit gezogenem Säbel gerade noch freie Bahn verschaffen. Die Informanten erklären, der Graf habe die Arbeitszeit in seinen Berggruben auf zwölf Stunden erhöht und bezahle mit Papiergeld.

Die Agenten am Hof haben in Erfahrung gebracht, dass einige Pagen unter ihrer Tracht Seidentücher in den Farben der französischen Sansculotten trugen. Herr von Essen hat sie zurechtgewiesen.

In Göteborg versuchte ein französisches Handelsschiff unter der Flagge der Trikolore die Ladung zu löschen. Entsprechend dem königlichen Erlass blockierte der Hafenkommandant die Einfahrt, woraufhin er von Leutnant Falckenberg vor versammelter Mannschaft zur Rede gestellt wurde.

Die Agentin Mamsell leistet hervorragende Dienste. Ich schlage untertänigst die Erhöhung ihres Honorars auf 200 Reichstaler vor.

Armfelt an Sivers

Der Rädelsführer der Bauern kommt am Sonntag nach dem Kirchgang auf den Spanischen Bock. Die örtlichen Beamten haben wegzuschauen, wenn die Bergarbeiter ihren Aquavit brennen. Papiergeld ist legales Zahlungsmittel. Ich will die Namen der Pagen haben, und zwar bis morgen. Herr von Essen ist zu nachsichtig! Der Leutnant wird nach Gotland versetzt, dort kann er mit Anckarström Füchse zählen. Die Erhöhung des Honorars für Mamsell ist genehmigt, auch die Auszahlung in barer Münze. Aber spannen Sie mich nicht auf die Folter, wer zum Kuckuck steckt hinter Ihrer Mamsell?

Unter Masken

Подняться наверх